Kreuz Teufels Luder

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Kreuz Teufels Luder
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Evelyna Kottmann

Kreuz Teufels Luder

Limmat Verlag

Zürich

Die Autorin

Evelyna Kottmann, 1961 in der Schweiz geboren. Schauspielerin, Clownin, Psychodramatikerin und Leiterin Themenzen­triertes Theater, legt mit «Kreuz Teufels Luder» ihr erstes, autobiografisch geprägtes Buch vor.

Eins
Adam und Lilith

Lilith war Adams erste Frau. Adam hatte Lilith geheiratet, weil er es müde geworden war, sich mit Tieren zu paaren. Sodomie war unter den Hirten des Mittleren Ostens eine gebräuchliche Sitte, auch wenn das Alte Testament sie als Sünde bezeichnete. Adam zwang Lilith, in der Missionarsstellung unter ihr zu liegen. «Verflucht sei der Mann, der die Frau zum Himmel und sich selbst zur Erde macht», sagte er zu Lilith. Katholische Autoritäten behaupteten später, jede andere Stellung als diese sei Sünde. Lilith verhöhnte Adams Grobheit, verfluchte ihn, floh und liess sich am Roten Meer nieder. Dort versuchten enthaltsame Mönche vergeblich, Lilith abzuwehren, indem sie im Schlaf ein Kruzifix umklammerten und die Hände gekreuzt über ihre Genitalien legten. Es hiess, dass Lilith jedes Mal lachte, wenn ein frommer Christ einen feuchten Traum hatte. Da Gott Lilith nun nicht mehr zu Adam zurückführen konnte, sah er sich gezwungen, als einen zahmen Ersatz für Lilith Eva zu erschaffen.

Lilith

So gesehen trug Lilith den richtigen Namen. Sie kam 1935 an der Schweizergrenze zur Welt. Sie war das einzige Kind einer fahrenden Sippe. Bis sie zehn Jahre alt war, lebte Lilith mit ihrer Mutter mal da, mal dort, an keinem fes­ten Ort. Aus der Sippe konnte nur ausgeschlossen werden, wer sich in einen Sesshaften verliebte, der nicht bereit war zu fahren. Oder wer sich der Prostitution zuwandte, wie es Liliths Mutter tat.

Liliths Mutter prostituierte sich, um überleben zu können. Über ihren Vater wusste Lilith gar nichts. Sie hatte nie ein fes­tes Zuhause gehabt und kaum Kontakte zu anderen Kindern. Für Lilith gab es auf dieser Welt nur die Mutter und viele verschiedene Männer, die da, wo sie gerade zu überleben versuchten, ein und aus gingen.

Lilith ging kaum in die Schule, sie konnte weder schreiben noch lesen. Als sie in die Pubertät kam, wurde Lilith von ihrer Mutter getrennt und in eine Anstalt gebracht. Das Leben dort war für Lilith ein Gräuel. Dann begegnete sie einem Mann, verliebte sich vielleicht in ihn und wurde selber Mutter. Der Mann hiess Jakob.

Jakob

Jakob erblickte das Licht der Welt 1931 zusammen mit seinem Zwillingsbruder. Er, Jakob, war der Zweitgeborene. Sie kamen aus einem Ei und sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Jakob hatte bereits einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Eine jüngere Schwester kam später dazu. Jakobs Familie war jüdisch und den Traditionen stark verhaftet. Sie waren arme Juden und kamen mehr schlecht als recht über die Runden. Der Vater und die Mutter hatten nicht mit einer Zwillingsgeburt gerechnet, so wie sie auch nicht damit gerechnet hatten, nach den Zwillingen nochmals ein Kind zu bekommen.

Jakob durfte keine Lehre machen, denn die Eltern konnten sich zwei Lehrlinge nicht leisten. Also überliess er seinem Zwillingsbruder das Privileg, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Jakob entdeckte schon früh den Alkohol für sich und machte ihn zu seinem Begleiter. Zusammen mit ihm konnte er so manches, was ihm schwerfiel, leichter nehmen. Jakob liebte es, in seiner eigenen Welt zu leben, die mit wenigen Worten auskam. «Ja», «nein» und «wie geht’s?» genügten ihm. Schon als junger Mann benötigte er ein Hörgerät, das er jedoch kaum benutzte. Was er aber gut hören wollte, das waren die Guuggen. Die Fasnacht war seine liebste Zeit, sie war ihm heilig, und er verpasste sie nie.

Jakob wurde Vater von vier Kindern, sein Zwillingsbruder hatte nur eines. Jakob arbeitete als Tagelöhner, sein Zwillingsbruder brachte es zu einem eigenen Geschäft und einer Villa. Zu seinen Geschwistern und seinem Vater hatte Jakob ein distanziertes Verhältnis, aber an der Mutter hing er sehr. In der Familie wurde er mehr geduldet als respektiert. Jakob war ein Eigenbrötler, der sich niemals wohlfühlte und nirgends zu Hause war, weil seine Welt das nicht zuliess.

Lilith und Jakob

Es war laut, und die Guuggen gaben ihr Bestes, um den Raum mit ihrer Musik zu füllen. Er war voller lebhafter, bunter Gestalten, kaum mehr als Menschen zu erkennen. Die Luft war stickig, der blaue Dunst mit den Händen greifbar. So bunt wie die Menschen hingen Ballons von der Decke und farbige Bänder. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge, in denen die Nase jeden erdenklichen Geruch hätte finden können, wäre man ganz nüchtern gewesen. Die ausgelassene Stimmung war dem Alkohol zu verdanken. Durch die laute Musik drangen menschliche Geräusche, die aber keine Worte ergaben. Die Sprache war in dieser Nacht nicht wichtig für die Frauen und Männer. Ihre Ausdünstungen wurden von Stunde zu Stunde prägnanter, die lieblich zarten Parfümdüfte der Frauen übertüncht vom Schweissgeruch und der Lust auf das andere Geschlecht. In dieser Nacht ging es nicht darum, zu ge­fallen, es ging darum, übereinander herzufallen. Die wenigen Toiletten, die zur Verfügung standen, blieben schwer besetzt.

Auch Jakob und Lilith waren mitten in dieser Gesellschaft. Lilith und Jakob waren die Einzigen, die sich nicht verkleidet hatten. Sie kamen daher, wie sonst auch, und sie fielen auf, wie sonst auch. Sie, Lilith, mit ihrer ausgesprochenen Schönheit, und er, Jakob, in seinem eigenartigen Aufzug. Jakob, der Schüchterne, der ohne Alkohol kaum seinen Mund aufmachen konnte, ging auf die schöne Lilith zu, in der Hand ein Glas Bier. Lilith, die keine Berührungsangst kannte und, hatte sie einmal genug getrunken, auch keine Grenzen, strahlte Jakob entge­gen, als hätte sie schon eine Ewigkeit auf ihn gewartet.

Beide waren gut angeheitert und taten so, als würden sie sich schon lange kennen. Lilith bezirzte Jakob mit ihren weib­lichen Reizen und hatte so wieder einen Mann mehr, der ihre Getränke bezahlte. Jakob genoss es, von einer schönen Frau umworben zu werden, und zahlte und zahlte. Er war einfach glücklich, obwohl er nicht so recht wusste, was diese schöne Frau wollte.

Lilith und Jakob tranken um die Wette, denn Lilith behauptete, sie vertrage mehr als jeder andere Mensch auf der Welt. Das gefiel Jakob sehr, dass eine Frau gerne trank und Wetten abschloss. Er kannte das nur von seinen Kumpeln. Lilith hatte langes, blondes, gewelltes Haar, stahlblaue Augen und einen rosa Mund. Jakob hatte das Gefühl, gegen einen Engel anzutrinken. Er sagte, ihr fehlten nur noch die Flügel und er wolle mit ihr weit wegfliegen. Das gefiel Lilith, und sie tanzten, tranken und kamen sich in dieser Nacht ganz nahe. Dass sie die allerletzten Gäste waren, die der Wirt hinausbefördern musste, war Jakob und Lilith einerlei.

Lilith und dieser Wirt mussten sich kennen, denn der Mann hatte für Lilith auf seine Kosten ein Taxi bestellt. Das gefiel Jakob nicht, denn er hatte Lilith in dieser Nacht zu seiner Frau gemacht. Und was Jakob sein Eigen nannte, das gab er nicht so schnell aus der Hand. Die beiden Männer begannen zu streiten und prügelten sich. Jakob sagte, er könne selber ein Taxi bezahlen und werde mit Lilith zusammen fahren. Das war nun wieder dem anderen Mann gar nicht recht. Sie schlugen sich so heftig, bis sie beide bluteten, und so lange, bis Jakob reglos am Boden lag. Lilith versuchte, ihn zum Aufstehen zu bewegen, und meinte, es mit ein paar Ohrfeigen zu schaffen. Sie, die sich nicht eingemischt und es genossen hatte, dass sich die Männer um ihretwillen schlugen, geriet nun in Rage. Sie tobte und schlug um sich, weil Jakob von ihren Ohrfeigen nicht wach wurde. Sie lachte und weinte gleichzeitig.

Jakob wachte erst im Spital wieder auf. Neben ihm auf einem Stuhl sass lächelnd seine Lilith, und als sie bemerkte, dass er ­aufgewacht war, begann sie zu weinen und entschuldigte sich immer wieder. «Du bist wirklich ein Engel», sagte Jakob mit schwacher Stimme. Liliths Augen fingen bei diesen Worten an zu leuchten wie zwei Sterne in pechschwarzer Nacht. Das brachte sein Herz zum Rasen. Lilith nahm Jakobs Hand in ihre Hände, die ganz warm waren und feucht. Sie liessen einander nicht mehr los, bis Jakobs Eltern das Krankenzimmer betraten.

Jakob zuckte zusammen und riss seine Hand von ihr los. Seine Augen wurden matt, und sein Herz stand fast still. Sein Bauch fing Feuer, und sein Körper verkrampfte sich. Lilith konnte sein Verhalten nicht deuten, ihre Augen leuchteten weiter, und sie versuchte vergeblich, wieder seine Hand zu nehmen. Liliths Lächeln galt auch seinen Eltern, in deren ­Augen sie aber nur Wut sah. Sie befahlen Jakob, Lilith aus dem Zimmer zu weisen, was er ohne Widerrede tat. Doch Lilith überging Jakobs Bitte, denn sie sah keinen Anlass dazu. Nochmals bat Jakob sie, das Zimmer zu verlassen. Da kam Lilith ihr Trotz in die Quere. Sie setzte sich auf Jakobs Krankenbett und lächelte seinen Eltern entgegen. Als Antwort darauf versuchte Jakob, sie von seinem Bett hinunterzuschieben. Doch Lilith hatte ein gutes Gleichgewicht in der Hüfte, und ihm fehlte die Kraft.

Jakobs Eltern redeten auf ihn ein, ihnen diese Frau aus den Augen zu schaffen, sonst würden sie das Personal verständigen. Diese Drohung liess Lilith nun doch begreifen, dass sie gehen musste. Sie verliess das Krankenzimmer mit einem bösen Lächeln auf dem Gesicht, das Jakobs Eltern galt. Vorher küsste sie Jakob aber noch auf den Mund. Sie wollte seinen Eltern zeigen, dass dieser Mann nun ihr gehörte. Als sie den Eltern auch noch die Hand zur Verabschiedung reichte, schlüpften deren Hände rasch in die Taschen, und ihre Blicke waren voller Abscheu.

 

Als sein Engel aus dem Zimmer war, lag Jakob blass und leblos im Krankenbett. Er nahm das schwere Atmen seiner Eltern wahr. Er lauschte der eindringlichen, harten Stimme seines Vaters, ohne seinen Worten jedoch zu folgen. Er konnte und wollte sie nicht hören, er war für den Vater nicht erreichbar. Seine Eltern wollten ihn in ihre Welt zurückholen, eine Welt voller Regeln, ohne Lust und Genuss, nur beseelt von lauter Ritualen. Aus dieser Welt wollte Jakob ausbrechen, um sich selbst zu erfahren und zu erleben. In der Welt seiner Eltern war für ihn kein Platz.

Nun versuchte die Mutter, auf ihn Einfluss zu nehmen. Auf sie hatte er bisher immer gehört. Doch Jakob hörte einfach nicht hin. Er sah seine Mutter nicht einmal an, was sie von ihrem Jakob überhaupt nicht kannte. Die Eltern verliessen das Zimmer schliesslich mit einem durchdringenden «Schalom!». Sie vergassen dabei, dieses Schalom auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen.

Jakob war froh, wieder allein zu sein. Mit dem Biertrinken war es aussichtslos, da er das Bett nicht verlassen konnte. Auch sein trinkender Engel erschien nicht mehr. Er sehnte sich sehr nach Lilith, und je mehr er sich nach ihr sehnte, desto unruhiger wurde er. Sie musste kommen, denn er hatte sie in der Fasnachtsnacht doch zu seiner Frau gemacht. Dieses Weib sollte ihm dankbar sein, dachte er, und sich jetzt um ihn kümmern, wo er doch nur ihretwegen ans Bett gefesselt war. Jakob wusste, dass Lilith ihn verhext hatte und ihn nicht mehr loslassen würde. Er wusste, dass er ihr verfallen war. Seine Sehnsucht war zügellos, und ihn dürstete ebenso sehr nach seinem Engel Lilith wie nach Bier.

Jakob wusste nichts über Lilith, weder wo sie lebte noch was sie machte. Er kannte nicht einmal ihren vollen Namen. Er kannte nur ihre Augen, ihr langes, gewelltes, blondes Haar und ihre verschiedenen Körperdüfte, die ihm noch immer in der Nase hingen. Auch an ihre Hände und Füsse erinnerte er sich genau, an ihre Zartheit und die knallrot lackierten Nägel. Ihr rosaroter Lippenstift wollte nicht recht zum roten Nagellack passen. Jakob stellte sich Lilith mit rotem Lippenstift vor, was ihn noch viel unruhiger machte.

Jakob verbrachte eine ganze Weile im Spital, ohne dass Lilith sich wieder sehen liess. Seine Sehnsucht wurde immer grösser, und er hätte diesen Schmerz, den er im Herzen spürte, am liebsten mit Alkohol betäubt. Ihm war klar, dass ein Familienrat einberufen werden würde, sobald er wieder daheim bei den Eltern war. Es konnte und durfte nicht sein, dass ein Familienmitglied auf Abwege geriet.

Der Familienrat versammelte sich beim Sabbatessen, gemein­sam mit einem Rabbiner. Mit den Vorbereitungen hatte Jakobs Mutter einen ganzen Tag lang zu tun. Jakobs kleine Schwester half ihr dabei, die grosse brachte am Abend selbst gebackenen Zopf mit. Jakobs grosse Schwester hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Mann geheiratet, der dem Klosterleben untreu geworden war und sich den irdischen Freuden zugewandt hatte. Er verliebte sich noch als Mönch in Jakobs Schwester. Sie war ihrem Zukünftigen in Rom auf dem Petersplatz begegnet. Man kam ins Gespräch und genoss gemeinsam die heissen römischen Nächte. Von der Reise kehrte die junge Frau guter Hoffnung zurück, zum Entsetzen der Familie.

Auch da war der Rabbi eine grosse Hilfe gewesen. Er brachte den Mönch so weit, dass er die junge Frau heiratete, seinem katholischen Glauben abschwor und sich dem Judentum anschloss. Auch seine Schwester kam in den Genuss eines Familienrats und fand so den rechten Weg, wie ihn die Eltern eben haben wollten.

Jakob wusste, dass er dem Familienrat nicht entkommen konnte. Er wusste, dass dieser Sabbat für ihn grausam werden würde, da es am Sabbat kaum Alkohol gab. Die eine Flasche Wein, die erlaubt war, musste er mit dem Rabbi, dem Vater, der Mutter, dem grossen Bruder, dem Schwager und mit seinem Zwillingsbruder teilen. Die Schwestern tranken nur Traubensaft. Dieser Abend würde sehr lang werden. Und so schlich er, wie so oft, am Nachmittag in eine Kneipe und trank so einiges zusammen, damit ihm die ganze Welt nicht mehr so ungerecht vorkam. Nur so konnte er zufrieden nach Hause gehen, ohne befürchten zu müssen, an dem Abend zu verdursten. Zur Freude seiner Familie kam er pünktlich zum Sabbatbeginn heim.

Jakob war sehr betrunken und ertrug die Gesellschaft und das Familienritual geduldig, er konnte zuhören und sogar selbst ein paar Worte beitragen. Nach dem Nachtisch ergriff dann der Vater das Wort, und seine Frau stand ihm dabei zur Seite. Den Blick zum Boden gewandt, hörte Jakob still zu. Es kam ihm vor, als plätschere ein Wasserfall. Jakob liess sie gewähren, und bald redeten alle durcheinander. Bis der Rabbi zu sprechen begann.

Er hatte sich auf die Suche gemacht nach dieser Lilith und sie auch gefunden. Diese Frau sei nicht ehrbar, und es dürfe nicht sein, dass Jakob sie noch einmal treffe. Man beschwor ihn, an die Familie zu denken und ihre Ehre zu bewahren. Man wolle nicht zum Gespräch anderer Leute werden. Der Rabbi schlug Jakob vor, eine ehrbare Frau für ihn zu suchen, eine, die das Judentum lebte und den Glauben pflegte. Vater und Mutter waren damit sehr einverstanden. Alle wussten, an welche Frau der Rabbi dachte, doch ihren Namen sprach niemand aus.

Jakobs Mutter meinte, eine solche Frau könne ihm geben, was er brauche, und ihn vor Schlechtigkeit bewahren. So bleibe er im Familienverbund eingebettet und gewinne Stabilität, denn alleine könne er sich nicht zurechtfinden in dieser Welt. Jakob hörte zu und sah gleichzeitig Lilith vor sich, im weissen Kleid mit rotem Lippenstift und roten Nägeln, einen Blumenkranz im gelockten, blonden Haar. Beim Gedanken an sie lächelte Jakob, und alle meinten, sein Lächeln gelte den Worten des Rabbi.

Für Jakob war Lilith eine ehrbare Frau und diejenige, die er für sein ganzes Leben haben wollte. Er verstand nicht, warum man ihn von ihr fernhalten wollte. Jakob wollte wissen, wo Lilith denn wohne. Da der Rabbi über sie nachgeforscht hatte, musste er doch mehr erfahren haben als nur, dass sie unehrbar sei. Der sonst so schweigsame Jakob begann, den Rabbi auszupressen wie eine süsse, überreife Grapefruit. Weil der Rabbi dachte, Jakobs Lächeln habe ihm gegolten, entschied er, ihm alles zu erzählen, was er über Lilith in Erfahrung gebracht hatte.

Alle sassen noch immer um den grossen Tisch mit dem frisch bestückten Kerzenständer. Die Deckenlampe wurde gelöscht, damit das Kerzenlicht noch mehr zum Leuchten kam. Jakob gefiel es, in die kleinen Flammen zu schauen. Sie flackerten sanft und kaum merklich. Doch wenn er sich auf sie konzentrierte, erkannte er ihren Tanz. Ihm wurde ganz warm im Herzen, und er konnte Liliths Duft riechen.

Der Rabbi erzählte von einer älteren Frau, die am Stadtrand mit ihrer Tochter in einem kleinen Häuschen wohnte, neben dem ein Wohnwagen stand. Das bescheidene Häuschen bot den beiden Frauen nicht allzu viel Raum. Es gab kein heisses Wasser und keine richtige Küche. Es gab auch keine richtige Toilette. Waschen musste man sich in der Küche in einem Becken, das man auch für das Geschirr und die Wäsche benutzte. Es gab so etwas wie eine Wohnstube mit einem kleinen Holzofen darin. Hinter einem rosaroten, mit Blumen bestickten Vorhang war ein winziger Raum, in dem ein grosses Bett stand. Es war ein Bett für Eheleute, doch es war so, dass Mutter und Tochter es sich zum Schlafen teilten. Ausser dem Bett war in dem Raum nur gerade noch Platz für ein grosses Bild der Muttergottes in blauem Schleier und weissem Kleid, ein rotes Herz auf der Brust und auf dem Kopf einen übergrossen, goldenen Kranz.

Jakob gefiel, was der Rabbi zu erzählen wusste. Seine Fanta­sie erwachte, und er stellte sich vor, wie er mit Lilith in diesem Bett lag und wie die Muttergottes mit rotem Herz und lieblichem Blick auf sie beide herunterschaute.

Der Rabbi berichtete, das Zimmer an diesem erbärmlichen Ort sei durchschnittlich sauber gewesen. Die Wäsche der Frauen habe verstreut auf dem Wohnzimmerboden gelegen, alles durch- und übereinander, doch habe die Wäsche trotz Unordnung nicht schlecht gerochen. Alle Schuhe seien in Reih und Glied gestanden, sauber geputzt und in vollem Glanz, jedoch alle mit hohen, spitzen Absätzen. Diese Schuhe waren pink, rot, himmelblau und schwarz. Dem Rabbi hatten sie einen besonderen Eindruck gemacht. Auf dem Tisch war laut dem Rabbi das reinste Chaos von Flaschen, Tellern, Tassen und Gläsern, halb voll mit Flüssigkeiten, die sich nicht zuordnen liessen. Der Raum roch nach Rauch, die Aschenbecher waren randvoll. Neben dem Ofen lagen Zeitschriften und Zeitungen, die nicht aussahen, als hätte man sie gelesen. An dem Ort, den die Frauen ihre Küche nannten, lagen Lippenstifte und Schminke.

In Jakobs Ohren erzählte der Rabbi aus einer Wundertüte. Dieser Ort, wo seine Herzensdame wohnte, schien ihm höchst reizvoll zu sein. Er musste ihn mit eigenen Augen sehen, denn er wusste, dass der Rabbi gerne Geschichten erzählte und so einiges auszuschmücken pflegte. Solch eine Unordnung, wie er sie geschildert hatte, konnte bei einer so schönen Frau mit solch bunten, spitzen Schuhen doch nicht herrschen. Jakob unterbrach den Rabbi mit der Frage, was es denn mit dem Wohnwagen beim Haus auf sich habe. Aber Jakobs Eltern wollten nicht, dass man auch noch über den Wohnwagen redete. Ihnen war das Häuschen wohl schon genug, um zu wissen, mit wem ihr Sohn es zu tun gehabt hatte.

Der Rabbiner jedoch fand, Jakob sollte wissen, dass der Wohnwagen den beiden Frauen als Arbeitsort diene. Aber Jakob verstand das nicht so recht. Der Rabbi erklärte weiter, die ältere Frau sei für ihre Liebesdienste bekannt. Und da Jakob ein junger Mann war und auch als Tagträumer nicht ganz weltfremd, sagte er: «Eine Hure!» Die Familienrunde erschrak ob diesem Wort, wie konnte der junge Jakob es nur laut aussprechen. Man war betreten und schaute beschämt zu Boden. Jakob kam es vor, als atme keiner mehr am Tisch. Was er mit diesem Wort bewirkt hatte, gefiel ihm. Für einmal hatte nicht er sich verkrampft, sondern alle anderen.

Plötzlich aber schoss es ihm durch den Kopf, dass laut der Geschichte des Rabbi auch Lilith eine Hure sein musste. Bei diesem Gedanken begann das Bild der schönen Blonden mit den roten Lippen und Nägeln zu bröckeln. Der Gedanke an Lilith durchbohrte sein Herz wie ein Schwert. Jakob begann zu weinen. Er glaubte, sterben zu müssen, sollte Lilith eine Hure sein. Der Rabbi und die Eltern meinten, nun hätte Jakob seine Lektion gelernt.

Jakobs Vater sprach mit dem Rabbiner ein Gebet, und kurz darauf verliess dieser das Haus. Jakob verzog sich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Als alles ganz dunkel und ruhig war, schlich er sich in die Nacht hinaus, um in der Stadt das Abenteuer zu suchen. Er lief dorthin, wo er Lilith getroffen und die Schlägerei stattgefunden hatte, und trank ein Glas nach dem anderen, bis er den Schmerz nicht mehr spürte. Von nun an begann Jakob, noch früher am Tag und noch mehr zu trinken.