Warum ich tue, was ich tue

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Gefühle sind also nicht die Ursache, sondern die Impulse unseres Tuns bzw. Nicht-Tuns – Ursache unseres Tuns sind die Bedürfnisse und die in ihnen enthaltenen Potenziale, die zur Entfaltung drängen. Über die als negativ empfundenen Gefühle fordert uns unser Organismus auf, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen, und über die positiv empfundenen Gefühle signalisiert er uns die gelungene Befriedigung.

Aggression – eine emotionale Funktion im Dienste der Bedürfnisse

Sigmund Freud betrachtete den Aggressionstrieb als selbstständigen Trieb (er nannte ihn Thanatos) und stellte ihn der Libido (dem Lebenstrieb) gegenüber. Aggression ist jedoch kein Trieb im Sinne eines eigenständigen Bedürfnisses, sondern ein physiologisches Potenzial im Dienste aller anderen Bedürfnisse.

Wenn wir die Aggression von Tieren betrachten, zeigt sich diese Funktion sehr deutlich. Es geht immer um den Status in der Gruppe, um die Rangfolge bei Platz und Nahrung oder um die Abwehr von Bedrohung.

Wenn wir menschliche Aggression genauer betrachten, finden wir die gleiche Ausgangslage wie bei Tieren: sie ist nie sinnlos oder unmotiviert. Wenn von »sinnloser Gewalt« gesprochen wird, dann handelt es sich hierbei immer um die Zuschreibung oder Interpretation von außen, d. h. dass sie dem Betrachter als sinnlos erscheint. Für den Handelnden selbst gibt es immer ein Motiv, das ihn aggressiv sein lässt. Es ist zwar häufig so, dass jemand selbst den Grund seines aggressiven Handelns nicht kennt, weil er unbewusst und automatisch handelt (vgl. Kapitel Der Kampf um den freien Willen) und seine eigenen Motive nicht kennt. Doch mangelnde Selbsterkenntnis ist nicht gleichbedeutend mit mangelndem Motiv.

Aggression ist ein grundlegendes physiologisches Potenzial, das jedoch unbedingt eines psychischen Anreizes bedarf, damit es zu einem aggressiven Verhalten bzw. zu einer aggressiven Handlung kommt. Das heißt, Aggression steht immer im Dienste eines Bedürfnisses bzw. Motivs. Das kann z. B. das Vergeltungsmotiv sein, wenn man sich für eine Demütigung, Ungerechtigkeit oder Frustration rächen will. Es kann das Machtmotiv sein, wenn man mit der Aggression seine eigene Wirksamkeit erhöhen will; es kann das Besitzmotiv sein, wenn man mit Aggression etwas erbeuten oder seinen Besitz verteidigen möchte; es kann das Selbstwertmotiv sein, wenn mit der Aggression die eigene Ehre verteidigt oder wieder hergestellt werden soll; es kann das Bindungsmotiv sein, wenn mit der Aggression etwas für die eigene Gemeinschaft erkämpft oder verteidigt werden soll; es kann das Sicherheitsmotiv sein, wenn mit der Aggression der eigene Schutz verteidigt werden soll; es kann das Neuheits-/Veränderungsmotiv sein, wenn mit der Aggression das Alte zerstört werden soll, um dem Neuen Platz zu machen; es kann das Individualitäts- und Freiheitsmotiv sein, wenn mit der Aggression Vereinnahmung und Unfreiheit abgeschüttelt werden soll, usw.

In einer sorgfältigen Verhaltensbeobachtungs-Studie wurden Kinder im Alter von drei bis elf Jahren in je einer Gemeinde aus sechs Kulturen – Kenia, Mexiko, Nordindien, Okinawa, Philippinen und USA – in Bezug auf Aggressionen untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass bei Kindern, solange sie noch nicht voll in die besonderen Sozialisationsnormen ihrer jeweiligen Kultur hineingewachsen sind, die Art und Häufigkeit der Aggression in den unterschiedlichen Kulturen fast völlig gleich sind. »Nimmt man die häufigsten Formen der Aggression (wie beleidigen, schlagen), so zeigen Kinder zwischen drei und elf Jahren in jeder Kultur durchschnittlich neunmal pro Stunde aggressive Akte. Davon sind 29 Prozent unmittelbare Vergeltungsreaktionen auf Angriffe, die man gerade von anderer Seite erfahren hat. […] Mit dem Alter ändern sich in allen Kulturen die Formen der Aggression: Die Häufigkeit körperlicher Angriffe nimmt ab zugunsten stärker ›sozialisierter‹ Formen wie Beleidigung und Balgereien. […] Bemerkenswert ist des Weiteren, dass in jeder Kultur die jüngeren Kinder und die altersgleichen weit mehr Aggression abbekommen als die älteren, zumal mit jüngerem Alter die Angegriffenen auch eher zur Aggression einladen, weil sie sich getroffen fühlen oder weinen. Lambert (1974) sieht darin eine Verschiebung auf wehrlosere Opfer.«17

Jede Kultur hat bei allen Gemeinsamkeiten der kindlichen Aggressionsformen dann jedoch ihre eigenen Normen und Wertungen für aggressives Handeln. Sie legt fest, was erlaubt und was nicht erlaubt ist und wann und welche Aggressionen sogar erwünscht sind oder zumindest indirekt belohnt werden. Manches von diesen Normen findet ihren Niederschlag in den Strafgesetzbüchern. So wird z. B. Mord aus niedrigen Beweggründen schwer, Töten aus Notwehr dagegen gar nicht bestraft. Die meisten der Normen und Regeln werden aber einfach über Bekräftigungs- und Vorbildlernen internalisiert und zu ungeschriebenen Gesetzen.

Wie unterschiedlich kulturelle Regeln und Normen in Bezug auf Aggressionen das individuelle aggressive Handeln prägen, durch welche Motive das aggressive Handeln verursacht werden kann und welche Motive der Betreffende selbst sich dann zuschreibt, möchte ich am Beispiel des aktuellen Terrors von islamistischen Fundamentalisten aufzeigen:

Unter dem Titel »Blutige Taten, heilende Rache« beschäftigte sich der Autor Sudhir Kakar in der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 18.8.2005 mit der Psychologie von islamistischen Terroristen. Sudhir Kakar schaut jenseits von medialen oder politischen Kurzsichtigkeiten sehr genau auf die Beweggründe von religiösen Fanatikern. Dabei postuliert er, dass die Gewalt von säkularen Terrorgruppen noch heute verblasse gegenüber den schrecklichen Bluttaten von religiösen Tätern. Dabei zeigt er auf, wie diese religiösen Täter durch die Botschaften fundamentalistischer Prediger geprägt werden.

Diese Botschaften beginnen mit der Klage über den verlorenen Ruhm des Islam und die beklagenswerte Lage, in der sich Muslime heute befänden im Vergleich zum Glanz vergangener Zeiten. Auf die Beschreibung der Symptome folgt dann die Diagnose: Muslime hätten alles verloren – politische Autorität, Respekt, spirituellen und materiellen Reichtum – weil sie durch einen geschwächten oder abhanden gekommenen Glauben der moralischen Verkommenheit der modernen globalisierten Welt nicht genügend entgegenträten. Die Heilung bestehe also in einer Rückbesinnung auf die Scharia und die im Koran aufgestellten Glaubensgrundsätze.

Die als düster und verachtenswert geschilderte Sicht der Gegenwart im Vergleich zur hell und glanzvoll erscheinenden Vergangenheit und möglichen Zukunft kennzeichnet das ideologische Fundament des islamischen Terroristen, der bereit ist, in den Tod zu gehen.

Psychologisch gesehen ist der Fundamentalismus also für den Außenstehenden eine Krankheit, für den Insider der Weg zur Gesundung.

Triebkraft des Dschihad ist keineswegs ein Mangel an Werten. Nur unterscheiden sich diese Werte von denjenigen, die die moderne Gesellschaft prägen. Einem Manifest des Gründers der ägyptischen Muslimbrüder zufolge sind Alkohol, Unzucht, Konsum und vulgäre Vergnügungen charakteristisch für spirituell und moralisch verdorbene Gesellschaften. Im Terrorismus gegen die »unreine, moralisch verdorbene« westliche Gesellschaft sieht der fundamentalistische Gewalttäter eine Chance, Heldentum und Idealismus auszudrücken im Dienste Gottes. Aufgrund der religiösen Motivation sieht er seinen Kampf als den Kampf des Guten gegen das Böse, den Kampf für Gott gegen Satan.

Bei seinen Gewaltaktionen, die seiner Zuschreibung nach einzig Gott dienen, sieht er sich erhaben und nicht klein und ihn plagen auch keine Schuldgefühle, wenn er unschuldige Menschen in den Tod schickt. Dies gilt besonders für den Selbstmordattentäter. Er ist nicht zu vergleichen mit dem »normalen« Selbstmörder, der aus Verzweiflung, Hilflosigkeit oder Ohnmacht handelt. Solche persönlichen Gründe wären für den Selbstmordattentäter eine feige, gotteslästerliche Tat. Nach Kakar ist es auch ein Irrtum, wenn wir annehmen, die fundamentalistischen Attentäter kämen aus Verhältnissen von Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er beruft sich auf den Soziologen Scott Atran, der in seinem Buch Holy Terror. The Inside Story of Islamic Terror nachgewiesen hat, dass Terroristen meist besser ausgebildet sind und wirtschaftlich besser dastehen als der Großteil der Bevölkerung und dass z. B. laut eines saudischen Untersuchungsberichtes die meisten palästinensischen Selbstmordattentäter studiert haben und aus wohlhabenden und angesehenen Familien stammen.

Diese gebildeten und materiell gut gestellten Muslime sind mit ihrer Geschichte meist wohlvertraut. Sie fühlen sich angesprochen von Darstellungen alten islamischen Glanzes, nehmen die marginale Bedeutung moderner islamischer Staaten sehr stark wahr und sind empfänglich für Gefühle kollektiver Demütigung. Sie reagieren weitaus empfindlicher als andere Muslime, wenn der Westen von der Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften redet und seine eigene Überlegenheit herausstellt. Dank seiner Bildung und Herkunft nimmt der islamische Terrorist die Unterdrückung in seiner eigenen Gesellschaft und in der modernen Welt insgesamt stärker wahr.

Diese Antriebskräfte, die aus den Gefühlen von Erniedrigung, Demütigung und Vergeltungsbedürfnissen entstehen, sind in der muslimischen Welt nicht überall gleich stark. Arabische Gesellschaften, in denen Ehre und Ehrverlust eine große Rolle spielen, reagieren viel sensibler auf empfundene Demütigungen und narzisstische Kränkungen als muslimische Gesellschaften, in denen diese Ehrstrukturen nicht so stark ausgeprägt sind.

Analysieren wir diese Ausführungen noch genauer, dann sind die Motive für die Selbstmordattentate zum einen Rachemotive für Erniedrigung und Demütigung und zum anderen Selbstwertmotive, weil durch die Terrorhandlungen versucht wird, den eigenen Selbstwert und die eigene Ehre zu erhöhen und die Ehre der Gruppe wieder herzustellen. Neben diesen beiden Bedürfnissen sind die Motive für fundamentalistischen Terror allgemein immer fixierte Ideale-Bedürfnisse (das bedeutet, die eigenen Ideale werden in selbstgerechter Hybris allen anderen verordnet), verbunden mit fixierten Machtbedürfnissen (das heißt, die eigenen Ziele werden mit Gewalt und Unterwerfung verfolgt).

 

In einem Punkt allerdings irrt Sudhir Kakar in seinen Ausführungen. Nämlich wenn er schreibt, dass säkularer Terror angesichts religiöser Bluttaten verblassen würde. Wenn wir nur in die jüngste Geschichte schauen, dann denke ich, kann diese Aussage nicht aufrecht erhalten werden. Es war sicher ein unbeschreiblich grausamer und tödlicher Terror, den Deutschland während des Nationalsozialismus veranstaltete. Es war ein mörderischer und blutrünstiger Terror, den die Pol-Pot-Anhänger in ihrem Land verbreiteten. Es war ein mörderischer und tödlicher Terror und Genozid, den die Türken gegen ihre armenische Bevölkerung betrieben. Es war ein grausamer und tödlicher Terror, den die Klu-Klux-Klan-Mitglieder (alles »ehrbare Bürger« mit »moralischen« Begründungen ihres Handelns) unter der schwarzen Bevölkerung der amerikanischen Südstaaten anrichtete. Es war und ist ein unvorstellbarer Terror und blutrünstiges Morden bis zum Genozid in verschiedenen afrikanischen Staaten im Gange. Und so weiter und so weiter. Die entsprechende Aufzählung wäre schon endlos, ohne die »offiziellen Kriege« zwischen Staaten oder Völkern.

Aggression bzw. aggressives Verhalten wird schon in den ältesten menschlichen Schriften beschrieben. Es steht immer im Dienste anderer Motive. Als Beispiel gehe ich kurz auf das Gilgamesch-Epos ein (die ausführliche Analyse findet sich im Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück): Im Gilgamesch-Epos finden wir aggressives Handeln aus den unterschiedlichsten Motiven: Es beginnt damit, dass die Bürger von Uruk sich über das aggressive Verhalten ihres Königs bei den Göttern beklagen. Daraufhin schicken die Götter einen an Kraft ebenbürtigen Gegenspieler, Enkidu. Als dieser von der Stärke Gilgameschs hört, will er sich sogleich im Kampf mit ihm messen (Aggression im Dienste des Selbstwertbedürfnisses). Gilgamesch weist aggressiv das Liebeswerben der Göttin Ischtar zurück (Aggression im Dienste der eigenen Sicherheit). Sie schickt daraufhin den Himmelsstier, der Gilgamesch töten soll (Aggression im Dienste des Rachebedürfnisses). Gilgamesch besiegt und tötet den Himmelsstier. (Aggression zur Verteidigung, also Sicherheitsmotiv). Gilgamesch und Enkidu sind inzwischen unzertrennliche Freunde und wollen nun gegen »das Böse« in den Kampf ziehen (Gerechtigkeits-Motiv). Als Inkarnation des Bösen wird nun der Hüter des Zedernwaldes, Chumbaba, ausersehen, weil dieser (von Gott Enlil eingesetzt) den Zederwald gegen die Menschen verteidigt (Aggression nun im Dienste von drei Motiven: Selbstwert-, Macht- und Besitzmotiv). Sie töten Chumbaba. Diesen Frevel rächt Gott Enlil nun wiederum mit dem Tod von Enkidu.

Im Pol Vuh, in dem die ältesten Mythen der Inkas festgehalten sind, wird die Frühgeschichte der Menschen als ein blutrünstiges Wettbewerbsspiel erzählt.

1 Einstein, A. (1953): Mein Weltbild. Zürich (Europa)

2 Ledoux, J. (1996): Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. 5. Aufl. München 2010 (dtv), 72

3 Damasio, A. (1999): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. 8. Aufl. Berlin 2009 (Ullstein)

4 Briggs zit. nach F. LeLord / Ch. Andrè (2001): Die Macht der Emotionen. 8. Aufl. München 2011 (Piper), 50

5 Ledoux, J. (1996): Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. 5. Aufl. München 2010 (dtv), 107 ff.

6 Flam, H. (2002): Soziologie der Emotionen. Konstanz (UVK)

7 Rizzolatti, C. / Sinigaglia, C. (2008): Empathie und Spiegelneurone. Die Biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)

8 Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart (Kröner)

9 vgl. auch: Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. 4. Aufl. München (Heyne)

10 Keysers, C. im Spiegel-Interview »Eine fast mystische Verbindung«. Spiegel 29/2013

11 vgl. dazu Harbsmeier, M. / Möckel, S. (Hrsg.) (2009): Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)

12 Damásio, A. (2009): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München (List), 50 ff.

13 vgl. Wollheim, R. (2001): Emotionen – eine Philosophie der Gefühle. München (Beck)

14 Kandel, E. (2008): Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 191

15 Butollo, W. (1999): Angst ist eine Kraft. München (Piper)

16 vgl. Czikszentmihalyi, M. (2010): Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile. Stuttgart (Klett-Cotta)

17 vgl. Heckhausen (1980): six-culture-study, 352

3. Der Kreis der Bedürfnisse und Motive

Der Mensch besteht aus Begehren.

Wie sein Begehren, so seine Absicht.

Wie seine Absicht, so sein Handeln.

Wie sein Handeln, so sein Sein.

Upanischaden vi,4,5 (ca. 500 v. Chr.)

Wenn wir davon ausgehen, dass die Grundstrukturen des menschlichen Körpers (was die Existenz, Anordnung und Funktion seiner Organe und Glieder angeht) und des Gehirns (was die Areale und ihre Funktionsweise angeht – nicht die geknüpften Verbindungen, die zumeist erst durch die soziale Interaktion historisch und kulturell beeinflusst entstehen) sich schon vor Hunderttausenden von Jahren entwickelt haben, dann stellt sich die Frage nach der Grundstruktur der Psyche. Wie können wir uns die Struktur der menschlichen Psyche vorstellen, die – analog zum Körper – für alle Menschen gleichermaßen gültig ist?

Fasse ich alle meine Erfahrungen aus der psychologischen Arbeit mit Menschen und meine Erkenntnisse aus Literatur und Forschung zusammen, dann komme ich zu dem Schluss, dass die menschliche Psyche aus Potenzialen besteht, für deren Verwirklichung das Gehirn die Struktur und Funktionen bereitstellt. Diese Potenziale äußern sich in einer Bedürfnis- und Motivstruktur, die menschheitsweit gleich ist – eine Struktur, die kultur- und epochenübergreifend ist und die deshalb zu unserem menschlichen Erbgut gehört, genauso wie die Architektur unseres Körpers oder unseres Gehirns.1

Ich möchte dazu den Vergleich mit dem menschlichen Gesicht ziehen: Alle Menschen, ob Aborigine, Afrikaner, Asiate, Europäer oder Indianer, ob vor vielen tausend Jahren lebend oder heute – alle diese Menschen haben ein Gesicht, das aus Haut, Fleisch und Knochen, zwei Augen, einer Nase und einem Mund besteht. Es sind sehr wenige Grundbestandteile, aus denen sich menschliche Gesichter zusammensetzen. Was das grundsätzliche Vorhandensein dieser Bestandteile eines Gesichts und ihre vorgegebene Anordnungsstruktur angeht, gibt es keinen Unterschied zwischen den Rassen, Ethnien, Kulturen und Völkern aller Epochen der Menschheitsgeschichte des homo sapiens. Und trotz dieser geringen Anzahl von Einzelbestandteilen und ihrer festgelegten Architektur (niemand hat die Nase auf der Stirn oder vier Augen) gibt es Milliarden von unterschiedlichen Gesichtern und selten zwei gleiche.

Mit der Psyche verhält es sich wie mit dem Gesicht. Jede ist einzigartig und man wird kaum zwei wirklich gleiche finden können. Und trotz dieser individuellen Einmaligkeit eines jeden Menschen ist die Grundstruktur und Funktion einer jeden Psyche mit ihren Potenzialen bei allen Menschen gleich. Welzer drückt das so aus: »Unser Gehirn hat sich in den letzten 40 000 Jahren seit Entstehen unserer Gattung auf der Ebene seiner Hardware nicht verändert. Das bedeutet, dass das Kind eines steinzeitlichen Homo sapiens, würde es in unserer Welt aufwachsen, dieselben Fähigkeiten hätte, Jet-Pilot oder Computer-Hacker zu werden, wie jedes andere Kind der westlichen Hemisphäre auch. Umgekehrt bedeutet das, dass – würde man mit der heutigen Physis aufgrund irgendeines H.-G. Wells Zeitmaschinenwunders in die Steinzeit hineingeboren – man sich exakt im Rahmen der kulturellen Bedingungen entwickeln würde, die damals herrschten.«2

Die Grundstruktur unserer Psyche besteht aus wenigen Bedürfnisfeldern, und diese Bedürfnisse bestimmen unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Fühlen, unser Handeln, unsere Eigenschaften und unseren Charakter – einfach alles, was unser Mensch-Sein ausmacht. Alle Gefühle, alles Denken und das Verhalten jedes einzelnen Menschen entsteht aus dieser Bedürfnis- und Motivstruktur, und aus ihr entwickeln sich alle Werte, die in Kulturen und Gesellschaften gebildet, postuliert, gelebt, überhöht oder missachtet werden.

Da wir Menschen zutiefst soziale Wesen sind, ergibt sich die individuelle Einzigartigkeit jeder einzelnen Psyche und Persönlichkeit aus der schlichten Tatsache, dass unser Selbst und unser Ich sich im Kontakt mit unserer Gemeinschaft entwickeln.3 Wie sich unsere Verbindungen im Gehirn gestalten und wie zahlreich die Verbindungen werden, hängt vom Zusammenwirken des Individuums und seiner sozialen Umwelt ab. Wie wir inzwischen wissen, bildet das Gehirn lebenslang neue Verbindungen oder kappt andere – je nach inneren und äußeren Erfahrungen.

Die Verwandlung vom Bedürfnis zum Motiv

Die Bedürfnis- und Motivstruktur unserer Psyche ist das immaterielle Instrument, auf dem alle Kräfte spielen, die uns steuern. Das heißt, alle inneren und äußeren Kräfte, die unser Wahrnehmen und Handeln beeinflussen und steuern, bedienen sich unserer Grundbedürfnisse, die sich in Motive verwandeln und sich dann in Gefühlen, Gedanken, Interessen, Zielen und Handlungen äußern.

Motive sind die Antriebe, die alle unsere Wahrnehmungen und unser Handeln steuern. Das bedeutet, ohne Motive gibt es keine Wahrnehmung und kein Verhalten. Motive sind unsere »Beweger«, sie sind es, die unsere neuronalen Verbindungen aktivieren. Wir können von unbewusstem Verhalten sprechen, aber niemals von unmotiviertem.

Unsere Bedürfnisse sind grundlegend; wir haben sie auch, wenn wir gesättigt sind. Unsere Primärbedürfnisse sind als struktureller Hintergrund (in einem inaktiven Zustand) immer vorhanden. Erst durch einen Mangel, einen Verlust, eine Verführung oder eine Bedrohung werden sie aus ihrem inaktiven Zustand geweckt und verwandeln sich in Motive, die unsere Wahrnehmung und unser Handeln steuern.

Wie die Dynamik zwischen Bedürfnis und Motiv funktioniert, möchte ich an zwei sehr einfachen Beispielen unserer körperlichen Bedürfnisse beschreiben.

Unser Bedürfnis nach Nahrung ist grundsätzlich, wir haben dieses Bedürfnis also auch dann, wenn wir gesättigt sind. Dann spüren wir es nicht und werden nicht unmittelbar von ihm gesteuert. Sinkt jedoch die Befriedigung unter ein bestimmtes Niveau, dann meldet uns unser Körper mit dem Gefühl des Hungers sein Bedürfnis, das sich nun in ein Motiv verwandelt. Nehmen wir unser Hungergefühl wahr, dann fangen wir an, unsere Wahrnehmung auf die Möglichkeiten der Befriedigung zu richten und wir beginnen, entsprechend zu handeln und zwar so lange, bis wir gegessen haben und uns satt fühlen. Um unser Bedürfnis zu befriedigen, müssen wir mit der Umwelt in Kontakt treten, und diese Umwelt beeinflusst natürlich unser konkretes Verhalten. Wie wir dabei mit unserer Umwelt in Kontakt treten, hängt wiederum davon ab, welche inneren Vorstellungen wir bezüglich unserer Selbstwirksamkeit haben und welche äußeren Anreize oder Hindernisse wir antizipieren und tatsächlich vorfinden. (Auf diese Dynamik gehe ich später näher ein.)

 

Ist das Bedürfnis fühlbar befriedigt, zerfällt dieses Motiv als Wahrnehmungs- und Handlungssteuerung, und zurück bleibt im psychophysischen Hintergrund das grundlegende Bedürfnis in seinem inaktiven Zustand. Durch den Zerfall der Motiv-Gestalt wird der Bewusstseins-Vordergrund wieder frei für andere Motive.

Was passiert, wenn ein Bedürfnis lange nicht befriedigt wird und sich dementsprechend immer stärker im Vordergrund fixiert, möchte ich am Gegenpol des Nahrungsbedürfnisses beschreiben: am Bedürfnis, Stoffwechselprodukte abzugeben. Stellen Sie sich vor, Sie bummeln mit ein paar Freunden durch einen großen Bazar, in dem es sehr viele Dinge gibt, die Sie anschauen oder kaufen wollen, und außerdem unterhalten Sie sich angeregt mit Ihren Begleitern. Nun fühlen Sie, dass Sie auf die Toilette müssen (das bisher inaktive Bedürfnis ist energetisiert und zum Motiv geworden). Es drängt noch nicht, aber das Bedürfnis hat sich nun in ein wahrnehmungssteuerndes Motiv verwandelt. Sie schauen sich nach einer Toilette um. Weit und breit nichts zu sehen. Nun wächst das Motiv und wird immer stärker. Es verdrängt allmählich alle anderen Motive aus dem Vordergrund – es wird nun stark handlungsleitend. Sie haben kein Interesse mehr an all den Dingen, die es zu sehen gibt. Es interessiert Sie auch immer weniger das Gespräch Ihrer Freunde – Sie suchen nun aktiv eine Toilette bzw. jemanden, der Ihnen sagen kann, wo Sie eine finden können. Je länger es nun dauert, ohne dass eine Bedürfnisbefriedigung möglich ist, desto stärker wird das Dranggefühl, desto mehr wächst Ihr Motiv, sich zu erleichtern und desto weniger interessiert Sie irgendetwas Anderes. Bevor dieses Bedürfnis nicht gestillt ist, wollen Sie nichts anderes mehr (auf psychische Bedürfnisse bezogen, kann man nun von einer Fixierung sprechen). Das heißt, ein Motiv ist absolut wahrnehmungs- und handlungssteuernd geworden. Wird dieses Bedürfnis nun gestillt – Sie finden eine Toilette und können sich erleichtern – zerfällt die MotivGestalt sofort als Wahrnehmungs- und Handlungssteuerung. Nun können wieder andere Motive in den Vordergrund kommen – jetzt wollen Sie sich z. B. wieder an den schönen Dingen erfreuen, haben wieder Lust, sich zu unterhalten – Ihre Energie ist nun nicht mehr in der Fixierung gebunden, sondern wieder frei für die Verwirklichung anderer Bedürfnisse. Nun können z. B. die Bedürfnisse nach Geselligkeit und Genuss wieder als Motive Ihre Wahrnehmung und Ihr Handeln steuern. Das Grundbedürfnis Stoffwechselprodukte abgeben besteht natürlich weiterhin in Ihrer Bedürfnisstruktur – nun aber in seinem inaktiven Zustand und damit nicht mehr wahrnehmungs- und handlungssteuernd.

Pseudohunger durch Verlockung oder Bedrohung

Nun passiert aber häufig noch etwas anderes: Ohne dass ein tatsächlicher Mangel bestehen würde, kann ein äußerer Reiz zu einem »Pseudomangel« führen, der dann beseitigt werden will. Ein körperliches Beispiel dafür ist, wenn man sich plötzlich, durch den Geruch eines verlockenden Essens angeregt, hungrig fühlt, obwohl man eigentlich satt ist. Ein psychisches Beispiel ist, wenn man sich durch den Vergleich mit jemandem, der mehr besitzt als man selbst, neidisch fühlt und dieses »mehr« nun auch haben will, obwohl man selbst eigentlich genügend besitzt. Steigert sich nun das Gefühl des Neides zur Missgunst, zeigt dies an, dass sich das Bedürfnis fixiert hat und im Vordergrund stehen bleibt und eine zerstörerische Form annimmt, indem es sich zur Habgier entwickelt.

Der Begriff »ein Bedürfnis wecken« drückt aus, dass es um etwas »Schlafendes« geht, das geweckt werden muss, damit es aktiv wird. Dieses Wecken geschieht normalerweise durch den Mangel. Das kann ein echter Mangel sein oder es kann ein vermuteter oder ein suggerierter Mangel sein.

Die Werbung arbeitet genau mit diesem Wissen und versucht, Bedürfnisse zu wecken, indem sie einen Mangel suggeriert oder »noch mehr vom Guten« verspricht. Das bedeutet nichts anderes, als den Versuch, ein Bedürfnis aus seinem inaktiven Grundstatus in ein aktives Motiv zu verwandeln, das dann den Menschen über ein entsprechendes Gefühl zum Handeln bewegen soll. Werbung ist also das Bemühen, Bedürfnisse zu wecken, auch wenn sie gerade gar nicht aktiv sind. Durch die Verlockung einer Bedürfnisbefriedigung wird ein Pseudohunger erzeugt und zugleich versprochen, diesen Hunger mit einem bestimmten Produkt stillen zu können. Parfüms versprechen sexuelle Attraktivität; Automarken versprechen Prestige, Sicherheit oder Spaß – je nach Zielgruppe; Versicherungen versprechen, gegen die Risiken des Lebens abzusichern, Reiseveranstalter bedienen das gegenteilige Bedürfnis und versprechen Abenteuer und Genuss usw.; Banken locken mit der Vermehrung unseres Besitzes; und Nahrungsmittel- und Getränkehersteller versprechen die freudvolle Gemeinschaft, harmonisches Familienleben oder Spaß im Freundeskreis.

Die andere Variante, mit der ein Pseudomangel bei einem eigentlich befriedigten Grundbedürfnis hervorgerufen wird, ist die Angstmache, die uns einen drohenden Verlust suggeriert. (Z. B. die Werbung von Versicherungen, die eine Bedrohung suggerieren und versprechen, diesen Verlust zu verhindern oder, falls er tatsächlich eingetreten ist, ihn zu kompensieren.) Wenn uns von außen gedroht wird oder wir uns innerlich eine Bedrohung ausmalen, dass wir die Befriedigung eines Grundbedürfnisses verlieren, dann fühlen wir Furcht bzw. Angst (von Furcht spricht man bei einer realen Bedrohung von außen, Angst entsteht durch die innere Vorstellung einer Bedrohung). Furcht und Angst werden häufig als starke Motive wahrgenommen – tatsächlich sind sie nur das Signal, das Kommunikationsmittel, mit dem der Organismus auf einen drohenden Verlust einer Bedürfnisbefriedigung aufmerksam macht.

Die Motive sind also die energetisierten Bedürfnisse, die nicht mehr genügend befriedigt sind oder die durch äußere Reize (Verlockung oder Bedrohung) aus ihrem inaktiven Zustand geweckt worden sind. Sie wachsen und werden größer, je länger die Bedürfnisbefriedigungen auf sich warten lassen (dann sprechen wir z. B. von starken Motiven). Sie äußern sich über Empfindungen, Gefühle und Gedanken, mittels derer diejenigen Interessen und Ziele angesteuert werden, von denen wir uns Befriedigung versprechen.

Wie diese Interessen und Ziele aussehen, hängt von den kulturellen und historischen Gegebenheiten ebenso ab wie von den individuellen Bedingungen, mit denen der Einzelne gelernt hat, wie er bestimmte Bedürfnisse befriedigen kann. So dachte der mittelalterliche Mensch aufgrund der historischen Gegebenheit sicher nicht an einen Airbag, um sein Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, und eine chinesische Wanderarbeiterin wird ihre existenzielle Sicherheit derzeit nicht in einem Rentenfond suchen. Doch auch bei gleichen kulturellen und historischen Gegebenheiten sind die individuellen Interessen und Ziele beim gleichen Bedürfnis sehr unterschiedlich. So kann jemand z. B. gelernt haben, dass nur die »eigene Waffe« Sicherheit gibt, während ein anderer vielleicht überzeugt ist, dass vor allem »Bildung« Sicherheit gibt, und wieder ein anderer sieht seine Sicherheit nur durch »Verbündete« gewährleistet. Das sind natürlich nur sehr plakative Beispiele, die sich in der psychischen Wirklichkeit wesentlich komplexer gestalten, insofern als mit den jeweiligen Interessen und Zielen meist gleichzeitig mehrere Bedürfnisse befriedigt werden sollen oder aber gegensätzliche Bedürfnisse sich blockieren und der innere Konflikt zu einer Lähmung oder einem inadäquatem Verhalten führt.

Neben den zuvor genannten Bedingungen spielt auch die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen eine große Rolle. Ist sie weit fortgeschritten in Richtung Weisheit und Integrität, werden die Interessen und Ziele, durch die dieser Mensch seine Grundbedürfnisse befriedigen will, ganz anders aussehen, als bei jemandem, dessen Persönlichkeitsentwicklung noch unreif oder gestört ist. Wobei Reife in diesem Sinne nichts mit dem Lebensalter zu tun hat – es gibt alte Menschen, deren Persönlichkeitsentwicklung stecken geblieben ist in starren Korsetten einer ideologischen Sozialisation, und es gibt Menschen, die sich schon in jungen Jahren zu einer reifen und weisen Persönlichkeit entwickelt haben.

Die uns bewegenden Motive sind also die durch Mangel, Verlockung oder Bedrohung aktivierten Grundbedürfnisse.

Neben den uns bewussten Motiven gibt es aber auch noch die unbewussten fremden Kräfte, die auf uns einwirken, indem sie sich unserer Bedürfnisstruktur bedienen. Da diese Bedürfnisstruktur universal ist, kann es leicht passieren, dass wir fremde Bedürfnisse irrtümlich als unsere eigenen wahrnehmen und uns in der Folge von fremden Motiven steuern lassen, während wir uns dabei in der Illusion wiegen, wir handelten aus eigenem Antrieb. Auf dieses Thema der unbewussten Fremdbestimmung gehe ich in den Kapiteln Der Kampf um den freien Willen und Gedankenwelten näher ein. Dass wir so anfällig sind, fremde Bedürfnisse und Motive für die eigenen zu halten und uns davon unbewusst steuern zu lassen, liegt daran, dass die Grundstruktur der Bedürfnisse bei allen Menschen die gleiche ist.

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