Buch lesen: «Gleich knallt's»

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Über dieses Buch

Ein Gewitter zieht auf, als Lotte und Gabi aufeinander prallen. Dass es gleich knallt, ist vorprogrammiert, denn unterschiedlicher können Frauen nicht sein. Die eine robust, mit beiden Beinen im Leben, altgediente Krankenschwester auf der Chirurgischen und Motorradfreak. Die andere perfekte Hausfrau, kultiviert und vornehm, Repräsentantin an der Seite ihres Ehegatten. Zu dumm, dass ausgerechnet der jetzt auf Gabis Station liegt.

In diesem Buch knallt es deshalb immer wieder, bis beim finalen „Urknall“ die Polizei eingreift …

EVA ENCKE & ROSWITHA KOERT

Gleich knalltʼs

Roman

© 2014


1. Auflage Oktober 2013

©2014 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:

OCM GmbH, Dortmund

Verlag:

OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

Printed in Germany

ISBN 978-3-942672-23-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

Teil 2

Epilog

„Wenn das Leben dir eine Zitrone gibt,

mach Limonade daraus!“

Virginia E. Wolff

Prolog

Sie klopfte kurz an die Tür, dann drückte sie zaghaft die Klinke herunter und betrat den Raum.

Sie hasste es, zu spät zu kommen. Aber verdammt noch mal, sie hatte halt so lange nach einem Parkplatz suchen müssen!

Ihr Blick fiel auf die Reihe unterschiedlichster Körper, die sich in mehr oder weniger grazilen Posen zu einer lauten Musik bewegten. Das aggressive Geschrei einer Pop-Diva, die irgendetwas über einen „Boy“ sang, dröhnte in ihren Ohren.

Nun los, willst du hier Wurzeln schlagen, herrschte sie sich selbst an, blieb aber gleich nach dem ersten Schritt wieder stehen. Verdutzt starrte sie auf eine geduckte Gestalt, die sich langsam rückwärts auf sie zubewegte.

Das ist genau so ein armes Schwein wie ich, die möchte sich auch am liebsten in einem Mauseloch verkriechen, schoss es ihr durch den Kopf. Erst dann sah sie den Grund, warum diese Frau sich unsichtbar machen wollte. Ihre Gymnastikhose war genau in der Mitte von der Taille bis zum Zwickel aufgerissen, ein dickes weißes Hinterteil mit Cellulitis-Spuren wie auf einer Landkarte quoll aus dem Kleidungsstück heraus. Durch die Po-Rille wand sich ein aufgeribbelter Strick, wohl Teil eines String-Höschens. Sie musste grinsen. Als die Frau ihr den Kopf zuwandte, hielt sie für einen Moment den Atem an. Das war doch diese … diese Gans, die sie immer so von oben herab behandelt hatte.

„Was machen Sie denn hier? Und dann mit nacktem Hintern?“

Sie hatte vergessen, dass sie sich gerade noch verstecken wollte. Vergessen hatte sie auch, dass sie bei ihrem letzten Zusammentreffen Burgfrieden mit der Gans geschlossen hatte.

Das hier war ihr Auftritt. Endlich konnte sie sich an dieser aufgeblasenen Person rächen.

Die hatte sich jetzt vollends zu ihr umgedreht und zeigte dadurch den übrigen Mitwirkenden ihr bloßes Hinterteil. Getuschel und Gekicher erklangen von allen Seiten. Schadenfroh beobachtete sie, wie die andere versuchte, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken.

Die Anspannung, die sie gerade noch verspürt hatte, entlud sich in einem Lachkrampf.

Sie lachte und lachte, konnte gar nicht mehr aufhören und prustete zwischen den Zähnen hervor: „Das sieht ja wirklich geil aus. Dieses ausladende Hinterteil, zum Kaputtlachen.“

„Hör auf, du dumme Kuh!“, kam es bedrohlich leise zurück. Doch ihr Lachkrampf dauerte an, ab und zu versuchte sie, einzelne Wörter wie „fetter Hintern“, „Häkelstring“ oder „Cellulitis“ hervorzubringen.

Immer mehr Damen aus der Gruppe ließen sich von dem Lachen anstecken.

Ihr liefen die Tränen über das Gesicht, deshalb sah sie das gefährliche Aufblitzen in den Augen ihres Gegenübers nicht und konnte dessen Faust nicht mehr ausweichen. Der Schlag traf sie direkt auf die linke Wange, knapp unter dem Auge. Sie schrie auf. Einen Augenblick lang verlor sie das Gleichgewicht. Schwarze Schlieren schlängelten sich in ihren Blick. Sie kämpfte gegen die aufsteigende Ohnmacht an. Verschwommen sah sie, wie Hände auf sie zuschnellten, sie spürte, wie ihr Sportanzug am Ausschnitt einriss. Das gab ihr den Rest. Der Schmerz war schon schlimm genug, aber jetzt noch ihr nagelneuer Gymnastikanzug von Nike!

„Kannst du haben“, schrie sie und kratzte der anderen einmal quer durchs Gesicht. Mit der rechten Hand riss sie ihren Kopf an den Haaren hoch und hieb ihr gleichzeitig das Knie in den Bauch. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen, dann ein Grunzen wie von einem Schwein, als ihr Gegenüber sich wieder auf sie stürzte.

Die Kursleiterin, die versuchte, die beiden auseinanderzuziehen, erntete einen Treffer und ging stöhnend zu Boden.

Die beiden Kämpferinnen landeten auf dem Parkett, wälzten sich dort herum, abwechselnd mal die eine, mal die andere oben. Die Gans saß jetzt auf ihr und hielt ihre strampelnden Beine mit dem festen Griff eines Schraubstocks. Sie schnappte nach Luft. Irgendwie musste sie sich befreien, sonst würde sie ersticken … Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden, in denen sie merkte, dass sich der Griff lockerte. Diesen Moment nutzte sie, um hochzuschnellen und zuzubeißen. Mit aller Kraft biss sie zu, so fest, dass ihre Zähne schmerzten. Durch das Rauschen in ihren Ohren drang ein tierischer Schrei. Sie registrierte, dass der Körper über ihr wegsackte. Sie spürte einen glitschigen Klumpen in ihrem Mund, nahm einen eigenartigen, metallischen Geschmack wahr. Angewidert spuckte sie den Fremdkörper aus. Erstaunt sah sie, wie er in einem hohen Bogen durch den Raum flog und als zerfetzter blutiger Kloß vor den Füßen einer Kursteilnehmerin landete.

Teil 1


Lotte

„Schon wieder eine neue Blüte!“ Charlotte Reinermann stand im Wintergarten und betrachtete entzückt die riesige Zimmercalla. Seit zwei Wochen brachte sie eine Blüte nach der anderen hervor. Hin und wieder brach Lotte, wie Charlotte allgemein genannt wurde, eine ab und verschenkte sie. Natürlich nur an gute Freunde. Heute Abend würde sie vielleicht wieder jemandem damit eine Freude machen, vielleicht Bernd oder Gisela, mal sehen. Lotte hatte den grünen Daumen und alle bewunderten sie dafür. Sie ließ sich gern bewundern. Der Wintergarten, das große Haus, der Garten mit Teich und Grillplatz, das war ihre Welt. Dafür lebte sie. Sie hatte gern Gäste, bewirtete sie perfekt, war charmant und attraktiv, glänzte an der Seite ihres Mannes. Jetzt fiel ihr Blick auf einige Flecken und Schlieren an den Glaswänden des Wintergartens und sie runzelte die Stirn. Olga, ihre aus Russland stammende Haushaltshilfe, hatte doch erst gestern geputzt, wie konnte sie denn so etwas übersehen? Charlotte schüttelte den Kopf, eilte in den Keller und bewaffnete sich mit Leiter, Putzeimer, Spezial-Glasreiniger und Mikrofasertuch. Dieses Missgeschick musste sie beseitigen, bevor ihre Gäste heute Abend etwas davon bemerkten. Wenn die Gartenbeleuchtung eingeschaltet war, konnte man sehr gut erkennen, ob die Glasscheiben des Wintergartens wirklich glänzend sauber waren oder ob irgendwo Spuren vom Regen oder gar Staub und Dreck waren.

Nein, das musste sie unbedingt nachher Reinhard erzählen. Wenn sich so etwas wiederholen sollte, war es sicherlich besser, sich von Olga zu trennen. Unzuverlässigkeit konnten sie beide nicht leiden, da waren sie einer Meinung.

„Mein Gott, ich muss noch das Filet anbraten, das Gemüse putzen, den Salat waschen … Die blöde Putzerei bringt meinen Zeitplan völlig durcheinander.“

Charlotte spürte, wie eine nervöse Unruhe von ihr Besitz nahm. Sie hasste es, wenn etwas nicht nach Plan lief. Sie war perfekt, aber unvorhergesehene Dinge brachten sie aus dem Gleichgewicht. Eine heiße Welle setzte ihr Gesicht in Brand, als sie jetzt daran dachte, dass sie auch überprüfen wollte, ob der schwarze Rock noch passte, den sie heute Abend anziehen wollte. Wenn nicht, musste sie etwas anderes finden. Vielleicht die anthrazitfarbene Hose oder der graue Seidenrock …?

Sie hatte schon wieder etwas zugenommen, wenn nun alles zu eng war, wenn …

„Verdammt“, fluchte Charlotte, als sie mit dem Fuß gegen den Eimer stieß und der gefährlich ins Wanken geriet. Mit einem schnellen Griff konnte sie zwar verhindern, dass der Eimer umfiel, aber das Wasser war bereits übergeschwappt und hatte glänzende runde Flecken auf den Fliesen hinterlassen.

„Na prima“, rief Charlotte mit hysterischer Stimme, „jetzt kann ich auch noch den Boden wischen.“

Mit fahrigen Händen erledigte sie das Aufwischen und ging dann seufzend in die Küche. Sie enthäutete das Filet, würzte es mit Rosmarin und Salbei und briet es in der schweren gusseisernen Pfanne an.

Zum Glück klappte bei der Zubereitung des Essens alles wie am Schnürchen und Charlotte vergaß allmählich den Ärger über die unzuverlässige Putzfrau. Mit einem Schmunzeln stellte sie sich vor, wie Bernd am Abend ihren Filettopf loben würde. Er aß gern, vor allem so raffinierte Gerichte, wie Lotte sie zubereitete. Die Hausmannskost, die Gisela ihm vorsetzte, hatte ihn zwar im Laufe der Jahre ziemlich rund gemacht, aber wirklich begeistert war er davon nicht. Ihr Filet Bourguignon würde ihm sicherlich wieder ausgezeichnet munden.

Lotte hörte Geräusche im Haus und rief: „Reinhard, bist du es? Gut, dass du so pünktlich kommst. Du musst den Wein noch dekantieren, er steht in der Küche. Und bitte, zieh die Schuhe aus. Ich musste den Wintergarten noch einmal wischen, stell dir vor …“

Weiter kam Lotte nicht, denn Reinhard Reinermann hatte die Küche betreten und sah seine Frau mit leidender Miene an.

„Was ist los, Reinhard, bist du krank?“ Lottes Stimme klang alarmiert, sie wollte das Treffen mit Bernd und seiner Frau auf keinen Fall absagen, sie hatte doch schon alles vorbereitet …

„Ich weiß nicht, es geht mir heute gar nicht gut. Mich plagt so eine seltsame Übelkeit, heute Mittag nach dem Essen musste ich mich übergeben. Danach habe ich sogar die Betriebsprüfung unterbrochen, deshalb bin ich auch so früh hier.“

„Mein armer Liebling, komm trink einen Schnaps, bestimmt geht es dir dann besser.“

Lotte wusste, dass Alkohol bei ihrem Mann Wunder wirkte. Oft lösten sich Beschwerden unterschiedlichster Art nach dem Genuss eines Grappas oder eines Obstlers in nichts auf.

So schien es auch heute zu sein. Nach dem doppelten Williamsbrand bekam Reinhard wieder etwas Farbe im Gesicht und legte auch die Leidensmiene, die jeder Christusstatue am Kreuz Konkurrenz gemacht hätte, ab.

Lotte atmete auf. Ihr Rock passte, Reinhard erholte sich, der Abend schien gerettet.

Punkt 19.30 Uhr klingelte es an der Tür. Bernd und Gisela wussten, dass die Gastgeberin nichts so sehr hasste wie Unpünktlichkeit.

Lotte führte die beiden in den Wintergarten.

„Wenn ihr brav seid, bekommt ihr als Abschiedsgeschenk eine Calla-Blüte von mir“, versprach Lotte ihren Gästen, um gleich zu Beginn die Aufmerksamkeit auf das Prachtstück zu lenken.

„Wie nett“, erwiderte Gisela, nahm aber sogleich an dem stilvoll gedeckten Tisch Platz. Bernd hingegen ging zu der üppigen Pflanze und besah sich die unzähligen Blüten aus der Nähe. „Wunderschön“, schwärmte er aufstöhnend, „wie machst du das bloß, Lotte? Hast du ein Geheimnis?“

„Aber ja, Bernd“, flötete Lotte und sah Bernd dabei tief in die Augen.

Etwas später verlagerte sich die allgemeine Bewunderung von der Blume auf Lottes Kochkünste. Wie erwartet, stimmte Bernd eine Lobeshymne nach der anderen an.

Gisela saß mit unbeweglicher Miene daneben, nickte aber immerhin ab und zu anerkennend zu den Kommentaren ihres Mannes.

Als Bernd schließlich sagte: „Lotte, wenn du nicht mit meinem besten Freund verheiratet wärst und ich nicht seit Jahren in festen Händen wäre, dann würde ich dir allein wegen deiner Kochkünste einen Heiratsantrag machen“, schrie Reinhard laut auf, presste die Hände auf seinen Bauch und rutschte zusammengekrümmt vom Stuhl auf den Boden.

Lotte dachte zuerst: Gut, dass ich eben noch mal gewischt habe, dann schrie sie ebenfalls auf und rief: „Reinhard, um Gottes willen, was ist denn los?“

Reinhard Reinermann war kalkweiß im Gesicht, Schweiß rann in Bächen über sein Gesicht. Er stöhnte. „Mein Bauch, ich habe solche Schmerzen im Bauch.“

Gisela, die erst kürzlich einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hatte, weil man ihr kurzzeitig einmal den Führerschein abgenommen hatte, diagnostizierte sofort einen Blinddarmdurchbruch.

„Der Rücken tut mir auch weh und die rechte Schulter.“

Reinhards Stimme klang gepresst, er lag immer noch in einer Art Embryonenhaltung auf dem Boden.

„Ich rufe den Notarzt“, rief Lotte, die nun von einer panischen Angst um Reinhard ergriffen wurde.

Der Krankenwagen war in weniger als fünf Minuten da, zwei Sanitäter kamen mit einer Trage in den Wintergarten. Der Notarzt schien Lotte in einem Alter zu sein, in dem man gerade mal das Abitur machte. Sie beantwortete aber präzise alle Fragen, die der Arzt an ihren Mann richtete. Bei der anschließenden Untersuchung schrie Reinhard mehrmals auf, und Charlotte zuckte jedes Mal zusammen.

„Wir müssen ihren Mann mitnehmen“, kommentierte der junge Arzt, „ich denke, dass es eine Gallenkolik ist.“

„Hab ich doch gleich gesagt“, flüsterte Gisela ihrem Bernd zu, der es vorzog, keine Antwort zu geben.

„Ich fahre mit“, entschied Lotte jetzt. Gisela und Bernd werteten das als Beendigung des geselligen Abends und erhoben sich sofort von ihren Plätzen.

Reinhard Reinermann wurde auf die Trage gehoben und in den Krankenwagen gebracht. Lotte lief hinterher und versuchte, ihren Mann zu beruhigen. „Es wird alles gut, Reinhard. Bestimmt brauchst du nur ein oder zwei Nächte dort zu bleiben. Nur zur Kontrolle. Bestimmt …“

Lotte tätschelte Reinhard die rechte Schulter, doch der schrie gequält auf.

„Sie sollten ihn besser nicht berühren, ihm scheint alles wehzutun“, klärte der Sanitäter Lotte auf.

„Aber eine Gallenkolik hat man doch nicht in der Schulter“, antwortete Lotte beleidigt, stellte aber die Streicheleinheiten für ihren Mann sofort ein.

„Sie können vorn neben dem Fahrer einsteigen.“

Der Notarzt deutete auf den Beifahrersitz. Bernd und Gisela waren ebenfalls mit zum Krankenwagen gelaufen. Als Lotte sie sah, beugte sie sich herunter und flüsterte ihnen zu:

„Die Calla-Blüten gebe ich euch dann nächste Woche.“

Der Fahrer ließ den Motor an und Lotte schlug schnell die Tür zu.

Mit Blaulicht und quietschenden Reifen fuhr der Krankenwagen zum Vincenzhospital.

Gabi

„Upps, ’schuldigung, bin wohl etwas zu flott heute.“

Schwester Gabriele war mit dem Patientenbett schwungvoll um die Ecke zu den Aufzügen gekurvt. Dabei hatte sie eine schlanke weiß gekleidete Person umgefahren. Mit einem erschreckten Keuchen fiel diese auf den Patienten. Lag sozusagen quer über seinem Bett.

„He, nur keine Hemmungen, gute Frau“, spottete der Patient.

„Ach, hallo, Frau von Wolfersdorf.“ Gabi war blutrot angelaufen. „Das ist mir jetzt aber peinlich.“

Die fast schon dünne Frau in den Dreißigern, blond, mit strengem Knoten und dezentem Make-up, wand sich vom Patientenbett und schimpfte. Sie war die Oberschwester, heute hieß das ja Pflegedienstleitung, und zurzeit eine äußerst aufgebrachte Pflegedienstleitung.

„Also, das ist doch die Höhe, Schwester Gabriele, ein bisschen mehr Disziplin, wenn ich bitten darf!“, fauchte sie.

Der Mann in dem Bett fing an zu lachen. „Gabi und Disziplin, ha, ha, findest du nicht auch, Gabi, dass das nicht zusammenpasst?“ Gabi gab einen unwilligen Laut von sich.

„Komm, ist ja gut. Jetzt sei bloß ruhig. Die ist mein Boss. Ich krieg sonst was aufs Dach“, zischte sie. Sie hatte der Oberschwester den Rücken zugedreht und machte sich am Patientenbett zu schaffen.

Dabei hatte es heute Morgen eigentlich ganz gut angefangen.

„Hey, die scharfe Braut kommt!“ „Lieb mich, ich bin ein wilder Stier!“ „Lass die andern, komm zu mir, Gabimaus.“ So tönte es aus den Betten in dem Viererzimmer. Gabi drehte eine kleine Pirouette.

„Okay, Jungs, ihr seid die Größten! Aber jetzt mal piano. Gut geschlafen?“

Ein Brummeln kam zurück.

„Scheiß Tag“, war von vorne links zu hören.

„He, he, die Sonne scheint, und du kannst doch bald nach Hause, kein Grund zu schlechter Laune.“

„Ha, klar ham wa Grund, hasse den BVB gestern gesehn, diese scheiß Bayern, immer hamse Schwein. Inner letzten Minute den Siegtreffer, son Mist, das muss einem doch die Laune vermiesen.“

„Ach komm Siggi, das ist zwar doof und ich gönn den Bayern das auch nicht, aber das ist doch nur ein Spiel und es gibt noch anderes. Zum Beispiel, dass du dich jetzt auf die Socken machst und im Bad verschwindest. In einer Viertelstunde hol ich dich zum Röntgen ab und anschließend kommt der nette Joe und turnt mit dir. So“, sie wandte sich zu dem Bett am Fenster, „gleich geht es los in den OP. Du bist als Erster dran. Glück für dich, brauchst nicht so lange zu warten.“ Sie schob das Bett aus dem Zimmer. „Mach hinne“, rief sie in Siggis Richtung, „du weißt schon, in fünfzehn Minuten. Frühstück gibt’s für dich dann später.“ Schwungvoll schob sie das Bett den Flur runter, bog dann zu den Aufzügen ab.

Und jetzt der Anschiss von der Oberschwester.

„Ach übrigens, Schwester Gabriele, ich erwarte Sie heute nach Dienstschluss in meinem Büro, es gibt noch Fragen zu Ihren Personalpapieren.“ Mit diesen Worten verschwand der weiße Drachen.

Gabi fluchte leise in sich hinein. Klar, nach Dienstschluss, hätte das nicht auch früher sein oder auch telefonisch geklärt werden können, aber nein, in ihrem Büro nach Dienstschluss. Sie wird sich irgendeine Gemeinheit ausgedacht haben. Gabi seufzte. Seit diese doofe Gunilla von Wolfersdorf Pflegedienstleitung im Hause war, wurde das Arbeiten immer unerträglicher. Ständig neue Vorschriften, Schreibarbeiten ohne Ende und dann noch alles reglementiert. Sie arbeitete schon über dreißig Jahre als Schwester und war ein alter Hase. Die Arbeit konnte sie im Schlaf, aber jetzt wurden ständig neue Hürden aufgestellt. Sie wusste nicht, wo das mal hinführte. Und dann hieß diese dumme Pute noch Gunilla von Wolfersdorf, das musste man sich mal reinziehen, Gunilla von Wolfersdorf, so was selten Dämliches und darauf bildete die sich auch noch was ein. Tat ganz elitär und hochnäsig und erwähnte immer, welch wichtige Leute sie kannte. Sicher hatte sie diese Stelle nur mit Vitamin B bekommen, da waren sich alle einig, denn ihr Können war es sicher nicht. Außer es zählte, dass sie ihre Untergebenen alle gegeneinander aufhetzen konnte. Viele, das wusste Gabi, dachten schon daran, sich woanders einen Job zu suchen. Aber für sie war das ausgeschlossen, schließlich war sie schon über fünfzig und in ihrem Alter fand man keine Stelle mehr. Also war Durchhalten die Devise. Gut, dass das Pflegepersonal sich wenigstens gegenseitig was vorheulen konnte. Gemeinsam über jemanden herziehen machte auch Spaß und man reagierte sich ab.

Mittags saß sie mit Knut, dem Pfleger von der Intensivstation, beim Essen in der Cafeteria und rätselte mit ihm herum, was die Gunilla von Wolfersdorf wohl von ihr wollte. Gabi hatte die Stirn in Falten gelegt. Das ganze Gesicht war kummervoll verzogen. Ihre großen hellblauen Augen blickten ihr Gegenüber zweifelnd an. Auch wenn sie im Ganzen rundlich war, so hatte sie doch durch ihre stoppelkurzen, karottenrot gefärbten Haare etwas Aufrührerisches an sich.

immer wieder unvermutet rein und überprüft die Protokolle. Gestern war ich gerade beim Waschen eines Patienten und hatte noch nicht die Temperatur in die Kurve eingetragen, da hat sie schon gemeckert, ich wisse doch, es müsste sofort gemacht werden, damit kein Fehler eintritt. Ich wollte aber erst mit der Pflege fertig sein und dann alles auf einmal eintragen. Aber die: ‚Es geht nicht nach Ihrem Willen, sondern nach den Vorschriften, und die bestimme ich, Herr Knorr, merken Sie sich das. Falls Sie den Anforderungen hier auf der Intensivstation nicht gewachsen sind, werden wir sicher einen weniger anspruchsvollen Posten für Sie finden‘. Mensch Gabi, du weißt doch, wie sehr ich die Kohle brauche und wenn ich auf eine andere Station komme, geht mir die Intensivzulage flöten. Also werde ich mich zusammenreißen und kleine Brötchen backen.“

Gabi und Knut sahen sich an. Irgendwie müsste diese hochgestochene Ziege mit ihrer Schikane mal auf den Bauch fallen. Gabi stöhnte.

„Schlimm genug, dass meine Männer schlechte Laune haben wegen dem Bayernsieg gestern, jetzt auch noch Obrigkeitsprobleme.“

Knut machte eine beschwichtigende Bewegung.

„Warte ab, wenn erst der Kerl zu dir auf die Station kommt, der zurzeit das hinterste Intensivbett belegt, dann hast du erst recht nichts zu lachen. Eine perforierte Gallenblase. Kann natürlich noch nichts essen, hat natürlich Schmerzen, na, und wie es eben auf Intensiv ist, laut und unruhig, man kann nicht schlafen. Dafür wird auch gut auf einen aufgepasst. Dieser Kerl aber ist ewig unzufrieden, dabei ist er eben noch mal von der Schippe gehüpft. Das wäre ja alles nicht schlimm, unzufriedenen Personen kann man ein wenig mehr Sedierung geben. Aber seine Frau, so ein Superweibchen, hilflos und zart und mit weinerlicher Stimme, dafür knallhart, ein Durchsetzungsvermögen sag ich dir, die lässt alle springen, und wenn man nicht macht, was sie will, geht sie zum Chef. Wir freuen uns schon alle, wenn dieser Herr Reinermann auf Normalstation kann. Nur für dich tut es mir leid, die beiden zusammen sind wirklich Nervensägen hoch drei. Kannst du nicht Urlaub nehmen oder ein paar Überstunden abfeiern, wenn es soweit ist?“

Gabi verdrehte die Augen. Klar könnte sie Überstunden abfeiern, wenn man es ihr erlauben würde und wenn die Station nicht chronisch unterbesetzt wäre. Und jetzt, wo Melanie schwanger war und nur noch in der Frühschicht arbeiten durfte und Karin außerdem zur Kur war, war an Abfeiern gar nicht zu denken. Und Urlaub? Würde nie und nimmer genehmigt werden. Aber was soll’s. Ein schwieriger Patient, es wäre nicht der Erste, und auch der würde bald verschwinden. Das war das einzig Gute an der neuen Politik, dass die Patienten, kaum dass sie kriechen konnten, entlassen wurden. Seit nur noch die Zahl der Fälle bezahlt wurde, achtete der Chef darauf, dass die Patienten möglichst schnell ihr Bett räumten. Angehörigen konnte man recht wirkungsvoll aus dem Weg gehen. Einmal war man viel unterwegs um Dinge zu besorgen, Patienten wegzubringen und zu holen und zum anderen war für Anfragen schließlich der Doktor zuständig. Auch wenn er sich fast immer im OP aufhielt, irgendwann kam er mal raus, und dann wollte sie diese Frau, wie hieß sie doch gleich – Reimann oder so – auf ihn hetzen. Mit Doktor Schilling hatte sie sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Nicht nur, dass unendlich viel zu tun war, nein, da kam dieser Doktor und häufte den Schwestern auch noch zusätzliche Aufgaben auf, die eigentlich sein Job waren. Nur, weil er einigen leidtat, kaum Zeit hatte und ewig viele Überstunden machte, wurde alles für ihn erledigt. Ich möchte bloß wissen, was Gunilla dazu sagen würde. Denn das wusste sie, Gunilla stand Ärzten durchaus ablehnend gegenüber. Und ärztliche Aufgaben durften schon gleich gar nicht von den Schwestern übernommen werden. Vielleicht steck ich es ihr heute Nachmittag, das wird sie ablenken, überlegte Gabi.

„Bestimmt eine Schweinerei“, mutmaßte Knut. „Auf der Intensiv fällt ihr auch ständig was ein. Sie kommt „Schwester Gabriele, ich habe Sie aus mehreren Gründen hergebeten. Das Wichtigste ist, dass mir Ihr Ton den Patienten gegenüber gar nicht passt. Es ist nicht zu tolerieren, dass Sie alle Patienten duzen und noch dazu diese flapsigen Sprüche von sich geben. Sie wissen, hier liegen ausschließlich kranke Menschen, deren Würde mit Achtung begegnet werden muss. Höflichkeit, Zuwendung und Respekt den Patienten gegenüber ist das Mindeste, was ich von meinen Schwestern fordere. Ich garantiere Ihnen, ich werde Sie in der nächsten Zeit genau beobachten. Falls Sie wieder auffällig werden, muss ich mir disziplinarische Maßnahmen vorbehalten. Überdenken Sie also Ihr Verhalten und ändern Sie es.“

Gabi starrte die Pflegedienstleitung an.

„Aber, aber“, stammelte sie, „die Männer auf der Chirurgischen, wenn die nur so einen Knochen kaputt haben, dann kann man sie nicht wie Todkranke behandeln, dann muss man sie bei Laune halten, sonst werden sie aggressiv. Und so ein paar flotte Sprüche wirken Wunder auf die Stimmung. Das ist doch nichts Schlimmes … das …“

„Das wird es in diesem Krankenhaus jedenfalls nicht mehr geben. Wir verstehen uns? Da ist noch eine zweite Sache. Ich habe ihre Papiere durchgesehen und dabei festgestellt, dass da eine Lücke ist, kurz nach ihrer Ausbildung, eine Lücke von vier Jahren, wo keine Anstellung nachgewiesen ist. Dafür müssten Sie noch Papiere nachreichen.“

„Da hab ich gar nicht gearbeitet, ich war verheiratet. Erst nach der Trennung bin ich wieder in den Beruf. Dafür gibt’s keinen Nachweis oder wollen sie eine Bestätigung von meinem Ex? Ich weiß gar nicht, ob ich seine Adresse habe. Ist das alles, Frau von Wolfersdorf?“ Diese nickte huldvoll.

Gabi ging zum Ausgang. „Mist, Mist, Mist“, fluchte sie leise vor sich hin.

Hinter ihr lachte jemand. „He, Gabi, war’s schlimm? Lass uns nachher eine kleine Tour machen und dann erzählst du mir alles. Okay?“

Gabi freute sich, dass Knut die Motorradtour vorschlug. Der Fahrtwind würde ihr den Kopf schon wieder frei machen. Motorradfahren war ihre große Leidenschaft, die sie mit Knut und einigen anderen verband. Sie nannte sie im Stillen die Mopedgang.

Knut war ein echter Kumpel und außerdem noch gut aussehend. Warme braune Augen und ein anziehendes Lächeln, dabei einen Superbody, aber leider, leider nicht für die Damenwelt. Ein Umstand, den die Schwestern schon oft bedauert hatten. Knut stand nun mal hundertprozentig auf Männer und dabei noch nicht mal auf junge, eher auf ältere, grau melierte.

„Weißte, Gabi“, hatte er ihr mal anvertraut, „vielleicht suche ich so was wie ’nen Vatertyp. Mein Vater war ja eher abwesend, als ich Kind war. Wenn jemand eine tiefe Stimme und graue Haare hat und souverän rüberkommt, dann fahr ich eben voll drauf ab. Schade bloß, dass diese Typen dünn gesät und dann auch noch hetero sind. Nun, irgendwann find ich ihn vielleicht, den Bestimmten. Bis dahin muss ich mich wohl mit dir rumplagen und meine Freizeit mit Mopedfahren vergeuden“, grinste er sie an. „Du, ich hab da eine Supermaschine gesehen, total scharf, aber natürlich nix für meinen Geldbeutel. Nachdem es letztes Jahr mein Baby zerlegt hat, knabber ich immer noch daran, die Suzuki abzubezahlen. Obwohl, du weißt ja, Japaner sind eigentlich nicht so mein Ding.“

Über Gabis Aussprache mit Gunilla konnte Knut lang und anhaltend schimpfen. Die hätte ja keine Ahnung und langsam müsste man der mal Einhalt gebieten. Nur gut, dass seine Patienten überwiegend im Koma lagen und seine flotten Sprüche nicht hören konnten und Gunilla durch die Glasfenster der Intensivstation schon von Weitem zu sehen war, sonst müsste er sich schon längst eine neue Stelle suchen.

Gabi schaute nur unglücklich drein.

„Immer hab ich so ein Pech im Leben, erst so einen lahmarschigen Ehemann und dann all die Nieten, auf die ich immer wieder reinfalle. Obwohl Michael … ach, er ist auch nicht so … Eine verdammte Scheiße ist das. Bisher war der Spaß an der Arbeit das Stabilste in meinem Leben, aber jetzt … Ich glaub, ich geh so bald wie möglich in Rente. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich früher aufhören. Ich hab es mir mal ausrechnen lassen. Du, ich müsste auf ein Drittel der Rente verzichten, wenn ich früher gehe. Das reicht nicht zum Leben. Erst recht nicht für mich und meine Maschine. Ein Leben ohne ein wenig Spaß, da könnt’ ich mich doch gleich um die Ecke bringen. Ne, ne, ich muss durchhalten, egal wie schlimm die Gunilla ist. Vielleicht, ja vielleicht bleibt die ja nicht so lange hier am Haus. Sie könnte ja schwanger werden, man munkelt doch, dass sie sich ein Kind wünscht oder sie könnte was Besseres finden oder sie geht dem Klinikchef so auf die Nerven, dass er sie auch loswerden will.“

„Davon träumst du auch nur“, grinste Knut.

„Ach, lass uns von was Nettem sprechen, viel schlimmer kann es doch gar nicht mehr werden. Außer, dass sie mir das freie Wochenende streicht. Aber so was bin ich ja schon gewohnt. Leid tät es mir schon um unsere Tour. Jetzt ist endlich das Wetter dafür, und wer weiß, was später kommt.“

Knut grinste, „Jau, auf die erste Fahrt im Jahr freu ich mich schon lange. Aber was ist übrigens mit Michael? Sollte der nicht bald zurückkommen?“

„Ach weißte, so fest ist das mit uns nicht und außerdem glaub ich, dass die Sache am Versanden ist. Richtig Sehnsucht nach ihm hab ich jedenfalls nicht und ’ne Motorradtour zieh ich dem Michael allemal vor.“

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