Du in meinem Kopf

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Du in meinem Kopf
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Ewa A.

Du in meinem Kopf

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

1. Dinge, die man hasst

2. Dinge, die man nicht begreifen kann

3. Dinge, die man nicht sehen will

4. Dinge, die man nicht tun will

5. Dinge, die man nicht wahrhaben will

6. Dinge, die man nicht erwartet

7. Dinge, die man nicht erleben will

8. Dinge, die man nicht glauben kann

9. Dinge, die man nicht ahnen kann

10. Dinge, die man nicht wissen kann

11. Dinge, die man nicht fühlen will

12. Dinge, die einen zornig machen

13. Dinge, die man vergessen will

14. Dinge, die man verändern will

15. Dinge, die man sich wünscht

16. Dinge, die man nicht so meint

17. Dinge, die man nicht kontrollieren kann

18. Dinge, die einen umbringen

19. Dinge, die man haben will

20. Dinge, die man tun muss

Ein paar Worte

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Impressum neobooks

Impressum

Du
in meinem Kopf

von
Ewa A.


Text:

Copyright © 2020 Ewa A.

Alle Rechte vorbehalten

Cover:

Copyright ©

www.sturmmöwen.at

Korrektorat:

https://korrektoratia.jimdosite.com/

Verlag:

E. Altas

Bundesstr. 6

79423 Heitersheim

ewa.xy@web.de

https://www.facebook.com/EwaA.Autorin

Die Geschichte sowie die Personen und die Orte in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Begebenheiten, Orten, lebenden oder toten Personen sind in keiner Weise beabsichtigt und wären purer Zufall.


1. Dinge, die man hasst

Hazel

Es war ein milder Spätsommerabend und durch den Park von New Stamford schwebte der verlockende Duft von Popcorn und Zuckerwatte. Kinderlachen, Stimmengewirr und Musikfetzen wehten in einer warmen Brise zu uns heran. Das grüne Laub des Ahornbaums warf seine unruhigen Schatten auf den Zeichenblock, der auf meinen Oberschenkeln ruhte und auf dem das Gesicht eines Mädchens langsam Formen annahm. Es sollte das meiner besten Freundin Sam darstellen, die neben mir quer auf der Wiese lag und meinen Oberschenkel als Kopfkissen benutzte.

»Ehrlich gesagt, wäre ich echt froh, wenn meine Mom mir ein Date besorgen könnte.«

Der traurige Unterton in ihrer Stimme ließ mich innerlich zusammenzucken. Sams Mom war vorletztes Jahr nach einer schweren Krankheit gestorben. Kein Wunder also, dass sie die Versuche meiner Mutter, mich mit irgendwelchen Kerlen zu verkuppeln, in einem ganz anderen Licht als ich sah. Sie wäre mit Sicherheit glücklich, wenn ihre Mom ihr damit noch auf die Nerven gehen könnte.

»Verdammt, Sam. Ich beschwere mich hier über Kleinigkeiten, dabei ... Es tut mir leid«, nuschelte ich zerknirscht.

Sam schloss für eine Sekunde die Lider und grinste mich dann traurig an. »Hey, nein. Schon okay. Ich wollte nicht rumheulen.«

Mit einem Seufzen malte ich an der Nase meiner Zeichnung weiter. »Naja, vielleicht hättest selbst du irgendwann keinen Bock mehr darauf, fast jede Woche einen komischen Typen zu treffen, den deine Mutter dir ausgesucht hat. Entweder sind sie genauso angepisst wie ich oder – noch schlimmer - übereifrig bei der Sache, was echt eklig ist.«

Sam lachte auf. »Nun komm schon, ganz so schlimm ist es nicht. Sie schleppt dir nur ab und zu einen Kerl an.«

»Nein, sie schleppt sie nicht an. Sie zwingt mich zu den Knallfröschen hin – in Lucys Diner. Und doch: Es ist furchtbar. Scheißegal, wie oft sie das macht, es wird nicht besser. Denk doch bitte mal an den miesen Wurm, der mir ständig auf die Möpse gestarrt hat. Zu allem Übel war er noch zwei Jahre jünger als ich und reichte mir gerade bis ans Kinn. Und nur zur Erinnerung: Ich selbst bin schon ein Zwerg.«

Sam kicherte. »Mag ja sein, Schneewittchen, aber vielleicht hat er dir ja deswegen ständig auf die Hupen gestarrt, weil die praktischerweise auf seiner Augenhöhe lagen. Oder eher standen? Hingen?«

Mit einem warnenden Knurren beendete ich das Zeichnen, um Sam einen mörderischen Blick zuzuwerfen. »Hingen? Ich glaube, du tickst wohl nicht ganz richtig! Bei mir hängt nichts.«

Doch Sam scherte sich nicht darum und amüsierte sich weiter auf meine Kosten. »Möglicherweise war er aber auch nur kurzsichtig und dachte, er würde dir in die Augen schauen.«

»Klar«, stimmte ich sarkastisch zu. Noch immer angewidert von dem vergangenen Date schüttelte es mich. »Der Troll war widerlich.«

»Hey, kann ja sein, dass ihre neuste Eroberung ein wirklich netter Kerl ist?«

»Nie und nimmer. Ich sollte mich weigern, ihn zu treffen.«

»Wann ist das Date?«

Ich versuchte, mich an die morgendliche Unterhaltung mit meiner Mom zu erinnern. »Übermorgen, wenn ich mich recht entsinne. Also am Mittwoch soll ich den nächsten Trottel in Lucys Diner treffen.«

»Dann hast du ja noch genügend Zeit, dich darauf vorzubereiten.«

»Ja, gute Idee. Ich sollte mir vorher die Kante geben oder irgendwelche Pillen einwerfen, die mich das kommende Date des Grauens im Vollrausch und ohne jegliche Erinnerung überstehen lassen.«

»Bloß nicht, sonst kann der Kerl mit dir anstellen, was er will und du merkst es nicht einmal.«

»Ohw, stimmt. Fataler Denkfehler. Verdammter Mist!«

»Ach, das überstehst du auch noch. Abgesehen davon besteht ja immerhin die Chance, dass es diesmal gar nicht so übel werden könnte.«

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Deine Fantasie möchte ich haben, echt, he.«

»Dann sag deiner Mom doch einfach, dass du keinen ihrer aufgerissenen Kerle mehr treffen willst.«

»Das schaffe ich nicht«, jammerte ich und widmete mich wieder Sams Gesicht auf dem Papier. »Ich habe es ja schon probiert, aber sie wird dann jedes Mal traurig, weil sie glaubt, mir nicht helfen zu können, und ich bekomme dann ein total schlechtes Gewissen. Sie meint, wenn ich einen Freund hätte, wäre ich glücklich.«

»Wie kommt sie denn darauf?« Sam reckte den Kopf nach hinten, sodass da, wo zuvor ihr Scheitel neben meinem Zeichenblock gelegen hatte, ihre Augen auftauchten. Tiefe, grüne Seen staunten mich an. »Bist du das etwa – unglücklich?«

Ich zögerte, weil ich mich das selbst schon zu oft gefragt hatte. Was machte Glück aus? Hieß glücklich sein, jeden Tag aus vollem Hals zu lachen? Sich in seiner Haut wohlzufühlen? Freunde zu haben? Dann war ich glücklich. Aber wenn es bedeuten würde, von anderen akzeptiert oder zumindest nicht als Freak bezeichnet zu werden, sich insgeheim nicht schlecht zu fühlen, weil man eben nicht wie alle anderen um einen herum war, dann … ja. Dann müsste ich mich als unglücklich bezeichnen. Denn dank einiger meiner Mitschüler fühlte ich mich als Außenseiterin, als Freak, als schleimiger Bodensatz der Highschool, obwohl ich das nicht wollte.

Sam richtete sich auf, drehte sich zu mir und starrte mich voller Sorge an. »Hazel Penelope Brown, bist du etwa unglücklich?«

»Nein. Nein, natürlich nicht. Schließlich habe ich die beste Freundin der Welt. Wie könnte ich da unglücklich sein?«, wehrte ich übertrieben theatralisch ab. Allerdings blieb mir der fahle Geschmack einer Lüge auf der Zunge kleben.

 

Ein schiefes Grinsen trat auf Sams Gesicht. »Na, das will ich auch meinen. Außerdem gibt es wesentlich Schlimmeres als ein Blind Date, das von der eigenen Mutter arrangiert wurde: Zum Beispiel auf Geschichte zu lernen, was ich heute Abend leider noch machen muss. Also komm, gehen wir langsam heim.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Nur, wenn wir uns auf dem Heimweg noch Eiscreme besorgen.«

»Überredet«, stimmte Sam zu und ich packte flink meinen Zeichenblock samt Stift in den Rucksack. Nebeneinander schlenderten wir in Richtung Ice Cream Factory davon. Wir alberten herum und dachten uns waghalsige Aktionen aus, mit denen ich mich aus dem Blind Date herauswinden könnte, als ich aus der Ferne das Geräusch von heranrollenden Skateboards wahrnahm. Ich sah mich um und entdeckte auf einem Weg, der aus einem anderen Eck des Parks entsprang und bald mit unserem zusammenlaufen würde, zwei Typen auf ihren Boards. Sie waren mir bekannt, denn beide spielten im Footballteam unserer Highschool, gehörten zu den coolen Leuten der Seniorstufe und waren somit ein Jahrgang über uns. Wie es für solche Typen, die auf der Erfolgswelle oben schwammen, üblich war, wurden sie von fast allen Mädchen der Stadt angehimmelt. Sam und ich schienen die Einzigen zu sein, die dem Charme der footballspielenden Neandertaler nicht erlagen.

Auch meine Freundin hatte die beiden auf dem anderen Weg ausgemacht. »Hast du schon den neuesten Klatsch über Connor Ward und Brianna Cunningham gehört?«

»Ehrlich gesagt, höre ich schon gar nicht mehr richtig hin. Ist doch immer das Gleiche bei denen: ständig irgendein künstliches Drama in ihrer On-Off-Beziehung. Wie oft haben die sich schon getrennt? Es ist ein Wunder, dass sie dabei den Überblick nicht verlieren.«

Sam kicherte. »Wahrscheinlich führen sie eine Strichliste, um abzuchecken, was wieder fällig ist.«

Heimlich linste ich zu den beiden Jungs hinüber und im selben Moment traf mich auch der Blick des überdurchschnittlich groß und kräftig gewachsenen, dunkelblonden Connors. Er dauerte nur einen Wimpernschlag und doch schaffte er es, in dieser Zeit und auf die Entfernung mich zu verblüffen. Ehrlich, nicht eine Farbtube in meinem Aquarellkasten könnte es mit dem außergewöhnlichen Blauton seiner Augen aufnehmen. Er war weder richtig blau noch grün und doch schien er irgendwie auch beides zu sein. Ein helles Türkis, ja, das war die Farbe seiner Augen.

Connor

Ich stieg gerade auf mein Skateboard und wollte mit meinem Freund Ethan zusammen nach Hause brettern, als ich hinter mir einen Ruf hörte.

»Hey, Connor, warte!«

Ich blieb stehen und sah mich um. Es war Benji, ein zehnjähriger Junge, den ich von unserem Skatepoint kannte.

»Mann, was will denn der kleine Krüppel jetzt schon wieder?«, maulte Ethan neben mir.

Ich ignorierte meinen Kumpel und grinste Benji freundlich entgegen. Er war wirklich noch ein bisschen klein für sein Alter, aber dafür umso entschlossener. Tapfer versuchte er, trotz eines zu kurz geratenen Beines mit dem Board so schnell wie möglich zu uns hinüberzuskaten und währenddessen noch ein paar neue Flips einzubauen, die ich ihn heute gelehrt hatte. Sie glückten ihm nur mittelmäßig und doch freute ich mich darüber, fühlte Stolz in mir aufsteigen.

»Hey, Connor«, hechelte er nochmals, als er mit einem wackligen Absprung vor unseren Füßen landete. Er schob sein zu lang geratenes Shirt hoch und angelte etwas aus seiner Hosentasche, das er mir eine Sekunde später in seiner ausgestreckten Hand hinhielt. »Hier, für dich. Mein Glücksstein«, sprach er und grinste schief.

Ethan drehte sich mit einem Stöhnen von uns fort und rollte auf seinem Board davon. Ich gab mir Mühe seinen Laut zu übertönen, um es dem Kleinen nicht noch peinlicher zu machen.

»Hey, das ist echt cool von dir, Benji. Aber du musst mir deinen Glücksstein nicht schenken. Ich brauche ihn nicht.«

Er grinste noch immer. »Doch, jeder braucht Glück. Ich will, dass du ihn nimmst. Du hast mir in den letzten Wochen unheimlich viel beigebracht und … Und ... du warst die erste Zeit nach unserem Umzug nach New Stamford mein einziger Freund hier.«

Nach dem gestammelten Satz konnte ich das Geschenk nicht mehr ablehnen und nahm ihm den erdbraunen Klumpen mit einem Nicken ab. Der Stein war kugelrund wie eine Murmel, hatte weiße ineinander verschlungene Linien und wog für seine geringe Größe überraschend schwer in meiner Hand.

»Er ist von meiner Grandma. Sie ist eine bekannte Schamanin und hat mir diesen besonderen Moqui geschenkt, weil er Glück bringt, und jetzt schenke ich ihn dir.«

Überrascht sah ich von dem ungewöhnlichen Stein auf. »Bist du dir sicher, dass du ihn hergeben willst?«

»Klar doch«, sprach Benji und lachte, dass seine dunkelbraunen Augen funkelten. »Dank dir habe ich hier jetzt viele Freunde gefunden. Sie halten mich für total cool und wollen von mir die Skatetricks lernen, die du mir beigebracht hast. Ich will, dass der Stein jetzt dir gehört. Er soll dir ebenso Glück bringen wie mir.«

»Das ist krass, Bro. Danke.« Ich umschloss den Glücksstein mit meiner Faust, die ich sacht auf seiner kleinen aufschlagen ließ.

»Nichts zu danken, Bro«, entgegnete der Kleine.

»Okay, dann mach´s gut, Benji«, verabschiedete ich mich von ihm, steckte den Stein in meine Hosentasche und skatete Ethan hinterher. Er hatte einen ziemlichen Vorsprung hingelegt, doch bald hatte ich ihn eingeholt.

»Mann, Alter« empfing mich mein Freund. »Nicht nur, dass deine Schnalle dich betrügt, jetzt gibst du dich auch noch mit verkrüppelten Indianerkindern ab.«

»Ey, du bist nicht nur ein Idiot, sondern obendrein ein rassistisches Arschloch. Also behalt in Zukunft solche Sprüche besser für dich, sonst vergesse ich, dass du mein bester Freund bist.«

»Selbst wenn ich mir die Sprüche verkneife, bist du trotzdem ein Weichei. Serviere Brianna endlich ab, Mann. Selbst die Jungs im Park reden schon darüber, dass sie dich mit Dylan betrogen hat. Nicht nur die von unserer Schule wissen Bescheid. Begreif es endlich!«

»Hör zu, Ethan, das geht niemanden etwas an - nicht mal dich«, grollte ich und nahm immer mehr Speed auf. Ich bretterte den geteerten Weg entlang und hörte plötzlich ein Lachen aus der Nähe. Es waren zwei Mädchen aus einer unteren Jahrgangsstufe, die auf einem anderen Pfad liefen, der sich mit unserem weiter vorn verbinden würde. Ich erkannte sie an ihren Frisuren. Während die eine einen roten Lockenkopf hatte, reichte der anderen ihre hellbraune Mähne bis zum Hintern. Letzte stach deswegen immer aus der Menge hervor. Auch wegen ihrer seltsamen Kleider, die verwaschen und voller Farbkleckse waren. Einerseits wirkte sie zwar cool, aber andererseits auch etwas abgerissen und irgendwie schmuddelig. Der Gedanke, dass ausgerechnet die beiden etwas von der Auseinandersetzung zwischen Ethan und mir mitbekamen und noch mehr Gerüchte über Brianna und mich verbreiten könnten, war mir zuwider. Aus diesem Grund raste ich weiter und hoffte, mit genügend Abstand zu ihnen ein unbelauschtes Gespräch führen zu können.

»Das ist eine Sache zwischen Brianna und mir. Es interessiert mich nicht, was andere glauben, zu wissen«, zischte ich Ethan leise zu.

Inzwischen hatte er auf seinem Board ebenso Stoff gegeben, um mit mir mithalten zu können. »Sollte es aber, als Kapitän der Footballmannschaft. Wenn du mit Brianna nicht Schluss machst oder Dylan eine aufs Maul haust, könnten die Jungs vom Team – ach, was rede ich, von der ganzen Schule – dich nicht mehr für voll nehmen. Du musst etwas tun, Alter!«, hackte er außer Atem nach.

Stinkwütend sah ich zu meinem Freund, der nun wieder neben mir fuhr. »Warum? Brianna hat mir geschworen, dass nichts zwischen ihr und Dylan gelaufen ist. Und das ist alles, was für mich zählt. Ich vertraue ihr und du solltest mir vertrauen. Du bist mein Freund und ich dachte, du stehst hinter mir.«

Wir verließen den Park und bogen nacheinander in unsere Straße ab, die in Queens lag, ein Viertel New Stamfords, in dem die Reichen und Mächtigen ihre protzigen Villen gebaut hatten.

»Mann, das ... das tue ich doch auch. Ich wollte nur … Versteh doch, nicht nur die Jungs vom Team, alle von der Schule schauen zu dir auf, aber nach der Sache mit Dylan … Echt, Mann, du solltest zeigen, dass ein Mädchen so nicht mit einem Kerl umgehen darf. Ich sag dir, wenn du nichts unternimmst, kommst du rüber wie ein Waschlappen und das wirst du früher oder später büßen. Willst du das etwa?«

Ich bremste mein Board hart aus. »Soll ich dir sagen, was ein Waschlappen ist? Ein Typ, der auf das Geschwätz dummer Leute hört und nicht auf das, was seine Freundin ihm erzählt. Nur ein Schisser zieht den Schwanz ein und steht nicht zu seinen Freunden, wenn es unbequem wird. Also komm mir nicht auf die Tour. Oder soll ich dich das nächste Mal auch hängen lassen und allen die Wahrheit erzählen, dass es keine Schlägerei auf einem Konzert war, sondern dein Dad, der dir wie schon so oft das Gesicht blau und grün poliert hat?«

Beschämt kam Ethan neben mir zum Stehen und wich meinem drohenden Blick aus. »Nein, Mann. Tut mir leid, du hast ja recht. Ich … ähm …«

Ethan wirkte auf einmal total niedergeschlagen. Ich begann mir Sorgen zu machen, weil ich ihn noch nie zuvor so erlebt hatte. Aber gerade als ich ihn fragen wollte, ob er mir was Wichtiges zu sagen habe, winkte er ab. »Ach, vergiss es. Wir sehen uns dann morgen früh.«

Da es mehr wie eine Frage klang, nickte ich. Mit hängenden Schultern fuhr Ethan in die nächste Auffahrt und auf das Haus seiner Eltern zu. Ich skatete noch ein Stück weiter die Straße bergauf. Ein paar Minuten später betrat ich die große Eingangshalle von meinem Zuhause. Dad stieg gerade in einem Smoking die Treppe herunter, als ich die Tür hinter mir schloss.

»Aha, da bist du ja endlich. Solltest du nicht besser lernen, als mit dem Skateboard in der Gegend herumzufahren? Schließlich willst du nach Harvard und nur ein guter Quarterback zu sein, selbst mit einem Sportstipendium in der Tasche, reicht nun mal nicht aus, um ein Spitzenanwalt zu werden.«

»Ja, Dad«, ächzte ich und hoffte, seiner Predigt zu entkommen.

»Junge, was ist? Glaubst du, ich hätte all das hier geschenkt bekommen?« In einer Bewegung breitete er die Arme aus, als präsentiere er mir zum ersten Mal seinen Besitz. Dabei war das seine liebste Geste, wenn er mir diese selbstherrlichen Reden hielt. »Dafür musste ich hart arbeiten. Um die Kanzlei deines Großvaters übernehmen zu dürfen, verlangte mein Vater von mir, besser als alle seine Partner zu sein. Nur aus diesem Grund blieb der Name Ward der erste auf dem goldenen Türschild. Und das ist er bis heute, weil ich jeden Tag aufs Neue beweise, dass ich es verdiene, an erster Stelle zu stehen. Selbst heute Abend, wo andere ihren Feierabend mit einem Drink genießen, gehe ich mit deiner Mutter zu einem Geschäftsessen. Wenn du diese Kanzlei führen und deinen derzeitigen Lebensstandard halten willst, musst du mehr als hundert Prozent geben, Junge.«

Während mein Vater die letzte Stufe erreichte, wollte ich mich die Treppe aufwärts an ihm vorbeidrängen. Doch er packte mein Handgelenk und hielt mich auf.

»Connor, es ist nur zu deinem Besten. Das weißt du doch, oder? Auch wenn wir dich die Community Highschool von New Stamford besuchen lassen, weil wir unsere Wurzeln in dieser Gemeinde respektieren, musst du dich danach dennoch für eine der führenden Universitäten des Landes qualifizieren. Um beruflich anerkannt und erfolgreich zu werden, führt daran kein Weg vorbei.«

Groß, schlank und dank seiner morgendlichen Trainingseinheiten noch immer mit einer sportlichen Figur gesegnet stand mein fünfzigjähriger Vater vor mir. Seine dunkelblonden Haare, die ich von ihm geerbt hatte und von denen kein einziges an einem falschen Ort lag, waren zwar von silbernen Fäden durchzogen, doch nach wie vor entsprach sein gesamtes Wesen genau jenem Ideal, das er sein wollte, worauf er sein Leben ausgerichtet hatte: das des smarten, erfolgreichen Anwalts. Das Schlimme war, dass er glaubte, ich wolle genauso wie er werden. Obwohl ich ihm gegenüber nie diesen Wunsch geäußert hatte, setzte er ihn voraus. Sicherlich wollte ich gerne ein vermögendes, angesehenes Gemeindemitglied werden und den Namen Ward weiterhin in Ehren halten, wie er und auch sein Vater es getan hatten. Aber wollte ich ebenso dem Erfolg und der stetigen Anerkennung hinterherhecheln? Sollte in meinem Leben wie in seinem nur Macht und Reichtum zählen? Die Gesellschaft maß einen Mann daran. Aber gab es nicht noch mehr im Leben? Oder war das wirklich alles, auf was es hinauslaufen würde? Hatte man nur Freunde, um zu Macht und Ansehen zu erlangen, oder bekam man gar nur welche, wenn man wenigstens eins davon besaß? Wären Ethan und Brianna auch dann noch meine engsten Freunde, wenn ich nicht mehr der erfolgreiche Quarterback der Stamford High und der Sohn eines geachteten Anwalts wäre? Ich wollte darüber gar nicht weiter nachdenken. Um mich schnellsten von meinem Dad und seinen endlosen Motivierungssprüchen loszueisen, sagte ich das, was er hören wollte.

 

»Ja, schon gut, Dad. Ich habe es verstanden. Ich strenge mich an, versprochen.«

»Guter Junge.« Strahlend ließ er meinen Arm los und klopfte mir auf die Schulter, was für mich das Zeichen zum Abgang war.

Schnell stieg ich die Treppe hinauf, um mich in meinem Zimmer verkrümeln zu können. Kaum hatte ich jedoch einen Schritt in den Flur gemacht, tauchte Mom auf. Sie verließ gerade ihr Schlafzimmer und war, wie ich es nach Dads Ansage erwartet hatte, bis in die Haarspitzen aufgedonnert. Natürlich trug sie ihre blondierten Wellen hollywoodmäßig perfekt gestylt und hatte ihre Tageskleidung, die gewöhnlich aus Bluse und Hose bestand, gegen ein langes Abendkleid eingetauscht. Sie war fünf Jahre jünger als mein Vater und dennoch genau das weibliche Gegenstück zu ihm. Kontinuierlich verfolgte sie das Ziel, die modische, gepflegte Anwaltsfrau zu sein, die ihren Mann tatkräftig unterstützte und sich nebenbei noch in der Gemeinde engagierte. So saß sie nicht nur im Kirchengemeinderat, sondern führte auch den Frauenverein von New Stamford an und mischte bei zahlreichen Projekten für Hilfsbedürftige mit. Jeden Morgen aß sie ihre Ananas und zog anschließend ihr Yogaprogramm durch, um ihre schlanke Figur zu erhalten und fit zu bleiben. Mom und Dad glichen sich sowohl in ihren Ansichten als auch in ihren Erwartungen, sodass es schon unheimlich war. Zugegeben, andernfalls hätten sie es wohl auf Dauer auch nicht miteinander ausgehalten.

»Connor« flötete sie und ihre rot geschminkten Lippen bildeten ein zufriedenes Lächeln. »Briannas Mutter hat mich angerufen und mir erzählt, dass ihr euch wieder vertragen habt. Gute Entscheidung! Du solltest sie dir wirklich warmhalten und nicht die Zeit mit anderen Mädchen vergeuden. Brianna wird sicherlich genau diese Art von Frau, die du später an deiner Seite haben möchtest: Wohlerzogen, elegant und klug.«

Überrascht runzelte ich die Stirn. »Ich vergeude die Zeit mit anderen Mädchen? Hat Brianna das erzählt?«

Die schmal gezupften und nachgefärbten Brauen meiner Mutter hoben sich zu eleganten Bögen. »Sie sagte, du hättest anderen mehr Aufmerksamkeit geschenkt und sie hätte sich dadurch vernachlässigt gefühlt. Erst als sie sich einem anderen Jungen zugewandt hatte, hättest du wieder Interesse an ihr gezeigt.«

Ich brummte leise vor mich hin. War ja klar, dass Brianna unseren Streit auf diese Tour unseren Müttern verklickerte und ich dabei schlechter als sie wegkam. Aber damit musste ich wohl leben. Wenn ich Brianna, das hübscheste und begehrteste Mädchen der Highschool, als Freundin behalten wollte, musste ich mich auch bei ihr ins Zeug legen.

Ich zwang mich zu einem Grinsen. »Hab es kapiert, Mom. Keine anderen Mädchen.«

Meine Mutter lächelte stolz. »So ist es recht, mein Schatz. Ich denke, Brianna passt nämlich wunderbar in unsere Familie. Findest du das nicht auch? Eine Verbindung zwischen den Wards und den Cunninghams wäre doch eine Sensation in New Stamford. Du als Sohn des erfolgreichsten Anwalts des Orts und Brianna als Tochter des Bürgermeisters, die Hochzeit wäre ein Traum.«

Eine ätzende Hitzewelle kroch mir den Nacken hoch und das Strahlen meiner Mutter wurde mir nahezu gruselig. »Mom, ich denke, um über eine Hochzeit zu reden, ist es noch zu früh. Viel zu früh.«

Sie legte mir ihre kühlen Finger auf die Wange. »Ja, ja natürlich. Nichtsdestotrotz sollte man früh genug wissen, was man will, und darum kämpfen. Vergiss das nicht.«

Die Motivation, noch länger breit zu grinsen, ging mir aus. Ich wollte nur noch weg. Hastig nickte ich ihr zu. »Sicher. Hab einen schönen Abend, Mom, und amüsiere dich.« Ganz der brave Sohn hauchte ich ihr einen Kuss auf die Wange und eilte, ohne mich nochmals nach ihr umzusehen, in mein Zimmer.

Ich schloss die Tür, pfefferte mein Board ins Eck und warf mich rücklings auf mein Bett. Einen tiefen Atemzug später trieb mich das Gefühl zu ersticken wieder in die Höhe. Ich hielt es in diesen vier Wänden nicht länger aus. Es schien, als kämen sie näher und näher, als schrumpfte der Raum vor meine Augen. Die Luft zum Atmen wurde immer weniger. Panisch verharrte ich auf dem Bett sitzend. Einerseits wollte ich davonrennen. Andererseits hatte ich jedoch Angst, erneut meinen Eltern in die Hände zu laufen. Hatten sie endlich das Haus verlassen? Ich lauschte. Ihre Stimmen hallten leise zu mir hinauf und kurz darauf das Verschließen der Haustür.

Wie der Blitz stürmte ich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle und aus dem Haus.

Ich rannte und rannte, genoss die Luft in meinen Lungen, die sich endlich wieder weiteten. Jetzt war ich frei. Endlich frei. Ohne darüber nachzudenken, joggte ich die Straße weiter bergauf, bis ich meinen Lieblingsplatz erreicht hatte – Longshaw Peak. Ein mit riesigen Steinbrocken abgesicherter Fußweg führte an dem Abhang entlang bis zu einem höhergelegenen, kleinen Wald auf der linken Seite. Atemlos kletterte ich einen der kantigen Felsen hinauf und ließ mich an dem Rand nieder. Meine Füße baumelten in der Luft und ich versank im Anblick des rotglühenden Sonnenuntergangs. Gelassenheit stieg allmählich in mir auf. Ich lauschte dem Abendgezwitscher der Vögel, die in den unzähligen hohen Bäumen unter mir ihre Nester gebaut hatten. Das älteste Viertel von New Stamford, welches den Namen Bakersbridge trug, ruhte unterhalb des Hangs. Mit seinen kleinen abgewohnten Häusern und den überwucherten Gärten wirkte es wie aus einem antiken Bilderbuch. Die Menschen, die dort wohnten, gehörten nicht zu den Vermögenden der Gemeinde, das wusste jeder. Und doch schien es, dort friedlicher als in meinem Viertel zu sein, wo die Häuser so viele Zimmer hatten, dass man sich in ihnen verlief, wo die Gärten großen, seelenlosen Golfplätzen glichen. Auch wenn um die alten, kleinen Häuser Unkraut wucherte, die Bäume und Sträucher ohne Gärtner ins Unendliche wuchsen, schienen diese Heime mit Wärme und Geborgenheit gefüllt zu sein. Dort unten gab es keine kalten Paläste aus Glas, Beton und Edelstahl, die mit ihrer Sterilität jegliches Gefühl von einem Zuhause vernichteten. War das wirklich so? Waren diese Menschen dort unten glücklich – glücklicher als ich?

Nachdenklich zerrte ich Benjis Glücksstein aus meiner Tasche und betrachtete ihn. Schwer und rund lag der murmelartige Stein in meiner Hand. Gedankenverloren fuhr ich mit meiner Fingerkuppe über die weißen Linien, die ihn zierten.

Ich hatte doch alles, was sich ein Kerl meines Alters wünschen konnte, und doch spürte ich eine Leere in mir, wo keine sein sollte. Meine Eltern erfüllten mir jeden Wunsch, ich konnte so viel Geld ausgeben, wie ich wollte. Ich sah gut aus, war gesund und sportlich. Jeder in der Schule wollte mein Freund sein. Wenn ich es darauf anlegen würde, könnte ich jedes Mädchen haben. Selbst bei den Lehrern war ich angesehen. Ich war der beste, begabteste und beliebteste Footballspieler der Stadt. Kurz gesagt, es gab keinerlei Grund, weshalb ich nicht glücklich sein sollte. Vielleicht erwartete ich zu viel vom Leben? Vielleicht war ich bloß ein verwöhnter, undankbarer Sohn reicher Eltern? Was stimmte bloß nicht mit mir? Was war mit mir nur los?

Voller verzweifelter Wut umschloss ich den Stein und in einem Impuls schleuderte ich ihn mit einem Schrei von mir fort. Ein gutes Stück seiner Flugbahn konnte ich noch verfolgen, aber dann verlor ich ihn aus den Augen. Er ging in dem Mosaik aus Häusern und Bäumen unter.

Niedergeschlagen, als hätte mich der Wurf unendliche Kraft gekostet, erhob ich mich. Ich sprang von den Felsen auf den Weg hinunter, doch gerade als meine Füße aufsetzten, gaben meine Beine nach. Es wurde schwarz um mich. Ich glaubte, mein Bewusstsein zu verlieren, wie auch mein vermeintliches Glück.