Bemerkenswert normal

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Aber auch in anderen Lebensbereichen empfinden wir die Kategorie normal in Bezug auf unsere Lebensführung als abwertend. Ja, überhaupt fällt einem seit «Fifty Shades of Grey» nun wirklich kein Lebensbereich mehr ein, in dem es heute noch attraktiv wäre, als normal bezeichnet zu werden.

Lediglich, wenn es aus dem Mund eines Arztes, eines Atomkraftwerkbetreibers oder eines Piloten kommt. Hier sind wir regelmäßig erleichtert, wenn die Diagnose «Alles normal» lautet. In jedem anderen Kontext aber sind wir wohl ähnlich unglücklich oder enttäuscht, wenn etwas nur normal ist, wie liebende Eltern über den nur vierten Rang ihres Nachwuchses beim jährlichen Skikursabschlussrennen. Und wenn nicht enttäuscht, so sind wir mindestens gelangweilt und entziehen unsere Aufmerksamkeit, falls mal nur von einem Stau und nicht gleich von Verkehrschaos die Rede ist. In dem Maße, wie wir das Normale aus unserem Leben verdammen, verschwindet es auch zunehmend aus unserem Blickfeld.

Das Normale ist besser als sein Ruf

Aber ist dieser diskriminierende Blick gerechtfertigt? Wohin führt es uns eigentlich, wenn alle auf Teufel komm raus versuchen, außergewöhnlich zu sein? Das heißt, wenn alle einen Marathon laufen, eine Schönheits-OP machen, einen Auslandsaufenthalt absolvieren oder das Abitur machen? Dann wird genau das zur Norm und ist schon bald nichts Besonderes mehr.12 In einer Welt, in der alle außergewöhnlich sind – oder es zumindest sein wollen –, schleift sich das vermeintlich Außergewöhnliche ab und wird plötzlich zum Mainstream, zum Gewöhnlichen. Wie Voltaire bereits wusste: «Nichts langweilt mehr als außergewöhnliche Dinge, die alltäglich geworden sind.»

Die Masse macht also aus etwas Exklusivem genau sein Gegenteil, auch wenn wir es nicht immer gleich bemerken. So wissen wohl die wenigsten von uns, dass es zum Beispiel mittlerweile mehr Rolex-Uhren auf dieser Welt gibt als VW Käfer13. Und dennoch sitzen wir immer noch dem Glauben auf, dass eine Rolex-Uhr etwas Besonderes und Exklusives ist. Dabei ist es eigentlich der alte VW Käfer.

Was, wenn wir in Bezug auf unsere Lebensgestaltung dem gleichen Denkfehler aufsitzen? Wenn das Streben nach einem außergewöhnlichen Leben zur Massenveranstaltung, zum Mainstream wird, dann müsste das Streben nach dem Normalen doch wieder etwas Exklusives werden. Könnte es also sein, dass eine normale Lebensführung heute wieder das Potenzial hat, etwas Außergewöhnliches zu sein? Was also, wenn wir uns alle irren, indem wir uns ständig für unser normales, durchschnittliches Leben grämen und frustriert nach einem anderen Leben trachten? Wenn wir glauben, dass das Leben am rechten Rand der Gauß’schen Normalverteilung mit großen anerkannten Erfolgen, Berühmtheit und Reichtum das Erstrebenswertere, das Bessere sei als unseres, im heimeligen dicken Bauch der Normalität? Was, wenn wir dadurch verpassen, zu erkennen, dass es sich vielleicht genau umgekehrt verhält: dass unser normales Leben das Zeug hat, das eigentlich Begehrenswerte, Außergewöhnliche, Bemerkenswerte zu sein?

Normal, aber sexy

Zugegeben, auch ich finde es kaum vorstellbar, dass «normal» tatsächlich das Potenzial zum neuen Aufreger haben soll. Und vielleicht ist es ja auch nur eine Fata Morgana, die ich in unserer überhitzten Größer-am-größten-Gesellschaft da unscharf flimmernd am Horizont wähne. Zumindest aber meine ich, ein paar Unruhestifter in den klassischen Selbstoptimierer-Domänen – wie Mode, Lifestyle, Luxus, Karriere, Freizeitsport – ausmachen zu können. Bezieht man zusätzlich noch die wichtigste Befeuerungsmaschinerie unserer tosenden Vollkommenheitsobsession mit ein – die Werbung –, bin ich doch geneigt, zumindest die Frage gelten zu lassen, ob ein normaler Lifestyle nicht vielleicht doch das Zeug zum Außergewöhnlichen, zum Exklusiven, vielleicht sogar zum Begehrenswerten, definitiv aber zum neuen «sexy» hat. Hier also meine persönliche Liste von zufälligen und unsystematischen Alltagsbeobachtungen, in denen ich das sonst so verschmähte Normale als wiederentdeckte Attraktion oder gar Erfolgsprinzip gewähnt habe:

Mode: Normaler Alltagslook wird laufstegtauglich. Wenn wir uns ins Feld der Mode begeben, dann können wir beobachten, dass «normal» hier derzeit Hochkonjunktur feiert. Unter dem Stichwort «Normcore» erobert derzeit ein Modetrend die Laufstege, der total normale Alltagskleidung als modisch preist.14 Exklusivlabelbekleidung mit dickgedruckten Markennamen auf der Brust war gestern.15«In» sind dagegen nun – man glaubt es kaum – die verpönten Jogginghosen mit karierten Hemden aus den großen Einkaufscentern. Gerade Betuchte versuchen mehr und mehr, diesen lässigen Understatement-Schick aus der Mitte unserer Gesellschaft nachzueifern.16 Er dient sogar den großen High-Class-Modedesignern als «Muse» für ihre Modekollektionen.17 Und umgekehrt scheint sich die Designer-Elite um Karl Lagerfeld & Co. heute auch nicht mehr zu schade, für Billigketten und deren «normale» Kunden zu arbeiten.18

Lifestyle: Die Sehnsucht nach dem normalen Leben. Der beobachtbare anhaltende zweistellige Auflagenzuwachs von Zeitschriften rund um Garten, Küche und Natur lässt viele Verlage von Tageszeitungen erblassen, die angesichts ständig sinkender Auflagen um ihr Überleben kämpfen.19 Daraus ein Comeback eines normalen Lebensstils ableiten zu wollen, ist vermutlich etwas gewagt. Zumindest drückt sich darin aber eine gewisse Sehnsucht nach dem einfachen, normalen und nicht-virtuellen Leben aus.

Vielleicht ist es auch diese Sehnsucht, die erklären kann, warum der gehobene Mittelstand heute oft nicht mehr in bessere Quartiere zu Chefärzten, Bankern und Anwälten umsiedelt, selbst wenn sie es sich finanziell leisten könnten.20 Es scheint fast so, als glaubten sie, damit ihre Mittelschicht-Herkunft zu verraten. Unabhängig von ihrer Einkommenssituation scheuen sie sich, ihre Verwurzelung in der sogenannten Mittelschicht zu kappen, fühlen sie sich mit ihren alten Studienkollegen und bisherigen Nachbarn innerlich immer noch mehr verbunden als mit der gesellschaftlichen Elite. Vielleicht, weil ihnen bewusst ist, dass Gesellschaften in der Vergangenheit meistens aus ihrer Mitte heraus verändert wurden? Vielleicht aber auch, weil sie einfach nur intuitiv spüren, dass das normale Leben Vorzüge, Qualitäten und ein einzigartiges Lebensgefühl mit sich bringt, das nur mitten in der Gesellschaft entstehen kann?

Sicherer scheint hingegen, dass diejenigen, die wir insgeheim und unausgesprochen beneiden, weil sie all das zu besitzen scheinen, was wir so gern hätten – nämlich Ruhm und Reichtum – immer wieder äußern, wie sehr sie sich ein normales Leben wünschten. Zumindest könnte man die Aussage von Prinz William, er wäre manchmal gern unsichtbar,21 so verstehen, oder den Werbespruch eines Luxushotels in St. Moritz: «Zum Glück gibt es noch Orte auf der Welt, wo sich kein Mensch nach Ihnen umdreht.» Dass ein normales Leben begehrenswerte Qualitäten für die Upperclass haben könnte, kann man auch daran ablesen, dass Milliardäre öffentlich beginnen, sich über den Fluch des Reichtums zu beschweren. Wie man nachlesen kann, offensichtlich kein Witz, sondern bizarre Realität.22

Luxus: Begehrenswerte Normalität. Kann das sein? Ist das so verpönte normale Leben tatsächlich luxustauglich geworden? Während wir Normalos alle immer noch vom großen Luxus in Form von Rolex-Uhr, Hermès-Tasche oder Porsche-Cabrio träumen, scheinen wir ganz zu übersehen, dass wir einen Luxus ganz offensichtlich schon haben: in Form von unserem unsichtbaren, langweiligen, normalen Leben. Denn heute scheint Luxus gerade darin zu liegen, sich diesen gar nicht mehr zu leisten. So ist auch in Bezug auf unser Luxus(er)leben offensichtlich gerade ein Paradigmenwechsel im Gange, nach dem Motto: Luxus ist, wenn ich ihn nicht mehr brauche.23 Satt an Konsum sind wir vor allem hungrig nach immateriellen Unplugged-Erfahrungen: den Sternenhimmel sehen, in der Fankurve den heimischen Fußballclub anfeuern, in der WG Spaghetti kochen und am Küchentisch über Weltpolitik philosophieren oder ganz allgemein Zeit mit der Familie und Freunden verbringen. Je künstlicher unsere Welt wird, desto attraktiver wird für uns wieder das authentische, nicht inszenierte, greifbare normale Leben.

Auch auf der materiellen Ebene findet eine Rückbesinnung auf das schlichte, konkrete, fassbare, naturnahe Elementare statt. Dinge, die mit viel handwerklicher Expertise hergestellt werden, sind heute exklusiver als inflationärer Prunk.24 Sprich handgemachter Alpkäse statt Kaviar. Das echte, bodenständige, unsichtbar gewordene normale Leben mit all seinen Unvollkommenheiten und Zufällen scheint in einer perfekt optimierten medialen Welt wieder zur begehrenswerten Exklusivware zu werden.

Karriere: Normale Jobs sind wieder cool. Zu begreifen, dass ein stabiler und kontinuierlicher vierter Platz gewisse Vorzüge gegenüber einem flüchtigen, sehr riskanten ersten Platz hat, fällt unserer Selbstoptimierer-Seele ausgesprochen schwer. Auch wenn ein aktueller deutscher Hit uns diese Lebensstrategie mit Preisung der Wolke 4 (statt 7) schmackhaft machen will.25 Aber es fällt auf, dass es immer mehr Menschen zu geben scheint, die ihre Karriereentscheide genau im Sinne dieser Strategie fällen. So können wir beobachten, dass zum Beispiel die Absolventen der Top-Unis immer weniger scharf auf glamouröse Top-Jobs im Banking oder bei Unternehmensberatungen zu sein scheinen, sondern eher etwas Bodenständiges suchen, das mehr Work-Life-Balance und Spaß verspricht. «Normale Jobs scheinen das neue Cool»26 – das entspricht dem generellen Trend, dass immer weniger Menschen überhaupt noch einen prestigeträchtigen Management-Posten anstreben.27 Im Gegenteil. Es scheinen sogar immer mehr Menschen bereit zu sein, sich von Jobs mit mehr Geld und Status zu verabschieden zugunsten von Jobs mit mehr Freizeit und Freiheit. «Downshifting» nennt sich dieser Trend, bei dem Menschen freiwillig eine Karrierestufe wieder rückgängig machen bzw. darauf verzichten.28 Mindestens aber versuchen immer mehr Menschen, sich eine Auszeit – ein sogenanntes Sabbatical – zu organisieren, um sich eine Pause von ihrem stressigen Wettbewerbsleben in der Endlosschleife zu gönnen.

 

Freizeitsport: Die Entdeckung der Besonnenheit. Gerade im Freizeitsport – dieser wohl ältesten Domäne gesellschaftlichen Wettbewerbs – scheinen wir aber nach wie vor besonders anfällig, unsere Optimierungsobsession zügellos auszuleben. Dank FitnessArmband und ständiger Weiterentwicklung der Extremsportarten bewegen sich mehr und mehr Menschen mittlerweile gefährlich nahe an der Grenzlinie zwischen ambitioniertem Freizeitsportler und Adrenalin-Junkie, was auch schon mal mit dem Tod enden kann. Einzelne Initiativen, die sich für ein besonnenes Sporteln mit Augenmaß einsetzen,29 wirken eher nur wie der Tropfen auf dem heißen Stein.

Was als Ausgleich zur einseitigen Kopflastigkeit der Arbeit in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft gefördert und gepredigt wird, nutzen viele mittlerweile als weitere Leistungs- und Wettbewerbszone. Als Feld, auf dem die Jagd nach Überbietung nach Feierabend weitergeht. Dabei zahlt sich das bewusste und dosierte «Weniger» auch in dieser originärsten Wettbewerbsdomäne offensichtlich als bessere Erfolgsstrategie aus. Die Pause macht den Erfolg. Die Sportwissenschaft weiß mittlerweile, dass die Regenerationsfähigkeit für Unterschiede zwischen Spitzensportlern verantwortlich ist, weniger ein exzessives Training.30 Und auch bei längeren sportlichen Wettbewerben, wie zum Beispiel einem Marathonlauf, ist offensichtlich das Erfolgsgeheimnis, nicht zu viel zu wollen, sich eher zu mäßigen und zu bremsen und sich vor allem nicht von anderen pushen zu lassen.31

Werbung: back-to-normal. Marketing und Werbung spielen vermutlich eine ganz maßgebliche Rolle, unseren Selbstoptimierungstrieb immer weiter anzustacheln. Ob in Zeitschriften, Fernsehen oder im Internet, Werbung versteht es auf ganz subtile Weise, den unlöschbaren Durst unseres Egos nach Vollkommenheit jeden Tag aufs Neue zu befeuern und uns zu animieren, unsere Grenzen grenzenlos zu verschieben. Umso erstaunlicher, dass sich auch hier eine Verschiebung von perfekt gestyltem Hochglanz zur lebendig unordentlichen Imperfektion abzuzeichnen scheint. Zurückhaltung statt Verblendungstaktik scheint also als Erfolgsstrategie auch im Marketing und der Werbung wieder im Kommen.

Während wir früher mit Superlativen überzeugt werden sollten, hören wir heute auch schon mal Sätze wie: «Es geht nicht ums Gewinnen. Es geht nicht darum, der Beste zu sein. Ich snowboarde, weil es mein Leben ist.»32 Mit dieser Anti-Wettbewerbs-Formel scheint Samsung genauso den Zeitgeist zu treffen wie Schöffel mit seiner «Ich bin raus»-Werbung33 oder Mercedes mit der Frage: «Wann haben Sie das letzte Mal gemacht, was sie wollten – nicht, was sie sollten?»34

Das prominenteste und konsequenteste Beispiel einer Produktwerbung, die bereits seit einigen Jahren auf den Antitrend zur hysterischen Statussymbollogik setzt, ist wohl die Automarke Dacia. Mit Sätzen wie «Alle die, die ganz nach oben wollen, die nach Bewunderern suchen, um mit ihrem Erfolg zu glänzen, die haben hier nichts verloren» wird hier sogar versucht, das Nichtprestigeträchtige selbst zum neuen Statussymbol zu erheben.35

Am liebsten aber würde ich es der Firma Valser Wasser aus dem Valser Tal in der Schweiz zuschreiben wollen, die mutigen Pioniere in der Propagierung der Gegenthese zum Optimierungstrend gewesen zu sein. Bereits 1990 bewarb die Firma ihr Wasser mit dem Slogan «Alles wird besser – Valser bleibt gut».36 Jüngste Bemühungen, im Valser Tal nun das höchste Hotel der Welt als Luxusurlaubsdomizil der Superlative für Superreiche zu erbauen,37 stimmen mich allerdings nachdenklich, ob nicht vielleicht doch eher mein Wunsch Vater des Gedankens war, in diesem jahrhundertealten Bergdorf den weisen Propheten eines gesellschaftlichen Wertewandels sehen zu wollen.

Anders? Ja, normal!

Klingt ja alles schön und gut. Das Normale scheint also doch nicht ganz so unattraktiv, wie wir das gemeinhin denken. Aber jetzt mal ehrlich: Ist es nicht ziemlich gewagt, daraus ein Lebensideal abzuleiten? Können wir es uns überhaupt leisten, ein normales Leben zu führen? Was passiert, wenn wir tatsächlich akzeptieren, nur normal, nur Mittelmaß zu sein? Landen wir dann nicht aussortiert auf dem Ausverkaufstisch der Nation und verkommen zum Ramsch, zur zweiten Wahl, zum Auslaufmodell der Gesellschaft? Sind wir dann nicht automatisch die Ewiggestrigen, gehören zu jenen, die hinten runtergefallen und raus aus dem Spiel sind, wie es Heinz Bude in Gesellschaft der Angst so treffend umschreibt?38 Diese Frage muss am Ende jeder für sich selbst beantworten, denn jeder Mensch und jedes Leben ist einzigartig und verdient auch eine individuelle Antwort.

Ich hatte das wunderbare Privileg, Menschen zu treffen, für die sich der Mut zum Normalsein ausgezahlt hat. Es war nicht ganz einfach, diese Menschen und ihre Lebensgeschichten zu finden, denn es liegt in der Natur einer normalen Lebensführung, dass sie ohne großes Aufmerksamkeitspotenzial auskommt, wenig auffällig, unaufgeregt und unscheinbar ist.

Die Geschichten, die ich aufgespürt habe und auf den folgenden Seiten erzähle und kommentiere, beherbergen für mich alle den Sound eines bemerkenswert normalen Lebens. Mit ihrer Hilfe durfte ich lernen, wie sich «bemerkenswert normal» im konkreten Leben Ausdruck verleiht. Bei großen Lebensentscheidungen genauso wie in ganz alltäglichen kleinen Dingen. Ich durfte nachvollziehen, wie sich diese Menschen gerade in auswegloser Lage oder angesichts größter Versuchungen zu einem Bekenntnis zum Normalen, zum Gemäßigten durchgerungen haben. Für sie alle hat sich das Wagnis «Normalsein» gelohnt.

Ihre Geschichten können uns vielleicht inspirieren, darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, sich dem Optimierungsprimat zumindest ein bisschen unwilliger zu unterwerfen.

Spurensuche

«Gewinnen können statt siegen müssen»

Peter Gruber

Ungeplante Kraft

Zwischen durchgetaktet und planlos

Endlich Sonntag, freute sich Christine. Die fertigen Rouladen schmorten im Backofen und dufteten bereits verführerisch. Die dampfenden Kartoffeln hatte sie schon fertig zu Kartoffelbrei gestampft. Natürlich von Hand. Christine war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Eine Küchenmaschine hatte damals schon nicht dringelegen und auch heute wertete Christine ein solches Gerät immer noch als verzichtbaren Luxus. Schnell noch ein wenig Muskatnuss unter den Kartoffelbrei heben – fertig. Sie hatte sich mal wieder selbst übertroffen mit ihrem sonntäglichen Meisterwerk, dachte sie selbstzufrieden. Und auch planerisch hatte sie eine Punktlandung hingelegt: genau zwölf Uhr.

Stolz balancierte sie Rouladen, Soße und Kartoffelbrei gekonnt auf zwei Händen an den gedeckten Tisch, geübt durch ihre frühere Serviertätigkeit. Ein eigenes Café war immer ihr Traum gewesen. Aber ihr Job als Buchhalterin bei der Autowerkstatt ums Eck war für sie als Alleinerziehende schlicht besser mit den Kindern vereinbar. Aber einmal im Jahr ließ sie es sich nicht nehmen, im nahegelegenen Bistro auszuhelfen, wofür sie sogar gern ein paar Tage Ferien opferte.

«Ben, Jan, Paul, Jasmin – Essen ist fertig!», rief sie beschwingt ihre vier Kinder und nutzte die Zeit, noch schnell ein paar Servietten aus dem antiken Schrank ihrer kürzlich ins Altersheim übergesiedelten Mutter zu holen. Voller Vorfreude setzte sich Christine an den gedeckten Tisch.

«Ben, Jan, Paul, Jasmin – kommt ihr jetzt bitte? Wird doch sonst alles kalt!»

Jasmin kam als erste die Treppe heruntergeschlurft. Ihre jüngste Tochter – immerhin auch schon sechzehn – torkelte schlaftrunken in Schlabber-Jogginghose und T-Shirt an den Tisch. Sie konnte die Augen kaum offen halten. Es war unübersehbar, dass sie gerade erst dem Bett entstiegen war. «Guten Morgen, Madame! Auch schon wach?», frotzelte Christine mit spitzem ironischem Unterton, den nur Teenager-Eltern so perfekt draufhaben und den Christine zugegebenermaßen auch schon an ihrer eigenen Mutter gehasst hatte. Aber sie konnte es nicht lassen. «Komm, kämm dir wenigstens nochmal schnell die Haare, bis deine Brüder da sind! Abmarsch», forderte Christine sie kopfschüttelnd auf. Ihre Tochter gehorchte anstandslos. Manchmal war Übernächtigung auch ein Segen, dachte Christine. Immerhin keine Widerworte.

Christine blickte auf die Uhr. Oben rührte sich immer noch nichts. Langsam, aber unaufhaltsam kippte ihre Ungeduld in Missstimmung um. «Jungs, runterkommen! Aber pronto!», trompetete sie in Militärmanier und einige Dezibel lauter Richtung Obergeschoß.

Ihre drei Teenager-Jungs zwischen siebzehn und neunzehn schafften es wieder einmal, sie bis aufs Blut zu reizen. Da rackerte sie sich tagtäglich ab, um diese hungrigen Mäuler zu stopfen, schmiss als Alleinerziehende nebenher noch den Garten und den Haushalt ihres kleinen Vorstadt-Miethäuschens, boxte ihre Kinder durch die Lehre, holte sie vom Polizeirevier ab, wenn sie mal wieder mit ihren getunten Mofas erwischt wurden, und stellte sich auch sonntags noch regelmäßig zwei Stunden in die Küche, um ihnen ein ordentliches Mittagessen und ein bisschen heiles Familienleben zu servieren. Und was war der Dank? Sie waren nicht mal in der Lage, pünktlich am Tisch zu erscheinen! Dabei wussten sie doch, wie wichtig es ihr war, dass sie wenigstens einmal in der Woche zusammen aßen. Jeden Sonntag das gleiche Theater!

Das Blut der Mittvierzigerin brodelte. Sie stand entschlossen auf und marschierte direkt ins Badezimmer. Mit lautem Geklapper fummelte sie einen Eimer aus dem völlig überfüllten Putzschrank heraus und füllte ihn unter dem erschrockenen Blick ihrer sich in Zeitlupe kämmenden Tochter mit eiskaltem Wasser.

Zwei Stufen auf einmal nehmend jagte sie die Treppe hoch und stand in Nullkommanichts im Zimmer ihrer wie narkotisiert schlafenden Söhne Jan und Ben und schüttete beiden ohne Voranmeldung schonungslos das eiskalte Wasser ins Gesicht. Ihre empörten Aufschreie ignorierend preschte sie weiter ins Nachbarzimmer, wo sie die Prozedur an ihrem Sohn Paul wiederholte.

«So, Herrschaften. In drei Minuten unten am Tisch. Ist das klar?!», schmetterte sie im Befehlston und stiefelte wutschnaubend die Treppe runter, zurück an den Tisch, an dem ihre Tochter – nun mit einigermaßen gekämmten Haaren – bereits wieder saß.

Es dauerte keine Minute, da stürzte Ben in die Küche, das Handtuch, mit dem er die Spuren der unfreiwilligen Gesichtsdusche beseitigt hatte, noch in der Hand. «Spinnst du eigentlich?», blaffte er hitzköpfig und baute sich sichtlich verärgert vor seiner Mutter auf. Seine glasigen Augen ließen etwas zu große Pupillen erkennen. «Was soll der Scheiß?», rief er wild gestikulierend. Christine war auf hundertachtzig. «Wie redest du denn mit mir?», keifte sie aufgebracht zurück. Sie war extra aufgestanden, um der Hilflosigkeit, die in ihrem Satz mitschwang, nicht auch noch physisch Vorschub zu verleihen. Doch sie hatte verdrängt, dass die Zeiten, in denen die Kinder zu ihr aufblickten, längst vorbei waren. Ben überragte sie bereits um zwei Köpfe und sie kam sich fast noch machtloser vor, wie sie mit hochrotem Kopf, die Hände in die Hüften gestemmt, genötigt war, zu ihm aufzuschauen. «Ist es wirklich zu viel verlangt, dass ihr einmal in der Woche pünktlich seid?», hörte sie sich mit überschlagender Stimme kreischen wie eine Trillerpfeife. «Mann, du bist echt ätzend. Du nervst mit diesem Mittagessengetue», antwortete Ben gereizt. «Wieso musst du immer alles planen? Kiff mal eine, dann kommst du vielleicht auch mal ein bisschen runter!»

Christine schnappte nach Luft und wollte schon zum üblichen elterlichen Schlussbouquet ansetzen: «Solange du deine Füße unter meinen Tisch …» usw. Aber ihr Ältester ließ sie einfach stehen, drehte sich um und verschwand wieder im Obergeschoß.

Christine war sprachlos. Wie gelähmt stand sie da und blickte auf die mittlerweile erkalteten Rouladen und ihre bleiche und immer noch apathisch wirkende Tochter.

Plötzlich war sie da, diese Klarheit, ohne dass Christine sie eigentlich gesucht hatte. Und sie tat zum ersten Mal etwas, was sie sich in ihrem pflichtbewusst durchorganisierten Leben als alleinerziehende Mutter vorher nie gestattet hatte. Sie ließ alles stehen und liegen, zog ihre Schürze aus, griff nach dem Autoschlüssel, setzte sich in ihr Auto und fuhr einfach los. Ohne Plan, ohne Ziel.

 

Spontan entschied sie, eine alte Freundin zu besuchen, mit der sie zusammen die Ausbildung als Bürokauffrau gemacht hatte und die in einem alten Bergdorf fernab jeglicher städtischen Zivilisation wohnte. Die freute sich wie eine Schneekönigin, Christine nach so langer Zeit endlich mal wieder zu sehen. Schnell hatte sie Christine überredet, mit ihr eine Wanderung zu einem nahegelegenen Alpsee zu machen. Das Laufen und Schwitzen in der traumhaften Berglandschaft war heilsamer Balsam auf Christines verwundete Seele! Wie wenig es doch manchmal brauchte, um runterzukommen und sowas wie Freiheit und Glück zu spüren, dachte sie. In genau diesem Moment wurden sie von einem Wolkenbruch überrascht. Völlig durchnässt und mit Wasser in den Schuhen kamen sie am Alpsee an und suchten sofort Unterschlupf in der nahegelegenen Alpwirtschaft.

Die Kleider klebten auf ihrer Haut, ihre Haare tropften. Normalerweise hätte sich Christine maßlos darüber aufgeregt, dass sie keine Regensachen mitgenommen hatten. Aber irgendwas ließ sie stattdessen lachen. Wann war sie eigentlich das letzte Mal vom Regen völlig durchnässt worden? Es musste als Kind gewesen sein. Sie kam nicht drauf. Irgendwie hatte diese Situation ja auch etwas unverfälscht Einmaliges. Der Alpwirt brachte ihnen ein Handtuch und klopfte lachend mit einer Hand auf die mit weiß-rot karierten Kissen belegte Ofenbank des kuschelig warmen Kachelofens. Eine Stunde später saßen Christine und ihre Freundin wieder einigermaßen trocken bereits beim zweiten Kaffee in gesellig-heiterer Runde mit einem Wanderer, der ebenfalls vom Regen überrascht worden war, und dem Älpler, der gerade Pause machte und sich ebenfalls zu ihnen gesetzt hatte. Sie erzählten und lachten miteinander, als würden sie sich bereits Jahre kennen. Es muss der Charme des Einfachen sein, dachte Christine, der völlig fremde Menschen auf so ungezwungene und natürliche Weise zusammenkommen ließ.

Als Christine am Abend wieder in ihrem Auto saß und nach Hause fuhr, war sie erfüllt wie schon lange nicht mehr. Sie war überrascht, wie reich sie vom Leben beschenkt worden war, so ganz ohne dass sie es geplant hatte. Was ursprünglich als Akt purer Verzweiflung begann, sollte sich für Christine als Schlüsselerlebnis entpuppen, das ihr Leben veränderte. Es wurde der Moment, in dem sie wohl mehr unbewusst als bewusst entschied, mehr Leben in ihre Tage zu lassen, statt immer mehr Tage aus ihrem Leben herauszuholen.

Und so ist es mittlerweile Christines liebstes Hobby geworden, dem Ungeplanten ganz bewusst mehr Platz in ihrem Leben einzuräumen. Planen, was im Urlaub gemacht wird? Fehlanzeige. Wer mit Christine in den Urlaub fährt oder mit ihr einen Ausflug macht, der muss sich drauf gefasst machen, dass Unvorhergesehenes und Spontanes passiert. Und sie bekommt immer ganz glänzende Augen, wenn sie von diesen planlosen Abenteuern zu Fuß, mit dem Auto oder dem Fahrrad schwärmt. «Das ist im Kopf so herrlich befreiend, einmal nichts müssen, einfach spontan entscheiden. Dir steht die ganze Welt offen und du erlebst, was grad da ist, ohne jegliche Vorstellung im Kopf, ohne Wissen, wie es weitergeht. Dich findet, was du nicht gesucht hast – das ist einfach Freiheit pur!»

Rückblickend ist Christine ihren Kindern also irgendwie sogar dankbar für diesen legendären Sonntag. Das, was sie aber im Nachhinein am meisten freute, wartete erst ein paar Wochen später auf sie. Es war Sonntagabend und sie kam gerade mal wieder von einem ihrer geplant ungeplanten Ausflüge zurück. Als sie die Haustür aufschloss, staunte sie nicht schlecht. Sie fand alle ihre Kinder in der Küche betriebsam rumwerkeln. Sie hatten den Tisch gedeckt. Sogar Kerzen hatten sie aufgestellt. Es schien, als hätten sie tatsächlich ein vollumfängliches Menü gekocht. Wenn auch im Wesentlichen bestehend aus Backofen-Pommes, Schnitzel und Ketchup. Christine interpretierte es als eine Geste der Entschuldigung, die sie auch ohne große Worte verstand und die sie tief beglückte. Sie verzichtete auf jegliche weitere Kommentare, was sich als weise erwies und ihr eine fröhlich lachende Sonntagabendrunde mit ihren Kindern bescherte.

Seither wurde das sonntägliche Mittagessen komplett gestrichen. Stattdessen kochen nun ihre Kinder immer abwechselnd am Sonntagabend. Und jetzt ist es Christine, die pünktlich zu Hause sein muss.

Was ich bemerkenswert normal an dieser Geschichte finde

Was mich an Christines Geschichte so fasziniert, ist nicht so sehr, wie sie Beruf und Familie als Alleinerziehende ohne Nanny und Putzfrau unter einen Hut bringt. Auch wenn das ebenfalls bemerkenswert ist. Es ist vielmehr, dass Christine es geschafft hat, sich ihre Fähigkeit zur Spontanität zu bewahren. Ganz bewusst befreit sie gewisse Zeiten vom Ziel, Dinge möglichst effizient zu tun. In diesen Zeiten macht sie genau das Gegenteil: Einfach ohne Plan losziehen, wie sie es nennt. Eigentlich sollte das etwas völlig Normales sein. Bezeichnenderweise ist das aber heute keineswegs mehr so normal.

Denn, wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wohl die meisten von uns ihre Freizeit den gleichen Effizienzkriterien unterwerfen, wie unsere Arbeitstätigkeit. Mit Checklisten werden Geburtstage und Freundeseinladungen im regelmäßigen Turnus abgehakt, nicht ohne zu notieren, was wir dieses Mal gekocht haben, damit wir das nächste Mal nicht das Gleiche auftischen. Die Höhenmeter der Wanderroute werden so kalkuliert, dass wir auch einen Trainingseffekt auf unserem Fitness-Tracker sehen. Und die vielen abonnierten Kanäle und Zeitschriften werden am Sonntagabend noch schnell auf dem iPad quergelesen, damit wir in der Kaffeepause am Montag in Sachen Politik, Wirtschaft und Lifestyle mitreden können.

Und auch unsere Erholung haben wir gern fest im Griff. Unser Urlaub ist die Abfolge effizient geplanter und getakteter Termine geworden. Egal, ob Museumsbesuch oder Wellnessbehandlung – wir sind relativ schnell verärgert, wenn nicht alles so klappt, wie wir es geplant haben. Schnell kann es für uns zum Drama ausarten, wenn alle Strandliegen belegt sind, wir uns verfahren haben, im Restaurant mal etwas länger auf unser Essen warten müssen oder wir im Flughafen nicht gleich den kürzesten Weg zum Gate finden.

Während also die meisten von uns in ihrer Freizeit auf eine effiziente Abfolge von vorgeplanten Ereignissen nicht verzichten wollen, tut Christine genau das: sie verzichtet auf Optimierung. Sie sorgt also nicht einfach nur für Freizeit als Ausgleich zur Arbeit. Nein, sie macht zusätzlich noch etwas anderes: sie gestaltet Teile ihrer Freizeit ganz bewusst nicht nach den gleichen Effizienzkriterien wie ihren Alltag. Sie verschafft sich Möglichkeiten, in denen sie Zeit verlieren darf – und scheint sie genau dadurch zu gewinnen. In Form von Lebensqualität. Wenn sie also ohne Hotelreservierung in den Urlaub fährt, nimmt sie in Kauf, dass es länger dauert, bis sie eine Unterkunft vor Ort gefunden hat. Gleichzeitig gewinnt sie aber dadurch unzählige Gelegenheiten, Straßen, Quartiere und einheimische Menschen kennen zu lernen und vielleicht auf besondere Begegnungen und Erlebnisse der Gastfreundschaft zu stoßen.

Indem sie das Risiko eingeht, ineffizient vorzugehen, wird der Weg zum Ziel und sie erreicht damit, was wir alle suchen: ein erfülltes Leben. Es ist das Gefühl, das Kinder jedes Jahr mit leuchtenden Augen vor dem Weihnachtsbaum haben: die Freude, sich vom Leben und seinen Geschenken überraschen zu lassen. Genauso wird Christines Risiko zum Ungeplanten belohnt mit Geschichten, Erlebnissen, Momenten und Begegnungen, die sie nie gesucht hat und genau deshalb nicht so schnell vergessen wird. Und mal ganz ehrlich: Sind es nicht genau jene Geschichten, die wir beim Abendessen mit Freunden immer und immer wieder begeistert erzählen? Wenn etwas anders lief als geplant? Etwas geschah, was wir gar nicht erwartet hatten?

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