Ready to Eat

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Ready to Eat
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Inhalt





Vorwort







Einleitung







Ready to Eat







Teil I







Grundzüge der modernen Ernährung







Die Entstehung der modernen Ernährung







Von Birchers Müesli zu Kellogg’s Cornflakes: Reformen in Europa und den USA







Europäische Ernährungskonzepte







Die Entstehung eigenständiger Ernährungskonzepte in den USA







Vom Eiweissdogma zur «Vitamania»







Ernährung im Banne der Industrie







Vereinheitlichung, Assimilierung, Amerikanisierung







Kellogg erfindet das Frühstück neu







Ernährung im Zeitalter von Massenkonsum und American way of life







Was sind amerikanische Essgewohnheiten?







Teil II







Vorbild Amerika







Push- und Pullfaktoren der Amerikanisierung







Fünf Sphären des Einflusses







Lebensmittelverarbeitung im Zeitalter von Fliessband und Automaten







Erfolgreich vermarktet: Werbung und Marktforschung







Scientific merchandising: Selbstbedienung und Supermärkte







Ready to heat! Mehr Zeit für den Haushalt







Ready to eat! Die Essgewohnheiten wandeln sich







Fünf Geschichten des Einflusses







«Aus der amerikanischen Party-Küche»: Zweifel Pomy-Chips







Hafermühle Lützelflüh: Aus Haferflocken werden Cornflakes







Nestea Eistee: eine schweizerischamerikanische Erfindung







Unerwünscht: J. Walter Thompson in der Schweiz







Von Vivi-Kola zu Coca-Cola: Trinkgewohnheiten im Wandel







Teil III







Widerstand gegen die Amerikanisierung







Kampf gegen die Coca-Colonisierung 1949/50







Die Anti-Coca-Cola-Kampagne der Getränkeindustrie







Coca-Cola wird zur aussenpolitischen Affäre







Die Interpellation Geissbühler und die innenpolitischen Folgen







Die Coca-Cola-Affäre im antiamerikanischen Kontext







Bundesrat Etters Plan zum Schutz einheimischer Obstsäfte – ein Nachtrag







Fazit







Amerikanisierung oder Verschweizerung?









Anhang







Forschungsstand und Quellenlage







Anmerkungen







Abkürzungen







Quellen







Archive und Privatsammlungen







Mündliche Quellen







Websites sowie digitale Datenbanken und Lexika







Videoportale, Radio- und Fernsehbeiträge







Gedruckte Quellen







Literatur und Darstellungen







Abbildungen







«Ready to eat» beziehungsweise «Ready to eat meals» oder «Ready to eat foods» bezeichnet im amerikanischen Sprachgebrauch Fertiggerichte aller Art, die zubereitet und portioniert im Supermarkt gekauft und entweder sofort konsumiert oder aber in der Mikrowelle oder im Ofen aufgewärmt werden. Die Palette an Fertiggerichten ist in amerikanischen Supermärkten gross. Sie reicht von einfachen Dosenprodukten über gefriergetrocknete Suppen und Pastagerichte bis hin zu vollständigen Tiefkühlmenüs, angerichtet auf Plastiktellern und in abgetrennten Bereichen – alles «ready to heat», bereit zum Aufwärmen. Die Tiefkühlabteilung amerikanischer Supermärkte nimmt flächenmässig je nach Region und Supermarktkette etwa gleich viel Platz ein wie alle übrigen Food- und Nonfood-Abteilungen zusammen. Das Sortiment für Ready to eat meals türmt sich in endlos wirkenden Reihen von überdimensionierten Gefrierschränken. Das Angebot ist grenzenlos – es gibt nichts, was es nicht gibt. Diese Dimensionen sind – hat man es nicht selbst erlebt – kaum vorstellbar. Die Abteilungen für Fertiggerichte in hiesigen Supermärkten sind dagegen Miniaturen und schon fast banal. Dennoch basieren die Ausgestaltung des Sortiments, die Anordnung der Regale, das Konzept der Selbstbedienung, ja sogar die neusten Selfcheckout-Kassen auf den Errungenschaften der amerikanischen Vorbilder. Für das vorliegende Buch habe ich mich intensiv mit solchen amerikanischen Errungenschaften, aber auch mit amerikanischen Lebensmitteln und Gerichten und ihrer globalen Ausstrahlungskraft auseinandergesetzt – nicht nur im wissenschaftlichen Sinn, sondern zunehmend auch im Alltag. Ich habe versucht herauszufinden, warum die Amerikaner bis heute so erfolgreich sind bei der Verbreitung ihrer Ideen, Werte und ihrer Lebensweise. Zudem wollte ich wissen, warum wir so hungrig sind auf alles, was von «drüben» kommt, die amerikanische Kultur aber gleichzeitig auch belächeln oder gar verachten.



Je länger ich mich mit diesen Fragen auseinandergesetzt habe, desto schwieriger fiel mir eine Antwort und desto mehr hat mich das amerikanische Selbstverständnis und der American way of life in seinen – durchaus ambivalenten – Bann gezogen. Insofern sind die hier präsentierten Ergebnisse über die transatlantischen Beziehungen und die wechselseitige Beeinflussung ein vorläufiger Bericht meiner Erkenntnisse und noch lange nicht abgeschlossen.



Ich danke all jenen, die mich auf kleineren oder grösseren Abschnitten meiner transatlantischen Entdeckungsreise begleitet und massgeblich zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Namentlich danke ich den Professoren Jakob Tanner und Frank Trentmann, die «Ready to Eat» als Dissertation kritisch und wohlwollend begleitet haben. Jakob Tanner danke ich für seine zahlreichen und richtungsweisenden Inputs, Frank Trentmann für die spannenden Gespräche in London und die wertvollen Hinweise und Anregungen.



Ein grosser Dank geht an all jene, die mir bei den Recherchen in den verschiedenen Archiven und Bibliotheken in der Schweiz, in den USA und in England geholfen haben. Tricia Terrell danke ich dafür, dass sie so hartnäckig mit dem Archivar des Coca-Cola-Archivs in Atlanta verhandelte und nicht locker liess, bis dieser ihr den Hinweis auf den Nachlass des ehemaligen Coca-Cola-Präsidenten, Robert Woodruff, in der Manuscript, Archives, and Rare Book Library der Emory University gab. Hier stiess ich schliesslich auf das Dossier «Campaign against Coca-Cola in Switzerland», das mein Buch um ein zentrales Kapitel bereichert hat. Sabina Bellofatto, Franziska Egli, Adrian Hänni, Eveline Hipeli, Simon Hofmann, Konrad Kuhn, Ariane Knüsel, Lea Moliterni, Oliver Schneider, Johannes Theler, Roman Wild und Julia von Wyl Anderegg danke ich für die kritische Lektüre des Manuskripts. Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinem Vater, Hans Peter von Wyl, der nicht nur das ganze Manuskript in einer ersten Fassung Korrektur gelesen hat, sondern eine grosse Hilfe war beim Entziffern des Amtsfranzösischen und des französischen Telegrammstils der 1940er- und 1950er-Jahre. Meiner Mutter, Bernadet Habermacher, danke ich für die bunten thematischen Inputs in Form von Postkarten, Werbeprospekten und Trouvaillen wie dem Kellogg’s Rice Krispies T-Shirt.

 



Ein Dank geht auch an den Verlag Hier und Jetzt für die Aufnahme dieses Buchs in sein Programm und die Begleitung auf der allerletzten Etappe meines transatlantischen Unterfangens.



Für die finanzielle Unterstützung während der Recherchearbeit danke ich insbesondere dem Schweizerischen Nationalfonds und der Salomon David Steinberg-Stipendien-Stiftung.



Meinen letzten und tiefsten Dank richte ich an meinen Mann David Dürrenmatt. Er hat meinetwegen nicht nur unzählige Stunden im Flugzeug verbracht, sondern hat mich während des ganzen Dissertations- und später Buchprojekts in jeglicher Hinsicht unterstützt und vorangetrieben.





Eva Maria von Wyl



Zürich, März 2015





Einleitung

Ready to Eat








Abb. 1: Zweifel Chips – eine zeitsparende Menübeilage, Werbeplakat von 1974.



Pommes-Chips als Beilage zum Poulet, zum Steak oder zu grilliertem Fleisch und Würsten, Pommes-Chips zum Apéro, Pommes-Chips fürs Picknick, Pommes-Chips zum Fernsehen, Pommes-Chips als Party-Snack … Pommes-Chips sind längst fester Bestandteil der Essgewohnheiten in der Schweiz geworden, und ihrem Einsatz sind – wie die Beispiele zeigen – keine Grenzen gesetzt. Was heute so alltäglich, fast schon gewöhnlich klingt, musste den Konsumentinnen und Konsumenten jedoch zuerst «beigebracht» werden. Als die Mosterei Gebr. Zweifel, ein Familienunternehmen im zürcherischen Höngg, gegen Ende der 1950er-Jahre von einem verwandten Bauer vier Hotelfritteusen und das Rezept für die Verarbeitung von Kartoffeln zu frittierten Kartoffelscheibchen erbte, war der amerikanische Snack in der Schweiz noch praktisch unbekannt. Nur ein paar Beizen und Restaurants in der Umgebung kannten Bauer Meiers «Pomy-Chips» und servierten sie ihren Gästen. Hansheinrich Zweifel, dem Sohn des Mostereibesitzers, war klar: Wenn er mit der Produktion von Chips ein neues Firmenstandbein aufbauen wollte, musste er seine Pomy-Chips unter die Leute bringen und die Produktion ausbauen. Auf einer ausgedehnten USA-Reise besuchte er im Sommer 1959 amerikanische Chips-Fabriken, tauschte sich mit seinesgleichen aus und lernte eine Menge über amerikanische Vermarktungsstrategien. Zurück in der Schweiz, machte er sich daran, die Schweiz mit amerikanischen Tischsitten vertraut zu machen. Auf Broschüren und Flyern druckte die Firma Zweifel Rezeptvorschläge und pries Pomy-Chips als amerikanischen Party-Snack und zeitsparende Menübeilage an (Abbildung

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). Völlig gegen die damals gängigen Tischregeln verstossend, forderte Zweifel seine Kundinnen und Kunden auf, die Chips mit blossen Händen zu essen – ganz nach amerikanischem Vorbild eben. Nichtsdestotrotz brauchte es nicht lange, bis die Schweizerinnen und Schweizer Gefallen fanden an diesem amerikanischen Snack und den damit einhergehenden amerikanischen Sitten.



Zweifels grösster Erfolg war indes die Idee mit der zeitsparenden Menübeilage – die Kombination von Chips und Grillpoulet beziehungsweise Chips und Grilladen eroberte die Schweizer Haushalte im Sturm und wurde gar zu einer Art Nationalgericht. Nirgendwo sonst, weder in den USA noch in den benachbarten europäischen Ländern, werden Chips als Beilage zu Fleischgerichten gegessen – sie sind dort hauptsächlich ein Snack für zwischendurch, für Partys oder zum Apéro. Damit trug die Firma Zweifel nicht nur zur Verbreitung eines amerikanischen Snacks und amerikanischer Essgewohnheiten bei, sondern schuf auf Basis eines Produkts amerikanischer Herkunft neue schweizerische Essgewohnheiten.



Eng mit der Etablierung amerikanischer Essgewohnheiten verbunden sind auch Innovationen im Bereich der Lebensmittelproduktion, der Werbung, des Verkaufs und der Zubereitung von Nahrungsmitteln. «Ready to Eat» untersucht, wie die amerikanische Kultur und Wirtschaft die Essgewohnheiten in der Schweiz im weitesten Sinn beeinflussten. Es behandelt den Zeitraum von 1948 – als Eckdatum für die vollständige Aufhebung der Lebensmittelrationierung – bis zur Ölkrise von 1973 und bezieht sich in erster Linie auf die Schweiz als geografischen Untersuchungsraum. Wo gegeben, werde ich jedoch auch Vergleiche mit den Nachbarländern ziehen und Parallelen beziehungsweise Unterschiede zwischen der Schweiz und anderen europäischen Ländern aufzeigen.



Obwohl davon ausgegangen werden muss, dass die Essgewohnheiten in der Schweiz traditionellerweise von Region zu Region unterschiedlich sind und Ernährungsbestandteile und -rhythmen zum Teil sehr stark voneinander abweichen können, ist die Herausarbeitung der Gegensätze und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Regionen punkto Ernährung nicht Gegenstand von «Ready to Eat». Stattdessen orientiert sich die Studie an modernen, industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln und national agierenden Nahrungsmittelunternehmen, die tendenziell sogar eher in Richtung einer Harmonisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz wirkten. Auf Basis von Massenproduktion und verkaufsfördernden Massnahmen wie Werbung und Marketing zielte die Nahrungsmittelindustrie darauf hin, einen möglichst grossen, überregionalen Markt anzusprechen, und generierte damit neue, überregionale oder gar globale Ess- und Trinkgewohnheiten.



Die Basis für die Untersuchung bildet die Vorstellung, dass sich die Essgewohnheiten in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg parallel zur Entstehung der modernen Massenkonsumgesellschaft grundlegend verändert haben und dass die USA dabei eine zentrale Rolle spielten. Die neue Wirtschaftsmacht USA und der American way of life stellten, so die These, einerseits ein wichtiges Leitbild für die hiesige Wirtschaft und Gesellschaft dar, andererseits waren die USA ihrerseits während des Kalten Kriegs bestrebt, auf die europäischen Länder und deren Wirtschaft und Kultur gezielt Einfluss zu nehmen. Ziel ist, herauszuarbeiten, welche Rolle die amerikanische Wirtschaft, Lebensweise und Esskultur bei der Etablierung neuer Essgewohnheiten und Konsummuster in der Schweiz spielten. Oder anders ausgedrückt: Inwiefern wurden der American way of life und der dazugehörige Ernährungsstil zu einem Leitbild für die Essgewohnheiten in der Schweiz? Wie und auf welchem Weg wurden amerikanische Essgewohnheiten übernommen und gegebenenfalls an die eigenen Bedürfnisse angepasst? Wurden die hiesigen Essgewohnheiten tatsächlich «amerikanisiert»? Oder handelte es sich nicht viel eher um eine «Verschweizerung» amerikanischer Gewohnheiten? Welche Rolle spielten amerikanische Firmen bei der Einführung amerikanischer Konsummuster und Nahrungsmittel? Und welchen Anteil hatten Schweizer Unternehmen bei der Etablierung neuer Essgewohnheiten?



Um diese Fragen zu beantworten, habe ich fünf Sphären des amerikanischen Einflusses definiert, die entlang der industriellen Nahrungsmittelkette verlaufen: die Lebensmittelindustrie, die Werbung und Vermarktung, der Lebensmittelhandel, die Zubereitung und die Essgewohnheiten im engsten Sinn. Abbildung

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 zeigt die fünf Sphären als Modell. Die Darstellung dient in erster Linie dazu, die Vielschichtigkeit des amerikanischen Einflusses abzubilden.



Die Herstellung von Lebensmitteln markiert nicht nur den Anfang des hier verwendeten Ausschnitts der industriellen Lebensmittelkette, sondern sie wird innerhalb des Sphärenmodells auch als erste von der Amerikanisierung erfasst. Bereits in der Zwischenkriegszeit finden amerikanische Konzepte, Technologien und Methoden Eingang in die europäische Produktion. Die amerikanische Industrie zeichnete sich durch einen hohen Grad an Standardisierung, Technisierung und Rationalisierung aus und bildete so die Grundlage für die Massenproduktion. Die Aushängeschilder für diese Entwicklung sind bekanntlich Taylor und Ford. Eingang in die Schweizer Nahrungsmittelindustrie fanden amerikanische Produktionsmethoden jedoch erst in den 1950er-Jahren, als die industrielle Verarbeitung von Nahrungsmitteln an Bedeutung gewann und sich auszudifferenzieren begann.



Die riesigen Produktionskapazitäten der amerikanischen Industrie wiederum benötigten ein adäquates Vertriebs- und Verkaufssystem. Auch dafür fanden die Amerikaner kurz nach der Jahrhundertwende die ideale Lösung: Selbstbedienung und Supermärkte. Der Durchbruch dieser Innovationen gelang in der Schweiz nach anfänglichem Widerstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Pionier und zugleich Sündenbock für die «Veramerikanisierung»

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 des Detailhandels war der bekannteste Schweizer Detailhändler, die Migros.








Abb. 2: Vereinfachtes Schema des Sphären-Modells: Die Werbung agiert als kommunikative Brücke zwischen Produzenten und Konsumenten.



Nach und nach waren in der Schweiz die Einflüsse des American way of life auch bei der Zubereitung von Mahlzeiten sowie den Gewohnheiten in Bezug auf das Essen an sich zu beobachten. Obwohl die Schweiz mit Nestlé und Maggi zu den Pionieren der Nahrungsmittelindustrie gehörte, schaffte das Convenience food, das in den USA bereits seit den 1930er-Jahren weit verbreitet war, den Durchbruch hierzulande erst im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre. Erst der enorme wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg schuf diejenigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die für einen breiten Markt für Konservennahrung, Tiefkühlnahrung und Fertigprodukte notwendig waren: Wohlstand, «Englische Arbeitszeit» mit kurzen Mittagspausen, Berufstätigkeit von Müttern, Freizeitgesellschaft. In den Zeitschriften und Illustrierten wimmelt es im Untersuchungszeitraum von Berichten über den American way of life, von amerikanischen Rezepten und von Inseraten für die neusten Errungenschaften der Nahrungsmittelindustrie.



Ein Element, das sich über alle fünf Einflusssphären hinwegzieht, ist der Gedanke der Rationalisierung beziehungsweise der Optimierung, Standardisierung, Uniformierung. Das damit verbundene Prinzip der Effizienz- und Produktionssteigerung wird in diesem Kontext sozusagen zu einem Merkmal des American way – und zwar sowohl in der Wahrnehmung der Europäer als auch aus Sicht der Amerikaner, die mit der Marshallhilfe und der Productivity Mission die Europäer geradezu dazu erziehen wollen.



Mit dem Modell der fünf Einflusssphären verzichte ich bewusst auf den Miteinbezug von Rohstoffen beziehungsweise der Agrarproduktion. Zum einen, weil es in diesem Buch nicht um die Thematik globaler Warenströme und Märkte geht, bei denen insbesondere Rohstoffe wie Zucker, Gewürze oder auch Kaffee im Fokus stehen. Vielmehr geht es um die hochkomplexen Lebensmittel der industriellen Massenproduktion, wie sie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung treten. Im Gegensatz zu Rohstoffen, die seit der Antike Gegenstand globaler Märkte waren, gerade in früheren Jahrhunderten meist als Luxusgüter gehandelt wurden und zu individualisierten, regional unterschiedlichen Produkten (weiter)verarbeitet werden können, handelt es sich bei den industriellen Nahrungsmitteln um relativ neue, standardisierte, oft auch rationalisierte und anonymisierte Massenprodukte, die explizit eine breite Gesellschaftsschicht erreichen sollen und meist mehr leisten (müssen) als blosse Sättigung.

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Dies bringt mich zu einem weiteren Grund für die Fokussierung auf die industrielle Nahrungsmittelkette: Im Vordergrund steht nicht der Import von amerikanischen Produkten an sich, sondern vielmehr der Transfer des American way of life und damit verbunden der Transfer von Methoden, Konzepten und Wertvorstellungen über die Lebensmittel sowie deren Produktion, Vertrieb und Konsum. Indem Nahrungsmittel mit bestimmten Botschaften, Dienstleistungen und Funktionen versehen werden, werden sie von blosser Nahrung zu einem Übermittler von Werten und Gewohnheiten von einer Kultur auf eine andere. Ein besonderer Stellenwert kommt hierbei dem Markenprodukt und der Werbung zu. Insbesondere die Werbung fungiert in diesem Kontext als Bindeglied zwischen der Produktion und dem Verkauf von Gütern. Zusammen mit dem Konzept der Marke wirkt sie als Vermittlerin von Botschaften und kreiert ganz gezielte Images. Unter anderem auf diesem Weg beeinflusste die amerikanische Kultur auch die Essgewohnheiten in der Schweiz. Axel Schild spricht in diesem Zusammenhang auch von «gelenkter Werbung für die amerikanischen Leitbilder» sowie von «Konsumpropaganda».

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 Die Werbung indes hat nicht nur eine Vermittlerrolle beim Transfer von Konsumgewohnheiten von den USA nach Europa, sie ist in ihrer modernen Ausführung selbst ein Produkt der amerikanischen Wirtschaft und wird als solches von den Europäern kopiert und adaptiert – genauso wie zahllose andere Produkte und Dienstleistungen.

 



Konsummuster einer ganzen Gesellschaft verändern sich allerdings kaum schlagartig, sondern unterliegen einem langjährigen Prozess und gehen mit wirtschaftlichen, mentalen und auch technischen Veränderungen einher. Gerade bei der Ernährung, die eng mit kulturellen Traditionen und Identitäten verbunden ist, können solche Veränderungen neben Neugier und Nachahmungswillen auch Kritik und Abwehr auslösen, gerade auch dann, wenn sie in einem hohen Tempo vonstattengehen und/oder ein kritisches Ausmass erreicht haben. Besonders heftige Reaktionen können Veränderungen auch auslösen, wenn sie nicht von innen heraus wachsen, sondern von aussen oder in Form von kulturellen und wirtschaftlichen Fremdeinflüssen angestossen werden. Die Furcht vor einem Identitätsverlust ist dabei genauso entscheidend wie die Angst vor Souveränitätseinbussen. Mehr noch: Die kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse der USA führten dazu, dass man sich des Eigenen beziehungsweise des als schweizerisch Empfundenen stärker bewusst wurde. Die Fremdeinflüsse riefen somit eine verstärkte Wahrnehmung dessen hervor, was lokal und deshalb besonderes und identitätsstiftend war. Als Reaktion auf die Fremdeinflüsse fand also eine Art Nationalisierung in Bezug auf Nahrungsmittel statt. Und dieses Bewusstsein über die eigenen Traditionen wiederum führte dazu, dass man dieses zu schützen versuchte und gleichzeitig die amerikanischen Einflüsse abgelehnte oder gar bekämpfte.



Fünf solcher Geschichten des amerikanischen Einflusses werden in «Ready to Eat» erzählt. Es handelt sich dabei entweder um Produkte, die von amerikanischen Firmen in der Schweiz eingeführt wurden, oder um Produkte mit amerikanischen Wurzeln, die von einheimischen Firmen auf den Schweizer Markt gebracht wurden. Dabei zeigt sich eindrücklich, dass sich der Prozess der Übernahme und Implementierung selten auf das Produkt und den Konsum desselben beschränkte, sondern zumeist Veränderungen in weiteren Bereichen nach sich zog. Ein Zitat aus einer Marktstudie aus den 1970er-Jahren über das Aufkommen amerikanischer Softdrinks vermag dies zu illustrieren:



«Aber auch auf einem andern Gebiet brachten diese amerikanischen Wasser eine Veränderung. Sie gingen Hand in Hand mit amerikanischem Management, amerikanischen Partygewohnheiten, kurz dem gesamten amerikanischen ‹way of life›, welcher zum modernen Lebensstil ganz allgemein wurde. Überall wo moderndes Leben Einzug hielt, feierten die ‹soft-drinks› Erfolge.»

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Die fünf Beispiele geben ein eindrückliches Bild davon ab, in welch unterschiedlichen Formen sich der amerikanische Einfluss in der Schweiz bemerkbar machte.



«Ready to Eat» basiert auf weiten Strecken auf meiner Dissertation, die ich im Januar 2014 an der Universität Zürich eingereicht habe. Für die vorliegende Publikation habe ich den Titel abgeändert und das Manuskript überarbeitet. Der ursprüngliche Titel der vorliegenden Studie war als Frage formuliert: «Ready to Eat! Amerikanisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz?» Er stellte die Bedeutung und das Ausmass des amerikanischen Einflusses bewusst infrage: Wurden die Essgewohnheiten in der Schweiz der Nachkriegszeit tatsächlich amerikanisiert, wie es von Kritikern behauptet wurde? Damit wird deutlich, dass der Begriff beziehungsweise die These der «Amerikanisierung» einer Präzisierung bedarf. Angesichts der zahlreichen Studien, die diesen Begriff in Bezug auf unterschiedlichste Fragestellungen verwenden,

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 ist es unerlässlich, sich Gedanken über die Bedeutung und Funktion von Amerikanisierung für die eigene Arbeit und Fragestellung zu machen.



Zunächst einmal kann der Begriff der Amerikanisierung beziehungsweise der Americanization je nach Kontext ganz andere Prozesse beschreiben. Vor dem Hintergrund einer Verschmelzung verschiedener ethnischer Identitäten aufgrund der Einwanderung verstehen etwa die Amerikaner unter Amerikanisierung in erster Linie die Herausbildung einer einheitlichen amerikanischen Kultur beziehungsweise die Herausbildung einheitlicher amerikanischer Essgewohnheiten. Der Begriff beschreibt in diesem Kontext die Entstehung des viel diskutierten amerikanischen Schmelztiegels.

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Aus europäischer Perspektive hingegen beschreibt der Begriff die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur, dem American way of life, mit amerikanischen Wirtschafts- und Geschäftspraktiken sowie mit dem amerikanischen Einfluss auf andere Nationen und Kulturen. Doch auch innerhalb der europäischen Perspektive gibt es eine breite Palette von Fragestellungen, die sich mit Amerikanisierung auseinandersetzen. Victoria de Grazia macht in ihrem bibliografischen Essay über Amerikanisierung nicht weniger als acht (historische) Forschungsfelder aus, die sich mit dem Begriff und dem damit verbunden Prozess auseinandersetzen, wobei sich einige auch mindestens teilweise überschneiden. Es wird aber deutlich, dass es prinzipiell drei Ebenen gibt, auf denen Amerikanisierung untersucht wird: kulturell, wirtschaftlich und politisch. Wobei je nachdem das amerikanische Sendebewusstsein beziehungsweise die Imperialismus-Perspektive oder aber der europäische Nachahmungswille beziehungsweise die USA als Leitnation die Untersuchungsperspektive vorgeben.

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Typischerweise kommt bei all jenen Studien, die sich mit Amerikanisierung als Transfer- und Vermittlungsprozess auseinandersetzten, die Bedeutung von Stereotypen sehr deutlich zum Vorschein.

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 Sie werden zu einer Art Definition des Amerikanischen, und sie markieren gleichzeitig die Unterschiede zwischen dem European way und dem American way. In diesem Sinne werden sie zu einem Instrument, um den Grad der Amerikanisierung zu messen, oder, in den Worten von Christian Kleinschmidt, zu einem «Hilfsmittel zur Interpretation des Fremden».

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 Auch die vorliegende Untersuchung ist nicht vor Stereotypen gefeit – im Gegenteil, ich werde mir diese ganz bewusst zunutze machen. Denn sowohl die Befürworter als auch die Kritiker der amerikanischen Einflüsse beziehen sich, so die hier zugrunde liegende These, in ihrer Interpretation des Amerikanischen auf Klischees und Stereotype. In ihrem Diskurs über das Amerikanische festigen sie zudem bestehende Stereotype und bilden gleichzeitig neue.



Beim Begriff «Amerikanisierung» schwingt jedoch immer auch etwas Negatives mit. Insbesondere im hier relevanten Zeitraum der 1950er- und 1960er-Jahre wird Amerikanisierung oder auch «Veramerikanisierung» vorderhand negativ gebraucht. Der Begriff wird dort zum Ausdruck der Angst vor der Verdrängung eigener Traditionen durch (barbarische) fremde Lebensweisen, Güter und fremdes Gedankengut. Er steht in diesem Kontext für amerikanischen Kultur- und Wirtschaftsimperialismus, aber auch für amerikanischen Kapitalismus, gnadenlosen Wettbewerb, zügellosen Materialismus, Wegwerfmentalität und Überfluss. Gerade vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit amerikanischen Einflüssen stellt sich deshalb auch die Frage nach der Tiefe des Eindringens der amerikanischen Einflüsse und deren Nachhaltigkeit. Der Begriff «Amerikanisierung», und noch stärker der Begriff «Veramerikanisierung», erweckt den Eindruck der totalen Übernahme amerikanischer Gewohnheiten, Denk- und Handlungsweisen – gerade wenn man sich in Erinnerung ruft, wofür der Begriff Americanization im Amerikanischen steht. Dass es sich jedoch nur um eine graduelle Übernahme amerikanischer Techniken, Strukturen, Lebensweisen und Essgewohnheiten handelte, werde ich im Verlauf meiner Untersuchung immer wieder zeigen. Der amerikanische Kulturhistoriker Richard Pells kritisiert in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der These der Amerikanisierung Europas um einen «powerful and enduring myth», also um einen einflussreichen und beständigen Mythos handle, der nicht zuletzt von den Europäern selbst hochgehalten werde, um eine Erklärung dafür zu finden, warum sich die europäische Gesellschaft in einer als mitunter schlecht empfundenen Art und Weise veränderte.

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 Pell