Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin
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Evelyn Kreißig

Meine Antwort auf

Ihr Buch,

Herr Sarrazin

Ein Buch über Menschen und wenig Zahlen


Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2011 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Evelyn Kreißig (Autorin)

Herausgeber: www.Verlag-Kern.de, Bayreuth Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de Lektorat: Sabine Greiner 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012 ISBN 9783944224046

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

Gene und Rassen

Motivationen

Familienbande

Berufswahl

Kindheitserlebnis

Migratio

Erziehungsmethoden

Verurteilung

Gesunde Lebensweise

Integration und Integrationskurse

Gutscheine

Fluchtgründe

Jugendmigrationsdienst

Flüchtlinge

Russen

Sprachkenntnisse und Einbürgerungstest

Terrorismus und Religion

Werte und Tugenden

Irakkrieg und „Familienduell“

Kopftücher

Spracherwerb und Pädagogik

Islam und Andersdenkende

Binationale Ehe

Probleme

Andere Kulturen

Belastbarkeit

Toleranz

Sex vor der Ehe

Flucht aus Afghanistan

Geduld

Ehrgeiz

Leben und Sterben im Asylbewerberheim

Ausländerfeindlichkeit

Behördengänge und Bürokratie

Don’t knock on the door!

Wegwerfgesellschaft und Tafeln

Wissen und Glaube

Kindheit und Jugend

Veränderungen

Erfolge und Misserfolge

Hindernisse

Fremde

Vorbilder

Heimatliebe und Humanismus

Sportlichkeit

Reaktionen

Fertilität

Klassentreffen

Residenzpflicht und Todesopfer

Politiker

Botschaftsbesuch

Unter- und Oberschichten

Zustimmung und Ablehnung

Gefahrensituation

Lehrjahre

Verteidigung

Bedrohungen

Namen

Humankapital

Muttersprachlichkeit

Niederlassungserlaubnis

Ehrungen und Motivationen

Einflüsse

Islamkonferenz und Christentum

Ab- und Anschaffungen

Verbote

Sprachbarrieren

Tüchtige und Intelligente

Zusammenarbeit

Kirche und Staat

Verteidigung

Genugtuung

Hilferufe

Urlaubserlebnisse

Meinungen

Hoffnungen

Kennenlernen und Wiedersehen

Schicksal

Scharia

Wünsche

Nachwort

Weitere Bücher aus dem Verlag-Kern.

Einleitung

„Menschen aus anderen Ländern bringen Freundschaft und Vielfalt der Welt zu uns.“

(Gerhard Cromme)

Das Buch habe ich geschrieben für

Reza aus Afghanistan,

Elias aus Algerien,

Cristiene aus Brasilien,

Fan aus China,

Joginder aus Indien,

Ali aus dem Irak,

Mostafa aus dem Iran,

Kasim aus dem Libanon,

Adam und Abdu aus Libyen,

Beko aus Mazedonien,

Rashid, Imran und Khurram aus Pakistan,

Sabah, Ziad und Shyar aus Syrien,

Ken Onsa-Art aus Thailand,

Serdar und Faris aus der Türkei,

 

Tsolmon aus der Mongolei,

Bel Hasan Ayren aus Tunesien,

Monika und Cathleen aus Afghanistan,

Valentino aus Nigeria.

Es sind Geschichten von Jugendlichen, die aus verschiedenen Gründen nach Deutschland gekommen sind. Ich erzähle von ihren Erlebnissen in ihren im Vergleich zu Deutschland armen Heimatländern und von ihren Träumen und Wünschen in unserem reichen Staat.

Gene und Rassen

„Ein Land mit nur einer Sprache und einer Sitte ist schwach und gebrechlich. Darum ehre die Fremden und hole sie ins Land.“ Stephan I., der Heilige (975-1038), erster König der Ungarn (ungar. István I.)

Vor ein paar Jahren, als ich noch in einer Mittelschule arbeitete, haben alle Lehrer ein Informationsblatt des Netzwerkes Sachsen gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit (NWS) e. V. erhalten. Darin heißt es u. a.:

Jeder Mensch ist anders.

Jeder Mensch hat ganz bestimmte Fähigkeiten.

Jeder Mensch ist wichtig - für die Familie, Klasse, Sportgruppe, seinen Wohnort.

Jeder Mensch ist einmalig.

Alle Menschen sind gleichwertig, egal wo sie geboren sind, wo sie herkommen, wie sie aussehen, was sie können.

Im Grundgesetz steht unter dem Artikel 3 (Gleichheit vor dem Gesetz, Absatz 3) die Formulierung:

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

In einem Artikel von Martin Marheinecke ist zu lesen:

„Ende August 2000 löste eine Meldung der ‚New York Times‘ bei Anti-Diskriminierungsgruppen in aller Welt Beifall aus: Es sei nun wissenschaftlich bewiesen, dass es keine Menschenrassen gibt!“ (Martin Marheinecke, „Menschenrassen gibt es nicht!“, 2003)

Nach Ergebnissen der Genforschung kam ein Team von amerikanischen Wissenschaftlern zu der Erkenntnis, dass es nur eine Rasse gibt, nämlich die „Menschenrasse“. Nur 0,01 Prozent unserer Gene bestimmen danach unsere äußeren Unterschiede wie Hautfarbe, Augenform und Körperbau. Intelligenz, künstlerisches Talent und soziales Verhalten, wenn überhaupt genetisch bedingt, hängen von tausenden, wenn nicht sogar zehntausenden Genen ab. Die Untersuchungen belegen, dass die genetischen Unterschiede innerhalb einer Gruppe von Schwarzafrikanern weitaus größer sind als die zwischen dieser Gruppe und einer Gruppe hellhäutiger Nordeuropäer. Weiter heißt es in der überarbeiteten Fassung des Textes von 2003: „Außerdem sind Menschen eine mobile Spezies, Wanderbewegungen führten immer wieder zu Vermischungen des Genpools.“ Auf die Behauptung, dass die Juden ein bestimmtes Gen teilen, haben Sie in Ihrem Buch, Herr Sarrazin, nach mehrfachen Protesten aus verschiedenen Richtungen verzichtet und diese Aussage dann auch später mit der Begründung, kein Genetiker zu sein, relativiert. Professor André Reis, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, der auf stern.de von Lea Wolz zu der Frage, ob es ein Juden-Gen gibt, interviewt wird, formuliert: „Mit dieser Aussage hat sich Sarrazin meiner Meinung nach disqualifiziert. Da ist er völlig auf dem Holzweg. Es gibt keine genetischen Merkmale, die einzelne Bevölkerungs- und Religionsgruppen charakterisieren.“

Laut Wikipedia entstand der Begriff „Rasse“ im 15. Jahrhundert in Spanien und bedeutete ursprünglich, von guter oder schlechter Herkunft zu sein. Er wurde hauptsächlich bei der Beschreibung von Adelsfamilien und in der Pferdezucht verwendet. Schon lange wenden sich Menschenrechtler gegen den Gebrauch des Begriffes im Grundgesetz, wogegen sich aber die Mehrzahl der Politiker zu wehren scheint. Nach dieser Definition unterscheiden wir also heute immer noch Menschen wie Tiere nach Rassen! Ich frage mich, warum es so kompliziert sein soll, dieses Wort aus der Verfassung der BRD zu streichen.

Motivationen

Cristiane ist eine schöne und temperamentvolle und im wahrsten Sinne des Wortes rassige Brasilianerin und lebt seit vier Jahren in Deutschland. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, den sie bei einem Arbeitseinsatz in Brasilien kennenlernte. Ihre Muttersprache ist Portugiesisch. Motiviert durch ihre Beziehung zu ihrem späteren Mann, eignete sie sich schnell einen großen Wortschatz der deutschen Sprache an. Seit August 2010 besucht sie die Vorbereitungsklasse mit berufsbildenden Aspekten am Berufsschulzentrum in Freiberg, in der jugendliche Migranten die deutsche Sprache lernen bzw. vervollkommnen. Da sie sehr mitteilungsbedürftig ist, erzählte sie mir viel aus ihrem Leben in Brasilien. Wir fanden schnell einen Draht zueinander und eines Tages machte ich die Bemerkung, dass sie über ihre Erlebnisse doch ein Buch schreiben könnte. Mit der Entgegnung, dass ich das auch könnte, da ich ja so viele Ausländer kenne und gute Beziehungen zu ihnen habe, gab sie mir den letzten Anstoß, dieses Buch zu schreiben, was ich schon längst als Vorhaben in meinem Hinterkopf hatte.

Meine zusätzliche Motivation war Ihr Buch „Deutschland schafft sich ab“, Herr Sarrazin, das ich gerade lese. Dieses habe ich mir von meinem Mann zum Geburtstag schenken lassen, das heißt, eigentlich schenkte er mir die Autobiografie von Angelina Jolie, aber die interessierte mich weniger als die Problematik, um die es in Ihrem Buch geht. Deshalb habe ich es kurzerhand umgetauscht. Ein anderes Buch, das ich gleichzeitig lese, hat den Titel „Entweder Broder“ und ist eine Deutschland-Safari mit Henryk M. Broder, einem polnischen Juden, und Hamed Khaled-Samad, einem ägyptischen Moslem, die beide in Deutschland vollkommen integriert sind. Angeregt wurde ich dazu durch eine Fernsehsendung in der ARD, die mich neugierig auf die beiden Männer machte und über die ich mehr wissen wollte. Ich verbinde in dem vorliegenden Buch meine Erlebnisse und Erfahrungen mit Migranten in meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrerin mit autobiografischen Fakten und Antworten auf Ihr Buch, Herr Sarrazin. An verschiedenen Stellen stelle ich Fragen an Sie und kommentiere Meinungen über Sie und Ihr Buch. Dabei gehe ich auf einzelne Textabschnitte ein, ergänze Meinungen von mehr oder weniger bekannten Personen und reflektiere aktuelle und geschichtliche Ereignisse.

Herr Sarrazin, auf Ihrer Homepage (vom 23.08.2010) kündigen Sie die Veröffentlichung Ihres Buches mit folgenden Worten an: „Trotz meiner extrem harten Arbeit bei der Deutschen Bundesbank geht unser deutsches Vaterland für mich immer vor. Deshalb habe ich nebenher ein Meisterwerk analytischer Probleme geschaffen. […] Anständige Deutsche sollten dieses Buch kaufen.“ Man kann nur hoffen, dass Ihre extrem harte Arbeit bei der Deutschen Bundesbank trotzdem einen Einfluss auf die positive Entwicklung unseres (wen Sie auch immer zu den Unsrigen zählen) Landes hatte. Es bleibt abzuwarten, ob unsere Nachkommen Ihr von Ihnen als Meisterwerk bezeichnetes Buch auch als solches einschätzen. Ihr Rat an die anständigen Deutschen, das Buch zu kaufen und nicht einfach nur zu lesen, ist ja von sehr vielen erhört worden. Anständig waren sie zumindest in Bezug auf die Mithilfe bei Erhöhung der Verkaufszahlen. Ob es alles Anständige waren im Sinne dieser Charaktereigenschaft ist zu bezweifeln. Meine Frage an Sie ist, was verstehen Sie eigentlich unter einem anständigen Deutschen? Ich meine, was für den einen anständig ist, muss es für den anderen noch lange nicht sein, oder? Sie schätzen sich ja offensichtlich als anständig ein und ich darf mich auch dazu zählen, denn ich habe Ihr Buch gekauft und sogar gelesen! Da das Gegenteil von anständig unanständig ist, müssen sich wohl diejenigen, die Ihr Buch noch nicht gekauft haben, wirklich schämen! Aber vielleicht hatten sie einfach nicht das Geld dazu oder geben es nur für Trivialliteratur aus. Auf jeden Fall habe ich Ihr Buch in meiner „anständigen“ Familie zum Lesen ausgeliehen.

Familienbande

Cristiane ist die Einzige aus ihrer Familie, die in Deutschland lebt. Doch trotz der großen räumlichen und zeitlichen Entfernung zwischen ihr, ihren zwei Schwestern und ihren Eltern ist für sie ihre Familie sehr wichtig, was sie immer wieder zum Ausdruck bringt. In meiner eigenen Familie sieht es anders aus. So äußerte eine Verwandte bei einer Familienfeier, bei der auch ihre Schwiegereltern anwesend waren: „Freunde kann man sich aussuchen, die Familie nicht.“ Seitdem, es ist ungefähr zehn Jahre her, haben ihre Schwiegereltern kein Wort mehr mit ihr und ihrem Mann gewechselt und sich nie mehr gesehen. Mein Bruder, der für eine Versicherung arbeitet, hat seit vier Jahren keinen Kontakt mehr zu mir und meinen zwei Schwestern, weil er von der Familie eine Auszeit wollte.

Den Grund dafür habe ich damals nicht erfahren. Erst bei einem Gespräch mit meinem Bruder, das ich vor ungefähr zwei Jahren mit ihm suchte, schilderte er mir seine Motive. So erzählte er mir, dass er für ein Versicherungsangebot für das Auto seiner Nichte viel Zeit investiert hat, sie dann den Vertrag jedoch nicht abschloss. Außerdem wären ihm die Zusammentreffen der Familie zu häufig. Das klingt sicher für Außenstehende ziemlich lächerlich und ist auch für mich nicht nachvollziehbar.

Ich will weitere Einzelheiten gar nicht genau ausführen, aber hier bewahrheitet es sich, dass man mit der Familie lieber keine Geschäfte machen sollte. Ich muss dazu sagen, dass mein Bruder meiner Meinung nach zu den „Reichen an Geld“ der Gesellschaft gehört. Das hat mit seiner Cleverness zu tun, die er bei der Ausübung seinen Jobs bei einer Versicherung anwendet. Aber Reichtum beschränkt sich ja bekannterweise nicht nur auf Geld, sondern auch auf menschliche Eigenschaften wie Toleranz, Großzügigkeit und Herzlichkeit.

Trotz meiner Bemühungen um eine Kontaktaufnahme zu meinem Bruder habe ich keine Beziehungen mehr zu ihm und seiner Familie. Das ist zwar schade und tut weh, aber ich habe dieses Kapitel in meinem Leben jetzt abgehakt.

Ich habe gerade ein Lied von Udo Jürgens gehört, das er zu Ehren von Udo Lattek sang und die Liedzeile hatte: „Was du bekommst, ist immer das, was du gegeben hast.“ Ich finde, das ist eine große Wahrheit, nach der man leben sollte. Übrigens, Herr Sarrazin, mein Bruder muss einige Gemeinsamkeiten mit Ihnen in Bezug auf sein Verhältnis zu Zahlen haben, das ja bei der Arbeit bei einer Versicherung bzw. im Bundesamt der Finanzen oder als Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank von großer Bedeutung ist.

„Seit man begonnen hat, die einfachsten Behauptungen zu beweisen, erwiesen sich viele von ihnen als falsch.“

(Bertrand Russell)

Berufswahl

Mein Name ist Evelyn Kreißig und ich bin nur eine einfache Lehrerin und kann Ihnen, Herr Sarrazin, sicher in vieler Hinsicht nicht das Wasser reichen. Sie sind bestimmt ein überdurchschnittlich intelligenter, wortgewandter und belesener Mann und haben viele Erfahrungen in der Arbeit mit Ausländern innerhalb Ihrer Tätigkeit als Fachökonom, Spitzenbeamter und Politiker in Berlin.

Trotzdem glaube ich, bei dem Thema, das Sie mit Ihrem Buch bearbeiten, mitreden zu können, denn ich arbeite seit zehn Jahren mit Migranten bzw. Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Ich verzichte aber weitgehend auf Zahlen, Tabellen und empirische Erhebungen, denn das haben Sie ja schon in genügendem Umfang getan. Auf dem Abiturzeugnis hatte ich zwar in Mathematik die Note Zwei, habe aber bis heute nicht viel mit Zahlen am Hut, obwohl mein Mann Mathematiker ist. Das heißt, Menschen mit dieser Leidenschaft lehne ich also generell nicht ab, ja, ich konnte sogar mit ihm bis drei zählen, denn wir haben zusammen drei intelligente und hübsche Kinder.

Als Lehrerin bekomme ich ein gutes Gehalt und kann mir deshalb auch einen relativ hohen Lebensstandard leisten. Reich bin ich allerdings nicht und ich kenne auch keine reichen Lehrer, nur Lehrer, die viel arbeiten und viele Ferien haben. Das Zweite ist zumindest eine häufig gehörte Äußerung von Mitmenschen, die Lehrer oft mit der Gegenfrage kommentieren: „Warum sind Sie oder bist du dann nicht selbst Lehrer geworden?“

Zugegeben, die Antworten fallen verschieden aus, aber auf mangelnde Intelligenz ihrerseits führen sie das eher weniger zurück. Im Gegenteil, man hört dann auch manchmal die Feststellung: „Mit mehr Intelligenz hätten manche Lehrer auch einen anderen bzw. besser bezahlten Beruf lernen können.“ Aber Geld ist eben auch nicht alles, was man zum Beispiel als Immobilienmakler, Finanzmanager, Banker oder Versicherungsvertreter reichlich verdienen kann. Damit hatte ich nie etwas am Hut, vielleicht, weil man dazu auch Mathematik braucht. Doch der Hauptgrund ist eher der, dass ich lieber Kindern und Jugendlichen etwas geben will (Wissen), anstatt ihren Eltern etwas wegzunehmen (Geld). Ich muss aber auch ehrlich zugeben, dass ich für die oben genannten Berufe ebenfalls kein Talent und keine Ambitionen habe. Natürlich gibt es noch ein paar andere Varianten für Berufsziele, die dazwischenliegen wie Frisörin, Verkäuferin, Bäckerin, Sekretärin oder Krankenschwester. Das wollte ich jedoch auch nie werden, vielleicht weil mir ihr ewig langer Arbeitstag nicht zusagte, aber auf den Köpfen anderer Leute wollte ich zum Beispiel auch nie arbeiten (Frisörin). Lieber wollte ich versuchen, in die Köpfe etwas hineinzubringen. Dafür nahm ich in Kauf, dass meine Schüler mir manchmal auf dem Kopf herumtanzten.

 

Ich war schon immer ehrgeizig, habe mir so das Abitur erkämpft und mein späteres Lehrerstudium durchgehalten, was nicht immer einfach war. Finanziell hätte ich mir das nie leisten können, da meine Eltern nicht viel Geld hatten und ich noch drei Geschwister habe. Und Kinder machen ja bekanntlich nicht nur Freude, sondern kosten ihren Eltern auch viel Geld.

Zum Glück hatte ich aber eine Großmutter, die mir regelmäßig Taschengeld zuschob, so dass ich nur zu lernen brauchte und nicht nebenbei arbeiten musste wie zum Beispiel meine vier Jahre jüngere Schwester, die sich ihr Lehrerstudium durch Kellnern finanzierte. Beinahe hätte ich aber alles hingeschmissen, und zwar, als meine Freundin, mit der ich mein Studium begann, dies tat und sich stattdessen auf die Erziehung ihres Kindes konzentrierte, das ich aber damals noch nicht hatte. Sie hat dann später in einem Energiebetrieb gelernt und gearbeitet und nach der Wende immer mehr Geld verdient als ich, worum ich sie manchmal beneidete. Seit sechs Jahren ist sie nun im Vorruhestand und lässt es sich zu Hause gut gehen, worum ich sie nicht mehr beneide. Für mich wäre dieses Leben einfach (noch) keine Option, da mich meine Arbeit ausfüllt und herausfordert.

Ich bin Deutsche, was ich erst seit dem vereinten Deutschland sagen darf, bis dahin war ich „nur“ DDR-Bürgerin und glaubte, in einer deutschen demokratischen Republik zu leben. Doch es war eine vermeintliche Volksherrschaft (aus dem Griech.), in der zwar die vom „Volk“ gewählten Vertreter die Herrschaft ausübten, der Wille des Volkes aber oft auf der Strecke blieb. Gleichzeitig war die DDR offiziell eine Diktatur, nämlich die des Proletariats. Wir Ostdeutschen hatten keine Wahl, welcher Partei wir unsere Stimme geben sollten, denn es gab quasi nur eine Partei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Die anderen spielten nur eine untergeordnete Rolle. Unsere „Wahl“ bestand kaum darin, wählen zu gehen oder nicht, denn als „Nichtwähler“ war man so manchen Repressalien ausgesetzt. Das andere Deutschland, die damalige BRD, war für mich und die meisten Ostdeutschen kapitalistisches Ausland und ein unerreichbares Territorium. Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit prägten sogar den Begriff des Klassenfeindes für die BRD und die USA. Im Staatsbürgerkundeunterricht haben wir einmal die Frage diskutiert, ob wir es uns vorstellen können, dass es in der Zukunft wieder nur ein Deutschland geben könnte. Es konnte sich keiner ausmalen oder es hat niemand gewagt, diesen Gedanken zu äußern. Mein damaliger Staatsbürgerkundelehrer hatte sicher eine gute Ausbildung in seinem Fach, so dass er uns Schüler sehr gut manipulieren konnte und sich niemand zu einer anderen Meinung hinreißen ließ. Aber mit siebzehn, achtzehn Jahren Leben in der DDR waren wir alle geprägt vom System des vermeintlichen Sozialismus, der sich einmal zum Kommunismus entwickeln sollte.

Gut, mein Lieblingsfach war Staatsbürgerkunde nicht gerade, trotzdem habe ich es studiert, weil es in Verbindung mit dem Fach Deutsch am Pädagogischen Institut, das während meiner Studienzeit den Status einer Hochschule bekam, in Zwickau angeboten wurde und ich nicht zu weit weg von meinem Wohnort und meinem Freund sein wollte. Einen großen Anteil an meiner Entscheidung für das Studienfach Deutsch hatte mein Deutschlehrer Herr Schellenberg.

Am meisten interessierten mich schon immer Gedichte, die ich leidenschaftlich gern vortrug und auch selbst schrieb. Jedes Jahr nahm ich an Rezitationswettbewerben der Erweiterten Oberschule „Bertolt Brecht“, die damals zum Abitur führte, teil und erreichte immer den ersten Platz. In der elften Klasse, als ich siebzehn war, war ich sogar Teilnehmerin am Bezirksrezitationsausscheid im damaligen Karl-Marx-Stadt mit dem Gedicht von Goethe „Willkommen und Abschied“. Ich erinnere mich noch genau, wie inbrünstig ich es aufsagte und nicht ein einziges Mal stecken blieb.

Die Jury war zwar begeistert, nahm mir aber meine leidenschaftliche Gestaltung nicht ab, da sie glaubte, dass ich für dieses Liebesgedicht noch zu jung sei, als dass ich mich in die Lage von Goethe als Geliebter von Lotte Buff hätte hineinversetzen können.

War ja auch so und ich nehme es im Nachhinein den in meinen damaligen Augen alten Lehrern nicht übel. Das Gedicht kann ich bis heute noch auswendig und ich kann Goethe mehr und mehr verstehen. Mein geheimer Berufswunsch war damals der einer Schauspielerin und er fasziniert mich heute noch.

Einer meiner Vorfahren ist der bedeutende Schriftsteller der deutschen Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing, von dem ich sicher ein paar Gene geerbt habe. Sein Buch „Nathan der Weise“ und die in der Ringparabel aufgeworfene Frage, welche Religion, das Christentum, Judentum oder der Islam, denn nun die richtige sei, hat mich in meinem Denken und Handeln stark beeindruckt und beeinflusst. Da mich meine Eltern atheistisch erzogen haben, stand für mich diese Frage sowieso nie zur Debatte und Lessing hat mich mit seinen Anschauungen über die Bedeutung der Religionen in meinen bestärkt. Für mich war und ist immer zuerst der Mensch wichtig und nicht seine Religion, seine Herkunft oder seine Hautfarbe.

„Die Türken haben schöne Töchter, und diese scharfe Keuschheitswächter; wer will, kann mehr als eine frein: Ich möchte schon ein Türke sein.“

(Gotthold Ephraim Lessing)