Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi

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DAS WIEDERSEHEN


SIE FLOGEN GERADEWEGS auf eine Kette aktiver Vulkane zu und auch wenn die Vorstellung seltsam erscheinen mochte, sie fühlten sich besser und besser, je näher sie dem Gebiet kamen. Endlich näherten sie sich der Feuernation.

Jinpa wich wohlweislich den Schwaden giftigen Rauchs aus, die aus den Kratern hervorquollen, lenkte Yingyong stattdessen in Schlangenlinie über die Thermalquellen dazwischen, sodass sie auf Stößen heißer Luft dahinhüpften. Das fast schon spielerische Auf und Ab genügte, um Kyoshi für kurze Zeit ein selbstvergessenes Lächeln auf die Lippen zu zaubern.

Auf den kleineren Inseln sahen sie Ansammlungen von Häusern, gewöhnlich an den Küsten, doch manchmal auch höher oben in den Bergen, wo es an den Hängen Almen gab und im Schatten Tee angebaut wurde. Gemeinsam erinnerten die Landmassen an den schlanken Schwanz einer Echse, der Richtung Körper an Umfang zunahm und schließlich in die Insel mit der Hauptstadt mündete, wo sich auch der Hafen des Ersten Feuerlords befand.

Sie stießen hinab und konnten einen Blick auf die Stadt werfen, die um den größten Hafen der Feuernation gewachsen war. Dort wurden bereits die Vorbereitungen für die kommende Feier getroffen: Rote Papierlaternen hingen an Schnüren kreuz und quer über den Straßen, an manchen Stellen so dicht, dass die Karren und Gehsteige darunter nicht mehr zu sehen waren. Von überallher drang das laute Hämmern der Verkäufer an ihr Ohr, die ihre hölzernen Stände aufbauten. In einer Nebenstraße erspähte Kyoshi einen halb fertiggestellten Festzugswagen, auf dessen Plattform eine Gruppe von Tänzern in perfektem Einklang ihre Choreografie übte.

»Da scheint ja schwer was los zu sein«, sagte Kyoshi. Insgeheim wünschte sie sich, dort unten mit den anderen gewöhnlichen Leuten feiern zu können, statt an einem Staatsempfang teilnehmen zu müssen. Dort würde man deutlich weniger von ihr erwarten.

»Ihr wisst ja, wie die Leute der Feuernation sind«, sagte Jinpa und winkte einer Gruppe Kinder auf einem Dach zu, die voller Begeisterung und mit großen Augen zu dem fliegenden Bison über ihren Köpfen aufschauten. »Immer zugeknöpft, bis sie plötzlich richtig loslegen.«

Sie ließen die Hafenstadt hinter sich zurück und flogen die Schräge des Kraters hinauf, der die große Insel dominierte. Bäume und Ranken klammerten sich hartnäckig an die steile, steinige Oberfläche und die feuchte Luft machte ihnen das Atmen schwer.

»Sollen wir hier landen und uns ankündigen?«, fragte Jinpa. Er zeigte auf die steinernen Wachtürme und Bunker, die in den Rand des toten Vulkans hineingebaut waren.

Kyoshi schüttelte den Kopf. Ungeduld stieg in ihr auf und drohte überzuschwappen wie Flutwasser über einen Deich. »Im Brief stand, wir sollen direkt zum Palast kommen.«

Tatsächlich zeigten die Wachen keinerlei Reaktion, als sie über sie hinwegflogen. Sie standen einfach nur in ihren spitzenbewehrten Rüstungen da und beobachteten mit starren Gesichtern, wie sie vorübersausten. Als Yingyong den Kraterrand überwand, tauchte vor ihnen, grandios wie ein Feuerwerk, die Hauptstadt auf.

Die königliche Kraterstadt. Hier lebten der Feuerlord und der Hochadel dieses Landes. Anders als Ba Sing Se, das Macht mit Ausdehnung gleichsetzte, bündelte diese Stadt ihren Status wie eine Speerspitze. Türme ragten hoch in den Himmel auf, Schulter an Schulter mit ihren rot geschindelten Nachbarn. Kyoshi musste an Pflanzen denken, die miteinander ums Sonnenlicht wetteiferten und sich dabei immer höher reckten, damit sie nicht zurückblieben und umkamen.

Mehrere Seen funkelten am Grund der Caldera, doch einer war weit größer als alle anderen. Die offiziellen Namen wusste Kyoshi nicht mehr. Außerhalb der Feuernation bezeichnete man sie oft als die Königin und ihre Töchter, denn sie waren berühmt für die kristallklare Schönheit ihres Wassers. Angeblich stand die Todesstrafe darauf, die Seen mit Booten zu befahren, doch nun sah Kyoshi, dass das nur ein albernes Gerücht war: Schon jetzt dümpelten Laternenboote auf der spiegelnden Oberfläche, in Vorbereitung auf das Fest.

Im Zentrum der Senke stand der Königspalast, ernst und karg. Er war von einem Ring beigefarbener Pflastersteine umgeben, sodass jeder, der sich zu Fuß näherte, in eine beunruhigend exponierte Lage versetzt wurde, direkt vor den Schutzwällen und Wachtürmen. Nur hinter den inneren Mauern wuchs scheu ein Garten, spärlich wie der Bart eines jungen Mannes. Kyoshi nahm an, dass es sich um eine Sicherheitsmaßnahme handelte: Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass sich Diebe oder Attentäter ungesehen von Baum zu Baum schlichen.

Da die Sicherheit derart gewährleistet war, erhob der Palastkomplex Pracht zum obersten Prinzip. Aus der Mitte ragte eine Turmspitze in den Himmel, flankiert von zwei goldenen Pagoden mit einem Übermaß an sich aufwölbenden Traufen, die den Anschein erweckten, als wären die Dächer mit Tierklauen verziert. Der Bau glich eher einem großen Schrein als einer Residenz. Die steilen Winkel der Dächer hätten es Eindringlingen schwer gemacht, von oben einzudringen.

Kyoshi ohrfeigte sich innerlich dafür, dass sie das Heim des Feuerlords derart auskundschaftete. Wie schlummernde Samen nach einem frischen Regen sprossen die alten Gewohnheiten der Fliegenden Operngesellschaft aus ihrem Gedächtnis hervor.

»Wisst Ihr, wo wir landen sollen?«, fragte Jinpa und riss sie aus ihren Gedanken. »Mir ist etwas unbehaglich dabei, einfach über die Mauer hinwegzufliegen. Familien, die Ballisten besitzen, haben dafür bestimmt eher wenig übrig.«

»Am Haupttor, aber nicht zu nah dran.« Als ehemalige Dienerin wusste Kyoshi, dass die höheren Stände es schätzten, wenn die Besucher ihre Residenz in genau der richtigen Art und Weise betraten: Tief beeindruckt und voller Ehrfurcht sollten sie durch eine sorgsam entworfene Ausstellung der Kultur und Macht wandeln. Und die herrschende Familie stand in der Feuernation nun mal an höchster Stelle.

Yingyong landete auf der Allee, die den Steinring in zwei Hälften teilte. Sie stiegen ab und legten den Rest des Wegs zum Torhaus zu Fuß zurück: Am Boden bewegte sich der Bison wegen des fehlenden Beins mit einem ziemlich holprigen Gang, bei dem man sich nur schwer im Sattel halten konnte. Das Gepäck wäre ihm von den Schultern gerutscht, wenn es nicht sicher festgebunden gewesen wäre.

Sie erreichten das schwere Eisentor, imposant und unnachgiebig, das weder Gucklöcher noch einen Sichtschlitz oder sonst irgendeine Möglichkeit besaß, um hindurchzuspähen. Kyoshi fragte sich gerade, ob sie klopfen sollte, da durchbrach ein metallisches Mahlen die unbehagliche Stille. Irgendwo im Inneren griffen die Räder schwerer Maschinen ineinander und ächzten unter der Last. Das Tor bewegte sich, nicht nach außen oder innen, sondern geradewegs nach oben.

Dahinter kam ein Mädchen zum Vorschein – Zoll für Zoll, als wäre der Anblick dieser Person, diese Inkarnation roher Kraft, für bloße Sterbliche nicht auf einmal zu ertragen. Und manchmal glaubte Kyoshi das. Die erhabene Schönheit der Kraterstadt und des Königspalastes waren nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die sich in diesem Moment vor ihr offenbarte.

Das Tor beendete seine qualvolle Reise mit einem lauten metallischen Knall. Der Bogengang dahinter wurde von Fackeln erhellt, von denen keine so hell leuchtete wie das Paar bronzefarbener Augen, das Kyoshi von oben bis unten musterte. Abgesehen davon, dass sie nun die Rüstung eines höherrangigen Offiziers trug, mit weniger Spitzen und überhängenden Klappen und mit mehr Goldbesatz, sah Rangi noch immer genauso aus wie vorher. Ihr tintenschwarzes Haar war nachgewachsen und besaß wieder seine alte Länge. Ihre Haltung war genauso starr und unbeugsam, wie Kyoshi es in Erinnerung hatte.

Auch hüllte sie sich nach wie vor in dieselbe Aura unanfechtbarer Überlegenheit. In Rangis Gegenwart zu sein bedeutete, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Wenige Sekunden Stille genügten, um Kyoshi zum Zittern zu bringen.

Ihre schlimmsten Ängste bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche. Es war genug Zeit vergangen, dass Rangi zu Kyoshis Ehemaliger geworden sein konnte: ehemalige Lehrerin, ehemalige Leibwächterin, ehemalige … eben alles.

Dann wurde die Stille von einem Geräusch durchbrochen, das Kyoshi bisher nur ein einziges Mal gehört hatte: Rangi, die so sehr lachte, als würde sie ersticken.

Die Feuerbändigerin stützte sich mit der Hand an der nächsten Wand ab und rang nach Luft, als hätte sie die ganze Zeit über den Atem angehalten, während das Tor sich geöffnet hatte. »Ich musste rennen … den ganzen Weg über das Grundstück … um beeindruckend auszusehen, wenn ich dich begrüße«, keuchte sie. »Ich glaub, ich bin nicht mehr in Form.«

Der eisige Schraubstock, der sich um Kyoshis Herz gelegt hatte, wurde auseinandergesprengt und es konnte wieder schlagen. »So hast du das also immer gemacht?« Seit sie sie kannte, hatte Rangi stets irgendwo auf sie gewartet, meist lächerlich früh am Morgen, oder sie war in letzter Minute plötzlich und auf dramatische Weise wie aus dem Nichts aufgetaucht. Zu wissen, dass sie einfach nur mit Höchstgeschwindigkeit von hier nach dort gehetzt war, nahm dem Mysterium ein wenig den Zauber.

Rangi grinste und nickte, während sie langsam wieder zu Atem kam. »Wenigstens muss ich mir keine Sorgen machen, dass mich jemand von der Feuernation so sieht. Der einzige tote Winkel der Verteidigungsanlagen ist genau hier – direkt unter dem Tor selbst. Was bedeutet, dass ich das hier tun kann.«

 

Sie legte die Hände um Kyoshis Nacken und zog sie zu sich unter den Bogen, geradewegs in einen glühend heißen Kuss hinein.


KULTURDIPLOMATIE


KYOSHI VERGAß SCHLAGARTIG, warum sie eigentlich hier war. Wo sie war. Wo oben und unten war. Rangi küsste all ihre Erinnerungen fort. Sie verschmolzen miteinander, bildeten eine Legierung.

Und dann brach Rangi den Kuss ab und trat einen Schritt zurück – womit sie aus Kyoshis Sicht ungeheure Grausamkeit an den Tag legte. »Willkommen in der Feuernation, Avatar«, sagte sie, wieder ganz professionell. Sie glättete eine Haarsträhne, die verrutscht war, verhielt sich aber sonst so, als hätte sie Kyoshi nicht gerade allein mit ihren Lippen um den Verstand gebracht.

Der Avatar taumelte noch immer, war zu benommen, um zu antworten. »Herrin Rangi, sagte Jinpa und lief flink um Kyoshi herum, um ihre Gastgeberin zu begrüßen. Auf Luftnomadenart legte er die Handflächen zusammen und verbeugte sich vor ihr. »Schön, Euch endlich persönlich kennenzulernen.«

Kyoshi wurde unwillkürlich rot. Jinpa wusste, wer Rangi war, aber sie war nicht sonderlich begeistert, dass ihr Sekretär einen solch intimen Moment mitbekam. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er später in seine Notizen schreiben würde: Tag eins von Kyoshis erstem Besuch der Feuernation, würde er für die Nachwelt festhalten. Avatar Kyoshi küsst unangemessenerweise die Liebe ihres Lebens, auf der Schwelle zur sichersten Festung der Welt.

»Bruder Jinpa«, sagte Rangi so freundlich, wie sie es selten gegenüber jemandem war. »Ihr beehrt mich mit Eurer Anwesenheit. Ihr könnt den Bison ruhig am Tor lassen: Unsere Stallmeister wissen, wie man sich um die Reittiere jeder Nation kümmert.« Sie beugte sich vor und zwinkerte ihm zu. »Ich werde sie wissen lassen, dass ich ihnen das Leben zur Hölle mache, wenn sie Euren Gefährten schlecht behandeln.«

Jinpa lachte, bis er Kyoshis Blick auffing und begriff, dass das kein Scherz gewesen war. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Er ging zurück und löste Yingyongs Zügel. »Sei ein guter Junge und bleib«, hörte Kyoshi ihn dem Bison ins Ohr flüstern, woraufhin das Tier kummervoll brummte. »Ja, ich weiß, sie ist Furcht einflößend. Mir passiert schon nichts

Sobald sie Yingyong in guten Händen wussten, gingen Kyoshi, Rangi und Jinpa den Tunnel entlang. Er war dafür entworfen, Menschen darin umzubringen. Die Wände waren mit Eisenplatten ausgekleidet, in die kleine Löcher gebohrt waren, durch die man Pfeile und Feuerstöße schießen konnte. Der Boden wirkte solide, allerdings schien sich darunter ein Hohlraum zu befinden, was wohl bedeutete, dass die Verteidiger sie mit einem Hebel plötzlich in die Tiefe stürzen lassen konnten.

Ein kurzes Husten echote durch den Gang, dann wurde es gewaltsam unterdrückt. Es stammte weder von Kyoshi noch von ihren Begleitern. Ihr Blick zuckte umher, glitt erneut über die Wände. Wenn hinter jedem Loch ein Soldat stand, dann schaute ihnen gerade ein ganzer Trupp dabei zu, wie sie vorbeigingen.

Kyoshi versuchte nervös, alles in diesem eisernen Schlund im Auge zu behalten, bis sie endlich auf der anderen Seite der Mauer auf einen gepflasterten Platz herauskamen. Das karge Grün des Gartens ließ keinerlei beruhigende Wirkung entstehen. Ein einzelner Minister erwartete sie. Er war in die rote und schwarze Seide der Zivilbehörden gekleidet und machte einen ganz und gar unglücklichen und verspannten Eindruck.

»Avatar Kyoshi«, sagte er. Er verbeugte sich tief und sein langer Schnurrbart hing schlaff herab. »Ich bin Kanzler Dairin, der oberste Palasthistoriker. In Feuerlord Zoryus Namen begrüße ich Euch in unserem Land.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Kanzler«, erwiderte Kyoshi. »Wo ist der Feuerlord? In seiner Nachricht hieß es, wir hätten wichtige Angelegenheiten zu besprechen.«

Dairins Miene wirkte noch säuerlicher als zuvor. »Im Moment ist er … indisponiert. Ihr werdet Feuerlord Zoryu heute Abend kennenlernen.«

Eine derart brüske Begrüßung hatte Kyoshi nicht erwartet. Andererseits musste sie zugeben, dass gerade sie nicht das Recht hatte, jemanden für seinen Mangel an Diplomatie zu kritisieren.

Rangi schritt ein, um von der peinlichen Stille abzulenken. »Ich glaube, der erste Punkt auf der Agenda ist die Palasttour, Kanzler«, sagte sie. »Kyoshi hat mir ständig damit in den Ohren gelegen, dass sie unbedingt mehr von einem der führenden Avatargelehrten unserer Welt erfahren will.«

Ihre Schmeichelei wirkte, als würde man einem wütenden Kind ein Bonbon in den Mund stecken. Dairin konnte nicht zeigen, wie sehr er sich freute, ohne zu riskieren, albern auszusehen. »Natürlich«, sagte er und gab sich redlich Mühe, eine noch missmutigere Miene aufzusetzen. »Ich kann Euch versichern, die Führung ist sehr lang und umfassend. Hier entlang, bitte.«


Gemeinsam mit den anderen schritt Kyoshi feierlich durch die königlichen Korridore, wie es schon ihre Vorgänger seit der Vereinigung der Feuerinseln getan hatten. Die großen Hallen des Palastes waren völlig verwaist, was nur eine Möglichkeit zuließ: Die Dienerschaft beobachtete sie und ging ihnen aus dem Weg; Wachen und Bedienstete verschwanden hinter Ecken, um die Augen des Avatars nicht mit ihrer Anwesenheit zu beleidigen. Diesen Trick kannte Kyoshi sehr gut. Er erzeugte die Illusion von Ruhe und Abgeschiedenheit, obwohl es einer ganzen Armee an fleißigen Leuten bedurfte, um ein derart großes Anwesen in Schuss zu halten.

Während sie weitergingen und dabei so taten, als wären sie allein, wies Dairin sie auf Kästen aus klarem Kristall hin, in denen Schriftrollen mit Poesie und Leitsätzen lagen, die von diversen Feueravataren stammten. Kyoshi nickte, wie es sich gehörte, als er ihr in Nischen ausgestellte Juwelen und vergoldete Haarnadeln zeigte, die sie in früheren Leben getragen haben musste.

Kein einziges Spielzeug, stellte sie fest. Dafür viele Jians, Daos, Dolche mit Gravuren. Die Relikte jeder Nation besaßen ihre eigene Persönlichkeit und Feuer und Luft hätten nicht unterschiedlicher sein können.

Jinpa stellte Dairin allerlei Fragen und bat nach jeder Antwort wie ein eifriger Student um weitere Ausführungen. Die beiden gingen voraus und Kyoshi und Rangi fielen ein wenig hinter ihnen zurück. Jinpa zwinkerte Kyoshi über die Schulter verstohlen zu, um sie wissen zu lassen, dass er den beiden Bummlern absichtlich die Gelegenheit verschaffte, miteinander zu reden.

Kyoshi musste ihm unbedingt eine Gehaltserhöhung geben. Sie zahlte ihm zwar gar nichts – der Mönch diente dem Avatar aus einem selbst auferlegten Pflichtgefühl heraus –, aber eine Gehaltserhöhung hatte er trotzdem verdient. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Kyoshi Rangi im Flüsterton. Das letzte Mal, als sie Hei-Ran gesehen hatte, hatte ihr Leben am seidenen Faden gehangen.

»Gut genug, dass sie heute Abend mit dir sprechen will, auf deinem Empfang«, erwiderte Rangi ebenso leise.

Als wäre dieser Besuch nicht ohnehin schon nervenaufreibend genug. Gleichzeitig war sie unendlich froh zu hören, dass Hei-Ran wieder gesund war. Das erklärte auch, wie ungezwungen Rangi sich verhielt, wie es ihr gelang, einfach dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten. »Und wer ist nun dieser Dairin?«, fragte Kyoshi. »Ich dachte, es gäbe in der Feuernation einen speziellen Minister, der für die Beziehungen zum Avatar zuständig ist.«

»Eigentlich ist das auch so. Ich weiß nicht, warum nur Dairin geschickt wurde, um dich zu begrüßen. Vielleicht hat Lord Zoryu irgendwelche Probleme mit seiner Dienerschaft, aber ich trau mich nicht zu fragen. Dank meiner Verbindung zu dir hab ich hier ein paar Privilegien, aber in Wirklichkeit bin ich im Palast nur eine Oberleutnantin.«

Kyoshi musste beinahe lachen. »Nur« eine Leutnantin, ein Rang, nach dem viele Erwachsene in der Feuernation vergeblich strebten. Rangis auf so beiläufige Weise überambitioniertes Wesen war eines der vielen kleinen Dinge, die Kyoshi an ihr vermisst hatte.

»Erzähl mir von deinem Sekretär.« Rangi machte eine Kopfbewegung in Jinpas Richtung.

Was gab es da zu erzählen? »Er ist in irgendeinem geheimen Pai-Sho-Klub und manchmal verhält er sich völlig anders als andere Luftnomaden. Ich werde noch nicht so recht schlau aus ihm. Aber er hat mir bisher gut …«

»Und nun gelangen wir zur Königlichen Porträtgalerie«, sagte Dairin laut und blieb abrupt stehen.

Kyoshi wäre um ein Haar mit ihm und Jinpa zusammengestoßen. Rangi konnte sie gerade noch an der Rückseite ihrer Tunika festhalten. Sie stellte sich vor, wie sich diese Neuigkeit in der Feuernation verbreitet hätte: Der Avatar hat seine gesamte Entourage beim Palastrundgang umgekegelt.

Der Kanzler hatte jedoch nicht bemerkt, dass er beinahe niedergetrampelt worden wäre. Voller Stolz blickte er an den Wänden empor. »Ich könnte Tage hier verbringen und würde es nicht müde«, seufzte er schwärmerisch.

Die Galerie hatte seine Verehrung durchaus verdient: Sie gehörte zu den beeindruckendsten von Menschenhand errichteten Werken, die sie bisher gesehen hatte. Gemälde der Feuerlords zierten die eine Seite, sie reichten vom Boden bis zur Decke und waren dreimal so groß wie ihre lebendigen Vorbilder. In rot-schwarzer Gewandung und von goldenem Glorienschein umgeben blickten die Herrscher der Feuernation wie ein Geschlecht von Riesen auf ihr Publikum herab.

Obwohl es ihr erster Besuch hier war, erkannte Kyoshi sofort, dass jedes Porträt Jahre an Arbeit gekostet haben musste, vielleicht sogar das Werk einer ganzen Künstlerlaufbahn war. Das Porträt des verstorbenen Feuerlords Chaeryu, das jüngste Werk der Galerie, war noch nicht vollendet. Vorzeichnungen im Hintergrund des Bildes, in der Nähe der Füße, warteten darauf, mit Goldeinlegearbeiten und Orangetönen gefüllt zu werden.

Rangi stupste sie an und zeigte zur anderen Seite der Galerie. Den Feuerlords gegenüber standen die Feueravatare, in entsprechender Größe und Pracht gemalt und ebenso atemberaubend in ihrer künstlerischen Herrlichkeit. Zwischen diesen Porträts gab es mehr Platz. Es kam grob ein Avatar auf vier Feuerlords und die Lücken waren nicht ganz ebenmäßig, was Kyoshi darauf schließen ließ, dass die Bildnisse ihrer Vorläufer eine Chronik abbildeten, die sich durch die Halle erstreckte.

Vor Avatar Szeto blieb die Besuchergruppe stehen. Auf dem Porträt trug er sein Markenzeichen: seinen hohen Ministerhut. Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren, Feuerlords wie Avataren, ließ er keinen Feuerball über seiner Handfläche schweben, sondern hielt einen Abakus empor, der ebenso liebevoll ausgearbeitet war wie all die abgebildeten Flammen oder Waffen, die seine Landsleute führten. Das Rechenwerkzeug war mit echten Perlen versehen und das Rechenergebnis zeigte eine Zahl, die Glück verheißen sollte.

In der anderen Hand hielt er einen Stempel: Der Künstler hatte sich die Freiheit genommen, ihn riesengroß zu machen. Es war unwahrscheinlich, dass der echte Stempel derart gigantisch oder aus solidem Zinnober gewesen war, wie es das Bild zeigte: Szeto hätte jedes Schriftstück, das er bewilligen wollte, von oben bis unten zugestempelt.

»Und hier haben wir den Namensgeber unseres Festes«, erklärte Dairin. »Diesem Mann verdankt die Feuernation unendlich viel.«

»Könnt Ihr mir mehr von Avatar Szeto erzählen?«, fragte Kyoshi. »Ich fürchte, ich weiß nicht so viel über ihn, wie ich sollte.«

Der Kanzler räusperte sich und setzte zu einem langen Vortrag an.

»Während Szetos Kindheit stand die Feuernation am Rande des Abgrunds: Sie wurde von Seuchen und Naturkatastrophen geplagt«, begann er. »Der Zorn der Geister war fürchterlich und Feuerlord Yosor war kaum in der Lage, der Spaltung des Landes entlang der alten Bruchlinien der Klans Einhalt zu gebieten.«

 

»Der Klans?«, fragte Kyoshi.

Dairin seufzte, als er begriff, dass er nun auch noch eine Förderstunde in Geschichte geben müssen würde. »Jedes Adelsgeschlecht der Feuernation stammt von einem der alten Kriegsherren ab, aus der Zeit, bevor das Land geeint war. Aus dieser Zeit besitzen die Geschlechter nach wie vor gewisse Rechte, etwa die Regierungsgewalt über ihre Heimatinseln und das Recht, Haustruppen zu unterhalten. Während Lord Yosors Regentschaft sandten die Klans ihre Krieger gegeneinander aus: Mit ihrem vergeblichen Ringen um Macht und Ressourcen verheerten sie das Land. Viele Historiker, ich selbst eingeschlossen, sind der Ansicht, dass die Feuerinseln ohne Szetos Intervention zersplittert und in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen worden wären – in die finstere Zeit von Toz dem Grausamen und der anderen Warlords der Voreinheitszeit, die so viel Leid über unser Volk gebracht haben.«

Kyoshi war überrascht, wie sehr diese Geschichte dem Aufstand der Gelbnacken ähnelte. Als jemand, der unter gewöhnlichen Leuten aufgewachsen war, hatte sie immer nur gehört, die Feuernation sei ein Vorbild für Harmonie und Effektivität, ein Kontrapunkt zum Gezanke in den politischen Kreisen des Erdkönigreichs. Allzu weit lag die Ära Szetos nicht zurück.

Für diesen Teil der Tour musste sie kein Interesse heucheln oder auf Jinpa bauen. »Was hat er getan, um die Ordnung wiederherzustellen?«, fragte sie.

»Er hat sich für eine Anstellung beworben«, sagte Dairin. »Er war der Avatar, daher wäre für all seine materiellen Bedürfnisse gesorgt gewesen und all seine Erlasse wären beherzigt worden; dennoch nahm Szeto einen Regierungsposten als Minister des Königshofs an und unterstand damit prinzipiell denselben Regeln und Vorschriften wie jeder andere Bürokrat. Er nahm seine Regierungsarbeit auf und saß an einem Schreibtisch. Überdies bestand er darauf, dass er allein aufgrund seiner Leistung befördert würde und seine Karriere nicht auf Kosten der Dienstälteren vorangetrieben wurde, nur weil er der Avatar war.«

»Und das hat geholfen?«, fragte Kyoshi ungläubig.

»Es hat sich als brillante Strategie erwiesen«, sagte Rangi. »Statt überall in der Nation von einer Notlage zur nächsten zu hetzen, konzentrierte er seine Anstrengungen auf einen einzigen zentralen Ort, von dem aus er seinen Einfluss allmählich ausweitete. Szeto war ein extrem fähiger Bürokrat, Buchhalter und Diplomat. Und da er für die königliche Familie arbeitete, gab es keinerlei Trennung zwischen der legalen und der spirituellen Autorität im Land. Seine Siege waren zugleich die Siege des Feuerlords.«

Dairin nickte, zufrieden, dass die Jugend von heute angemessen über die Vergangenheit der Nation unterrichtet wurde. »Sobald er zum Großen Ratgeber befördert worden war, sah sich Avatar Szeto in der Lage, die offenen Feindseligkeiten zwischen den rivalisierenden Adelshäusern zu beenden. Ein andauernder Frieden folgte, während er weiterhin mit Würde und Exzellenz dem Land diente.«

»Er hat der Wertminderung des Münzgeldes ein Ende gesetzt«, sagte Rangi. »Das hat die Wirtschaft im letzten Moment vor dem Zusammenbruch bewahrt.«

»Eine der Schriftrollen, an denen wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind«, fügte Jinpa hinzu, »besagt, dass die ersten offiziellen Programme, die er aufgesetzt hat, dazu bestimmt waren, die Bauern in Zeiten der Hungersnot zu entlasten.«

»Und was am wichtigsten war: Er hat über alles ordentlich Protokoll geführt«, sagte Dairin. Wie aus einer Gewohnheit heraus wischte er sich mit dem Finger den Augenwinkel, als hätte es ihn in der Vergangenheit schon zu Tränen gerührt, über Szeto nachzusinnen, und er wollte nun auf Nummer sicher gehen. »Wahrlich, Avatar Szeto ist zu einem Ideal geworden, dem wir Beamten seither nacheifern, und er ist im Allgemeinen ein strahlendes Beispiel für die Werte der Feuernation: Effizienz, Präzision, Loyalität.«

Kyoshi blickte mit frischer Bewunderung zu dem mürrischen Mann mit dem langen Gesicht auf, zu dessen Ehren sie hier ein Fest feiern würden. Dieser Szeto, beziehungsweise diese Version ihrer selbst, gefiel ihr. Eine starke Arbeitsmoral und ein Händchen fürs Organisatorische waren Eigenschaften, für die sie Respekt empfand. Vielleicht hätte sie lieber versuchen sollen, mit ihm zu kommunizieren, statt sich so sehr auf Yangchen zu versteifen.

Dairin erlaubte ihnen gnädigerweise, sich alle Kunstwerke anzuschauen, die sie interessierten. Kyoshi kehrte noch einmal zum Porträt Lord Chaeryus zurück. Mehr über ihn zu wissen konnte ihr nur helfen, sich bei seinem Sohn, dem gegenwärtigen Feuerlord Zoryu, beliebt zu machen.

Sie versuchte, etwas von der Symbolik zu interpretieren. Chaeryus Thema schien die Pflanzenwelt zu sein. Sie sah gebündelte Reishalme, eine reiche Ernte. Es gab einen skizzierten Umriss, der noch ausgemalt werden musste, ein detailliertes Arrangement mit zwei Blumen in einer Vase: In dem Pflanzgefäß stellte eine große Steinkamelie eine kleinere Pfingstrose in den Schatten.

Das war seltsam. Kyoshi war mit den Grundlagen des Blumensteckens im Feuernationsstil vertraut und eine solch unausgewogene Aufteilung war eigentlich verpönt. Im echten Leben würde die größere Pflanze sämtliches Sonnenlicht bekommen und die kleinere würde eingehen.

»Kanzler«, sagte sie. »Darf ich Euch etwas zu diesen Blumen fragen?«

Bei dem Wort Blumen verkrampfte sich Dairin eigentümlicherweise und kam mit besorgter Miene zu ihr herübergeeilt. Er wartete gar nicht erst auf ihre Frage, sondern starrte fieberhaft die Vorzeichnung an, als erwartete er eine unerfreuliche Enthüllung.

Er brauchte etwas länger als Kyoshi, um die Umrisse zu erkennen, doch als es ihm schließlich gelang, war seine Reaktion unverkennbar: Der Kanzler wurde bleich, fing an zu zittern und Schweißperlen traten auf seine Nase.

»Sprecht abgesehen vom Feuerlord mit niemandem darüber«, wisperte Dairin ihr eindringlich zu.

»Moment mal, was?« Kyoshi hatte ihn deutlich gehört, verstand aber nicht, warum er sich so verhielt, als ginge es hier um Leben und Tod.

Der Kanzler klatschte so laut in die Hände, dass Rangi und Jinpa, die sich noch Gemälde anschauten, zusammenzuckten. »Die Führung ist vorbei!«, verkündete er. Sein Blick zuckte zum Eingang der Galerie hinüber, als würde er sich vor dem leeren Raum fürchten. »Avatar, bitte entschuldigt: Ich rede und rede, dabei seid Ihr bestimmt müde von der Reise. Ich werde Euch Eure Unterkünfte zeigen. Unverzüglich.«


Die Böden und Wände des Avatarsquartiers im Feuerpalast waren so überfrachtet mit Antiquitäten und Kunstwerken, dass es sich gut und gerne um ein kleines Museum hätte handeln können. Kyoshi konnte sich schon darauf freuen, die restliche Zeit ihres Besuches über Landschaftsgemälde in Scharlachtönen, zinnoberrote Skulpturen von sich putzenden Vögeln und aus karminrotem Garn gewobene Wandteppiche anzustarren. Alles war so überwältigend rot, dass es ihr schwerfiel, Entfernungen richtig abzuschätzen. Das Zimmer, in dem sie schlafen würde, kam ihr so groß vor wie die unterste Etage von Loongkau.

»Es ist, als würde man direkt in die Sonne gucken«, sagte Jinpa. Er presste sich die Handflächen auf die Augen und blinzelte.

»Selbst ich musste mich erst wieder an so viel Rot gewöhnen«, sagte Rangi. Sie setzte sich auf die Ecke von etwas, das für Kyoshi wie eine große Plattform aussah und leicht federte. Dieses scharlachrot bezogene Quadrat, groß genug, um darauf ein Lei Tai abzuhalten, musste das Bett sein. »Agna Qel’a ist genauso überwältigend, nur ist es dort das Eis. An den hellsten Stellen muss man eine Spezialbrille tragen, sonst wird man schneeblind.«

Als sie den Norden erwähnte, krampfte sich Kyoshis Magen zusammen. Es erinnerte sie daran, wie weit Rangi gereist war, damit die Heiler vom Wasserstamm die Vergiftung ihrer Mutter behandeln konnten. Zudem diente es als Warnung, dass sie als Avatar jederzeit abrupt gefordert sein könnte und mit einem Wimpernschlag keine Zeit mehr haben würde. Kyoshi war noch nicht am Nordpol gewesen und auch nicht zu Besuch gekommen, als Rangi sich dort aufgehalten hatte – sie konnte von Glück sagen, dass Rangi deshalb nicht wütend auf sie war.

Sie fragte sich, ob sie Dairins geheimnisvolles Verhalten in der Galerie ansprechen sollte, ließ es dann aber, weniger, um seinen Wunsch nachzukommen, sondern eher, weil Rangi und sie Wichtigeres zu besprechen hatten. Sie wandte sich Jinpa zu. »Kannst du uns eine Weile allein lassen?«, fragte sie und machte eine Geste zur Tür.