Winterthur 1937

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3«War was los in der Nacht?» Emil setzt sich an den Schreibtisch, nimmt das Rapportbuch zur Hand.

«Das Übliche. Eine Schlägerei mit Körperverletzung, zwei haben wir einkassiert, die hocken oben in der Arrestzelle.» Sein Kollege von der Nachtschicht kratzt sich gähnend am unrasierten Kinn.

«Doppelbelegung?»

«Dreifach. Wir platzen aus allen Nähten.»

Emil nickt zustimmend. Er war ziemlich erschrocken, als er die beengten Verhältnisse im Bezirksgebäude kennengelernt hatte. Das Gefängnis – in Erinnerung an den ersten, wohl ziemlich gemütlichen Gefängnisdirektor auch Kafi Bänz genannt –, Bezirksanwaltschaft, Statthalteramt, Kantonspolizei, alles befindet sich unter einem Dach, was sicherlich Vorteile hat. Aber die Kapo hat nur drei Büroräume für insgesamt neun Mann plus Postenchef zur Verfügung. Der Schlafraum ist eine winzige Kammer, in die kaum zwei Betten passen.

«Auf jeden Fall habe ich mehrere Stunden am Stück durchschlafen können», meint Widmer. «Mehr Schlaf, als ich momentan zu Hause bekomme.»

Widmer ist vor Kurzem Vater geworden. Er beklagt sich zwar gern über die durchwachten Nächte, aber wenn er vom lauten Brüllorgan seines Sohnes berichtet, ist ihm der Vaterstolz nur zu gut anzumerken. Emil neidet ihm das Familienglück ein wenig, wenn er lange Abende allein in seinem Zimmer verbringt.

«Heute früh war auch nichts?», hakt Emil nach. «Anscheinend ist rund um das Bürgerheim Brühlgut die Polizei im Einsatz.»

«Hier ist nichts gemeldet worden.» Widmer zuckt mit den Schultern. «Sicher ein Fall für die Stapo.»

«Sei froh, müssen wir nicht ausrücken.» Korporal Gottlieb Wunderlin betritt das Büro im Parterre des Gebäudes. Sein Uniformrock spannt über dem Bauch; ein Wunder, dass noch kein Knopf abgesprungen ist. Wie der ehemals fesche Polizeiaspirant Wunderlin in den Krisenjahren so massig werden konnte, fragen sich manche.

«Ich habe lieber zu tun, als nur herumzuhocken», meint Emil. Seine Eltern waren beide Krampfer. Der Vater führte eine eigene Schreinerei mit Angestellten, die Mutter erledigte den Haushalt und die ganze Büroarbeit. Es wurde selten ausgeruht, ausser sonntags. Das hat auf Emil abgefärbt.

«Hier, da hast du was zu tun.» Wunderlin wirft Emil den «Landboten» zu. «Lies und schweig.» Emil verdreht die Augen, macht sich dann aber an die Lektüre. Vielleicht erfährt er mehr über den gestrigen Skandal an der Zürcherstrasse. Tatsächlich, das muss ziemlich wild zu- und hergegangen sein in dem sonst so ruhigen Winterthur. Von Pfui- und Schmährufen gegenüber den Deutschen ist die Rede, gereckten Fäusten, Gespucke und Rotfront-Rufen. Und die Polize wird wegen fehlender Präsenz kritisiert. Emil denkt an die Szene im Café Kränzlin.

«Kennst du einen Conrad Schwarz?», fragt er Wunderlin, der am Schreibtisch gegenüber sitzt. Wunderlin ist gebürtiger Winterthurer und seit Jahren auf dem Posten am Neumarkt stationiert, der weiss eine Menge.

«Der Arzt?»

Emil nickt.

«Den kennt jeder. Er ist Anführer der lokalen Frontisten. Sitzt seit ’36 für die Nationale Front im Gemeinderat. Wahrscheinlich träumt er von einer Führungsposition, wenn wir erst einmal ein Gau des Deutschen Reiches sind.»

«Ich kenne solche Typen von Rafz», meint Emil düster. «Die Nationale Front war da so beliebt wie nirgends sonst im Kanton. Je näher man zur Grenze kommt, desto brauner wird es.»

Wunderlin nickt zustimmend. «Sie geben sich alle Mühe, sich als aufrechte Patrioten zu inszenieren. Aber ideologisch sind sie auf der gleichen Schiene wie die Nationalsozialisten. Marschieren mit Fackeln und Fahnen auf und beten Hitler nach.» Er verzieht verächtlich die Mundwinkel.

«Himmelhergott noch mal, das kann doch nicht sein! Ihr wisst genau, dass das unsere Zuständigkeit ist», dringt da Adolf Schäppis Stimme in einem unangenehm lauten, krächzenden Ton durch die geschlossene Tür des Nebenzimmers.

Wunderlin und Emil schauen sich an.

«Der Chef eifert seinem deutschen Namensvetter nach», meint Wunderlin. Emil grinst.

«Kennst du den schon», flüstert Wunderlin, während Schäppi im Büro nebenan noch immer telefoniert. «Durch Berlins Strassen läuft ein Betrunkener. ‹Erst komm ick und dann kommt Hitler, erst komm ick und dann kommt Hitler!›, lallt er ununterbrochen. Der Mann wird auf die Polizeiwache gebracht, lässt sich aber nicht beirren. Ein Polizist durchsucht seine Brieftasche, um den Namen festzustellen. Der Mann heisst: Heil.»

«Verordnung … Stunden später … Mord …» Emil erhascht nur einzelne Gesprächsfetzen aus dem Büro des Leutnants.

«Kapierst du nicht?», hakt Wunderlin nach, als Emil nicht auf den Witz reagiert. «Heil heisst er, wie ‹Heil Hitler›. Habe ich aus dem Nebelspalter.»

«Wir haben vielleicht einen Mord!», ruft Emil aufgeregt. In seiner bisherigen Laufbahn hat Emil erst einmal mit einer Mordermittlung zu tun gehabt, das war noch in seiner Zeit als Rekrut im Büro des Bezirksanwalts in Zürich. Wunderlin seufzt angewidert. Emil wirft dem älteren und höher dekorierten Kollegen einen scheelen Blick zu. Wie der es zum Korporal geschafft hat, ist ihm schleierhaft. Klug ist er ohne Frage. Aber er macht keinen besonders tüchtigen Eindruck, trinkt gern einen über den Durst. Emil hat andere Pläne: Korporal, dann Wachtmeister und irgendwann einen eigenen Posten übernehmen.

Die Verbindungstür wird aufgerissen, Schäppi erscheint im Türrahmen. Er hat nichts mehr von der jovialen Geselligkeit an sich, die er Emil gegenüber im Café Kränzlin gezeigt hat. «Wunderlin, Kern – sofort ausrücken. Und holt Hess vom Erkennungsdienst dazu. Ein Toter im Park des Bürgerheims Brühlgut – Sie wissen schon, das Pfrundheim draussen an der Zürcherstrasse. Ob Unfall, Totschlag oder Mord ist unklar. Die Stapo ist bereits vor Ort; die haben wieder mal die Zuständigkeiten nicht beachtet.»

«Was ist mit mir?» Widmer hat seine Tasche mit den Übernachtungsutensilien aus dem Nachtquartier geholt.

«Ihre Schicht ist zu Ende, Widmer. Gehen Sie nach Hause zu Ihrer Familie, ruhen Sie sich aus. Wenn es sich tatsächlich um Mord handelt, ist in den nächsten Tagen nichts mit geregelten Arbeitszeiten.» Er klopft Emil auf die Schulter. «Das ist Ihre Chance, Kern.» Schäppi macht rechtsumkehrt, geht zurück in sein Büro.

«Ich sag Hess Bescheid», meint Emil. Widmer schaut finster, murmelt etwas von ungerecht.

«Sei froh», blafft Wunderlin. «Mordermittlungen sind kein Spaziergang.»

Die Verbindungstür öffnet sich ein zweites Mal. «Der Tote ist wohl Deutscher. So viel haben die Kollegen von der Stapo schon herausbekommen. Gestern die Ausschreitungen gegen die Deutschen, heute ein toter Deutscher.» Schäppi schüttelt das kahle Haupt. «Ich hoffe, da gibt es keinen Zusammenhang. Auf jeden Fall ist saubere Arbeit gefragt, verstanden?»

Emil und Wunderlin nicken unisono.

«Berichterstattung ist um zwei.» Mit diesen Worten verschwindet Schäppi definitiv in seinem Büro.

4«Na, ausgeschlafen?»

Emil ignoriert den Kollegen von der Stapo, steigt vom Velo und stellt es an den Wegrand. Wunderlin ist am Eingang zum Park des Bürgerheims abgestiegen, stösst das Velo mit gerötetem Kopf über den Kiesweg. Hinter ihm taucht auch schon Hess auf, den Untersuchungskoffer in der Hand.

Wunderlin parkiert sein Velo, wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn und nimmt die Fotoausrüstung zur Hand, die er transportiert hat. «Genug amüsiert?», fragt er den Stadtpolizisten, der das Trio feixend betrachtet. «Ich glaube, wir kennen uns. Gefreiter Stäubli, korrekt?»

Stäubli nickt.

«Korporal Wunderlin, Korporal Hess vom Erkennungsdienst und der Gefreite Kern», fährt Wunderlin fort. «Quis, quid, ubi, quibus auxilius, quomodo, quando?»

«Wie bitte?»

«Dritter Abschnitt zur Tatbestandsaufnahme im Kriminalistikleitfaden: Wer, was, wo, womit, wie, wann? Es gäbe auch noch ein Warum, aber das können wir uns für den Moment wohl sparen.» Der Stapo-Kollege guckt perplex.

Wunderlin seufzt. «Waren Sie bis jetzt zuständig, Stäubli?»

Stäubli schüttelt eingeschüchtert den Kopf. «Ich halte hier nur die Gaffer fern. Korporal Tschopp ist mein Vorgesetzter. Er ist da drüben beim Toten.» Stäubli weist die Richtung. Der Kiesweg im unteren Teil des Parks ist angelegt wie eine liegende Acht. Die Polizisten befinden sich am oberen Ende dieser Acht, der Tote gegenüber am unteren Ende, wo besonders viele Bäume und Büsche gepflanzt sind.

«Na dann.» Diesmal schreitet Wunderlin voran, Emil und Hess folgen. «Ich rede, du machst Notizen, Kern», erteilt Wunderlin Weisungen. «Hess, das Übliche: Fotos, Spurensicherung Tatort und Umgebung.» Jetzt ist der sonst so träge Wunderlin ganz Korporal. So hat Emil ihn noch nicht erlebt.

«Wenn es denn einen Tatort gibt», murmelt Hess. Das sind die ersten Worte, die Emil ihn heute sagen hört. Wortkarg ist eine Untertreibung für Hess. Emil hat bislang nicht viel mit dem Kriminaltechniker zu tun gehabt, aber ihm ist zu Ohren gekommen, dass er ein brillanter Analytiker sein soll, einer, der im Messen und Auswerten aufgeht. Dafür bleibt das Zwischenmenschliche wohl auf der Strecke; Hess ist gern für sich.

«Wunderlin, auch schon da? Wäre nicht mehr nötig gewesen, die meiste Arbeit haben wir bereits erledigt.» Stapo-Korporal Tschopp klopft Wunderlin auf die Schulter. Schräg hinter ihm, halb verdeckt von dichten Büschen, stehen zwei weitere Uniformierte.

«Schön wär’s», meint Wunderlin. «Nur weil ihr motorisiert seid und der Notruf bei euch reinkommt, versteht ihr noch lange nichts von kriminalistischen Ermittlungen. Wäre nicht das erste Mal, dass ihr wichtige Tatbestände nicht aufnehmt.»

 

«Na, na.»

«Ich sage nur Fall Eugster.»

«Schon gut, lassen wir die Kabbeleien», unterbricht Tschopp eilig. «Heute Morgen wurde kurz nach halb acht ein Toter hier im Park gemeldet. Wir sind ausgerückt, haben tatsächlich einen toten Mann vorgefunden, ihn untersucht und die Zeugin befragt.»

«Ihn untersucht, na wunderbar», meint Hess zähneknirschend.

«Untersucht ist vielleicht etwas übertrieben», krebst Tschopp zurück. «Den Puls gefühlt, Atemtest gemacht. In den Taschen nach einem Ausweis gesucht.»

«Lasst ein nächstes Mal die Finger von allem, bis der kriminaltechnische Dienst da ist», knurrt Hess. «Das Letzte, das wir brauchen können, sind Dilettanten am Werk.» Mit diesen Worten drängt er am sprachlosen Tschopp vorbei, umrundet einen bereits in Blüte stehenden Bauernjasmin. Wunderlin und Emil folgen.

«Mein Gott!» Emil weicht zurück.

Wunderlin pfeift leise durch die Zähne. «Ganz schön viel Blut.»

«Kopfverletzungen bluten nun mal stark.» Hess, nüchtern wie immer, kniet neben dem Toten nieder.

«Verletzung ist gut. Der halbe Schädel ist weg.» Wunderlin kramt in seiner Tasche nach Zigaretten, reicht Emil das gelbe Päckchen. «Rauchen beruhigt die Nerven.»

Emil befolgt den Rat. Wunderlin zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Hess fotografiert den Hinterkopf des Toten, eine einzige blutige Masse, darin helle Knochenteile und gallertartige, gräuliche Stückchen: Gehirn. Emils Hand zittert leicht, als er die Zigarette zum Mund führt und daran zieht. Hess macht derweil mehrere Ganzkörperaufnahmen, fotografiert den mit Blut getränkten Boden rund um den Kopf des Toten.

«Puls gefühlt, Atemtest gemacht», brummt er und schüttelt ungläubig den Kopf. «Sieht doch jeder Lappi, dass der hier mausetot ist.» Er schaut in den Himmel; mittlerweile sind dunkle Wolken aufgezogen. «Ich muss mich ranhalten. Wenn es erst anfängt zu regnen, wird es schwierig mit der Sicherung allfälliger Spuren.»

Wunderlin nickt zustimmend. «Was könnt ihr uns über den Toten sagen?», richtet er das Wort an Tschopp.

«Männlich, siebenundvierzig Jahre alt.» Tschopp steht nun neben seinen beiden schweigsamen Uniformierten, die Hände in den Hosentaschen vergraben. «Laut seinen Papieren handelt es sich um Ottmar Ritter.»

«Deutscher.»

«Deutscher», bestätigt Tschopp. «Lebt seit knapp acht Jahren in der Schweiz, wenn man auf die Erstausstellung des Ausweises abstellt.»

«Verheiratet?»

«Zu weiteren Abklärungen sind wir noch nicht gekommen», sagt Tschopp abwehrend.

«Er trägt einen Ehering», wirft Emil ein und deutet auf die linke Hand des Toten.

Wunderlin beugt sich vor, betrachtet den schmalen, goldenen Ring. «Dann gibt es wohl eine Ehefrau. Vielleicht auch Kinder.» Wunderlin starrt einen Moment düster vor sich hin, zieht an seiner Zigarette.

«Kannst du mir mal zur Hand gehen, Kern? Ich will ihn anheben. Vielleicht finden wir etwas unter ihm.» Hess hat die Kamera weggelegt, nimmt Gummihandschuhe aus dem Untersuchungskoffer und zieht sie über. «Nein, warte. Ich sichere erst das hier.» Er verstaut vorsichtig ein rotes Stückchen Stoff, das neben dem Toten gelegen hat, in einer Papiertüte.

«Ein Nazifähnchen», meint Wunderlin. «Ob das was zu bedeuten hat?»

«Dafür seid ihr zuständig. Ich untersuche es nur auf Fingerabdrücke oder sonstige Spuren.» Hess schaut zu Tschopp. «Ist das Spital avisiert?»

Der nickt. «Er wird dort zur Obduktion erwartet. Sobald ihr durch seid, bieten wir die Sanität auf, die ihn hinbringt.»

«Na, dann komm, Kern», fordert Hess Emil auf.

Der drückt seine Zigarette aus und wickelt den Stummel sorgfältig in sein Taschentuch, schliesslich will er den Tatort nicht kontaminieren. Dann kniet er neben Hess auf den Boden.

«Greif ihn auf der anderen Seite.»

Emil macht, was Hess ihm aufträgt, vermeidet, so gut es geht, den Blick auf den Kopf des Mannes, der vor ihm auf dem Boden liegt.

«Und jetzt halt ihn so.» Hess fotografiert den Boden unter dem Toten. «Er hat sich übergeben.» Hess legt die Kamera zur Seite, nimmt mit behandschuhten Händen eine Probe des gelblichen Erbrochenen, das halb eingetrocknet ist. «Kurz vor seinem Tod, nehme ich an.»

Die Leiche ist schwer, viel schwerer als Emil gedacht hat. Seine rechte Hand rutscht ab, kommt auf die blutgetränkte Schulter zu liegen. Der Stoff der Jacke fühlt sich feucht an von Blut und anderen Flüssigkeiten. Emil schnauft schwer. Er schliesst für einen kurzen Moment die Augen, wünscht sich an einen anderen Ort. Er riecht den blumigen Bauernjasmin, den knoblauchigen Bärlauch. Frühlingsdüfte. Und den metallischen Geruch von Blut, den stechenden Gestank des Erbrochenen.

«Halt noch einen Moment fest.» Emil öffnet die Augen. Hess tastet den Boden mit den Händen ab. «Nichts. Du kannst ihn jetzt zurücklegen. Vorsichtig!» Emil macht wie geheissen. Schweisstropfen stehen auf seiner Stirn.

«Ist dir etwas aufgefallen?», fragt Wunderlin.

«Die Finger sind gekrümmt, die Handflächen und Nägel voll Erde. Sieht fast so aus, als habe er sich mit den Fingern in den Boden gekrallt.» Hess deutet auf die Fingerspitzen des Toten. «Und dann das Erbrochene. Üblicherweise erbricht man sich nicht mehr, wenn man einen derartigen Schlag auf den Schädel bekommen hat. Man ist sofort tot.»

«Bist du sicher, dass es ein Schlag auf den Schädel und kein Sturz auf einen Stein oder etwas Ähnliches war?»

Hess zuckt mit den Schultern. «Ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand kann von einem Sturz mit starker Kopfverletzung kaum unterschieden werden. Aber nach einem Sturz auf den Hinterkopf läge der Tote nicht in Bauchlage. Ausserdem fehlt hier eine harte Oberfläche, auf der er hätte aufschlagen können.» Er tastet den Boden ab. «Alles weich.» Er schaut sich um. «Da ist auch kein Sockel oder Stein in der Nähe.»

«Vielleicht war er nach dem Sturz noch am Leben, hat sich gedreht, ist ein paar Meter weit gekrochen», wirft Tschopp ein.

Hess mustert ihn mit offensichtlicher Geringschätzung. «Unwahrscheinlich», murmelt er. «Oder sehen Sie eine Blutspur?»

«Tschopp, wann und von wem wurde die Leiche gefunden?», geht Wunderlin dazwischen.

«Die Meldung kam kurz nach sieben von …»

Tschopp nickt einem seiner Uniformierten zu, der übernimmt. «Sophie Burger. Küchenhilfe im Bürgerheim. Sie wohnt im Schöntal, also ist sie vermutlich von da gekommen.» Der Uniformierte deutet mit dem Arm Richtung Lokomotivfabrik.

«Vom Weg aus ist die Leiche nicht zu sehen», unterbricht Wunderlin ungeduldig. «Was hat sie veranlasst, hinter die Büsche zu schauen?»

«Sie wollte Bärlauch pflücken für die Kartoffeln am Mittag. Dabei ist sie auf den Toten gestossen.»

Hess hat mit der Untersuchung der Umgebung begonnen, hebt nun ein paar lose, abgeschnittene Bärlauchblätter auf. «Passt», meint er. «In der Panik hat sie die dann fallenlassen.»

«Wo ist die Zeugin jetzt?»

«Oben.» Tschopp nickt Richtung Pfrundhaus. «Der Heimleiter kümmert sich um sie. Heute ist wohl nichts mit Bärlauchkartoffeln.» Niemand reagiert auf seinen lauen Scherz.

Wunderlin klatscht in die Hände. «Also gut. Kern, wir machen uns auf die Suche nach der Zeugin. Hess, bist du fertig mit dem Toten?»

«Kann abtransportiert werden. Die Kleidung hole ich später im Spital. Während ihr euch im Pfrundhaus herumtreibt, schaue ich mir die Umgebung an. Spuren zu sichern wird schwierig auf der Wiese, aber ich steche hier die Erde aus.» Er deutet auf die Stelle unter dem Kopf des Toten. «Hoffentlich haben die Regenwürmer noch nicht das ganze Blut gegessen.»

Emil verspürt eine Welle der Übelkeit; er atmet tief durch, versucht sich nichts anmerken zu lassen.

«Und ich fertige eine Blutskizze an. Eines kann ich euch bereits sagen: Derjenige, der Ritter den Schädel eingeschlagen hat, wird mit Sicherheit auch etwas vom Blut des Opfers abbekommen haben.» Hess nimmt Zeichenpapier aus seinem Koffer.

«Ihr habt’s gehört», sagt Wunderlin zu Tschopp und seinen ihm Unterstellten. «Sanität benachrichtigen und ab zur Sektion mit ihm. Ab jetzt übernehmen wir.» Er überlegt es sich anders. «Tschopp, lassen Sie einen Ihrer Männer hier, bis ich eine Ablösung organsiert habe. Allenfalls kommt der Täter zurück, um Spuren zu legen oder zu verwischen. Dann soll er uns nicht durch die Lappen gehen.»

5Zwanzig Minuten später verlassen Wunderlin und Emil das Bürgerheim über die Eingangstreppe, die auf den gekiesten Vorplatz führt. Es hat zu nieseln begonnen.

«Neues haben wir nicht erfahren», meint Emil.

«Es geht nicht immer um das, was gesagt wird, Kern», sagt Wunderlin. «Du musst auf die Zwischentöne achten. Auf das Ungesagte.» Er bleibt auf der letzten Stufe der Treppe stehen, schaut auf die Uhr. «Nach zehn. Zeit für eine kleine Stärkung.» Er zieht einen Flachmann aus der Tasche, hält ihn Emil hin. Der schüttelt den Kopf. Er könnte zwar eine Stärkung gebrauchen, denkt dabei aber an das Butterbrot, das er auf dem Posten hat liegen lassen.

Wunderlin nimmt einen grossen Schluck, schraubt den Deckel wieder zu. «Der Heimleiter ist die ganze Zeit um uns herumgewuselt. Der magere Spitzbart wollte uns keine Sekunde mit Sophie Burger allein lassen. Ist dir das nicht aufgefallen?»

Emil hat sich nichts dabei gedacht, schliesslich hatte Frau Burger einen Schock erlitten.

«Vielleicht wollte er hören, was sie uns zu sagen hatte. Ist übrigens auch ein Deutscher, der Heimleiter.»

«Meinst du?»

«Ich bin mir ziemlich sicher. Hast du den Einschlag in seinem Dialekt nicht bemerkt? Und dann der Name. Bosch, nicht besonders schweizerisch.»

Emil zuckt die Schultern. «Kann sein», murmelt er.

Sie gehen nebeneinander, der Kies knirscht unter den Sohlen, die Feuchtigkeit des Nieselregens benetzt ihre Gesichter. Emil hängt seinen Gedanken nach. Herr Bosch schien ehrlich besorgt zu sein und ergänzte auf Nachfrage, dass am frühen Morgen niemand aus dem Heim den Park betreten habe, auch er nicht. Er muss es wissen, schliesslich wohnt er mit seinen Bewohnern unter einem Dach. «Ich glaube, der Heimleiter ist einfach in Sorge um seine Bewohner.»

«Ah bah. Der ist höchstens in Sorge wegen seines Budgets. Wenn Sophie Burger für ein paar Tage ausfällt und ein Ersatz her muss, ist das für ihn eine Katastrophe. In solchen Institutionen ist das Geld immer knapp.»

«Sieht man gar nicht.» Emil deutet auf die weitläufige Parklandschaft.

«Tja, der Gartenarchitekt hat fantastische Arbeit geleistet. Aber Parkpflege und Altenpflege – das sind zwei verschiedene Töpfe, aus denen das Geld kommt. Für repräsentative Blümchen wird wohl mehr abfallen als für ein paar Alte.»

Emil weiss nicht, ob er lachen oder entsetzt sein soll. Wunderlin kann mitunter ganz schön zynisch sein.

Mittlerweile sind sie bei ihren Velos angekommen.

«Jetzt müssen wir Frau Ritter informieren, bevor sie es von jemand anderem erfährt», sagt Wunderlin. «Schlechte Nachrichten machen schnell die Runde.»

Sie radeln die Zürcherstrasse entlang bis zur oberen Schöntalstrasse. Es hat ganz schön Verkehr, vier, fünf Autos fahren auf der kurzen Strecke an ihnen vorbei. Aus den hohen Schornsteinen der Lokomotivfabrik steigt dunkler Rauch in den grauen Himmel. Sie lassen ein Tram passieren und wechseln auf die andere Strassenseite, wo Hausfrauen mit Regenschirmen und Kopftüchern unterwegs sind, um in den Geschäften an der Zürcherstrasse ihre Besorgungen zu erledigen.

Vor dem Restaurant Braustube bleiben sie stehen. «Sieht neu aus, der Bau.» Emil betrachtet das auffällige Wandbild über der Eingangstür: ein überlebensgrosser Braumeister mit Fass auf der Schulter.

«Wurde vor ein paar Jahren fertiggestellt.» Wunderlin lehnt sein Velo an die Wand, wischt sich Regentropfen aus dem Gesicht. «Dort drüben ist die Nummer 63.» Er deutet auf den Eingang zu seiner linken. Emil stellt sein Velo neben das von Wunderlin, trocknet sich ebenfalls mit einem Taschentuch ab und zieht den Uniformrock gerade.

«Na dann los.» Wunderlin öffnet die Haustür. «Ich rede, du schreibst, wenn es was zu schreiben gibt.»

Auf dem Treppenabsatz vor dem dritten Stock hält er inne, dreht sich zu Emil um. «Jetzt kommt das, was ich wirklich hasse. Die schlechteste aller Nachrichten überbringen, daran gewöhnst du dich nie.»

Eine Frau öffnet auf ihr Klingeln. Sie ist jünger, als die Polizisten erwartet haben, Ende zwanzig, unscheinbar, das Hauskleid mit Kragen hängt wie ein Sack an ihrer schmächtigen Gestalt, die blonden Haare sind stumpf. Vielleicht ist sie einmal hübsch gewesen, aber nun sieht das ungeschminkte Gesicht verhärmt aus, verbraucht vom Leben. «Frau Ritter?»

 

Sie registriert die Polizeiuniformen, die grauen Augen weiten sich, alles Blut weicht aus ihrem Gesicht. «Ist etwas mit dem Margritli?»

Sie meint sicherlich ihr Kind. Die erste Frage gilt immer dem Kind. Eine Tochter also.

«Mit dem Margritli ist nichts», sagt Wunderlin beruhigend. «Dürfen wir hereinkommen?»

«Dann also mit dem Ottmar?» Die Frau deutet Wunderlins Miene richtig, ihre Hand fährt zum Mund. «Was ist passiert?»

«Am besten gehen wir hinein und setzen uns.» Es scheint, als wolle die Frau noch etwas sagen, aber dann macht sie einen Schritt zur Seite, lässt die beiden Polizisten eintreten. Vom engen Eingangsbereich gehen mehrere Türen weg, die bis auf eine alle offen stehen. Emil erhascht einen Blick in die Küche, das Kinderzimmer und in ein kleines Bad. Eine Wohnung mit eigenem Badezimmer, das hat Seltenheitswert hier im Arbeiterquartier. Wird nicht günstig sein, die Miete, denkt er.

Frau Ritter geht voran, führt sie ins Wohnzimmer, bleibt hilflos stehen.

«Setzen Sie sich.» Wunderlin nimmt sie sanft am Arm, geleitet sie zum Sofa, setzt sich dann ihr gegenüber in den Lehnsessel.

Emil schaut sich um, zieht den hölzernen Klavierstuhl heran. Das Klavier erstaunt ihn, ebenso das Radio auf der Kommode. Seine Vermieter sind ähnlich eingerichtet, aber die besitzen ein Möbelgeschäft. Emil verspürt leisen Neid beim Anblick der polierten Oberflächen. Er ist zweiunddreissig und lebt in einem möblierten Zimmer.

«Es tut mir leid, Frau Ritter.» Wunderlin beugt sich vor, sucht Frau Ritters Blick. «Ein Mann ist heute früh tot aufgefunden worden. Dieses Papier haben wir bei ihm gefunden.» Wunderlin nimmt den Ausländerausweis aus der Tasche, hält ihn Frau Ritter hin.

Sie zögert, greift danach. «Ottmar, tot?»

«Gehört der ihrem Mann?» Wunderlin deutet auf den Ausweis.

Anna Ritter nickt. Ihr schmaler Körper ist angespannt, die Hände ballen sich zu Fäusten, nur das Gesicht bleibt seltsam ausdruckslos.

Emils Neid schlägt in Mitleid um. Auch wenn man noch so viel hat, von einem Moment zum anderen kann man alles verlieren. Auf einem Beistelltisch sieht er ein Foto stehen, eine Studioaufnahme der Familie.

«Was machen wir nun ohne ihn?» Anna Ritter schlägt die Hände vors Gesicht. «Jetzt hat das Margritli keinen Vater mehr.»

«Wie alt ist Ihre Tochter?», hört Emil sich fragen. Wunderlin wirft ihm einen befremdeten Blick zu. Für die Fragen ist er zuständig.

«Beinahe acht ist sie.»

Das wird schwer werden für das Mädchen, denkt Emil. Er war etwas älter, als seine Mutter gestorben war. Ihr Tod bedeutete für ihn das Ende seiner Kindheit.

«Haben Sie weitere Kinder?», übernimmt Wunderlin wieder.

Anna Ritter schüttelt den Kopf. «Nur das Margritli. Eigentlich heisst sie Margret. Ottmar nennt sie Greta, so hat seine Mutter geheissen.» Sie lässt den Oberkörper nach vorne fallen und bricht in Tränen aus.

Wunderlin rutscht unbehaglich hin und her. «Holen Sie der Frau ein Glas Wasser, Kern.»

Emil ist froh, dem Kummer für einen Moment zu entrinnen. Die Küche ist sparsam eingerichtet, aber blitzblank. Ein kleiner Tisch mit Linoleumplatte, drei Stühle, ein Buffetschrank mit Vorratsbehältern aus Steingut und vielen Schubladen.

Gegessen wird wohl hier, das Wohnzimmer dient lediglich der Entspannung, der Musse, denkt Emil und öffnet eine der oberen, mit Glas versehenen Schranktüren, nimmt ein Wasserglas heraus und füllt es. Er selbst trinkt einen Schluck direkt vom Hahn.

Zurück in der Stube rückt er den Beistelltisch in die Nähe von Frau Ritter, stellt das Glas vor sie hin und schaut sich die Familienaufnahme näher an. Sie muss älteren Datums sein, Margritli ist noch ein kleines Kind. Ottmar Ritter war ein fescher Kerl mit einem Schopf hellbrauner Haare und ausgeprägten Wangenknochen.

Anna Ritter hat ihren Weinkrampf überwunden, sitzt nun da mit geröteten Augen, knetet den Stoff ihres Kleides mechanisch zwischen den Fingern.

«Ich habe Frau Ritter erklärt, dass die Todesursache ihres Mannes noch nicht feststeht. Wir gehen von einem Gewaltdelikt aus.»

«Gewaltdelikt», wiederholt Anna Ritter erstaunt.

«Vermutlich wurde Ihr Mann niedergeschlagen. Aber wir warten die Untersuchungsergebnisse ab, bevor wir definitiv etwas dazu sagen können.» Wunderlin lässt das einen Augenblick setzen. «Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?», fragt er dann.

Anna Ritter schweigt, nippt am Wasser. Ihre Wangen haben wieder etwas Farbe angenommen.

«Frau Ritter?»

Sie zögert noch immer. «Gestern Nachmittag», sagt sie schliesslich kaum hörbar.

«Gestern Nachmittag», wiederholt Wunderlin.

«Ich …» Sie stellt das Glas wieder ab. «Wir haben das Spiel am Radio gehört. Ottmar wollte danach auf die Strasse, um zu schauen, was da los war. Dieser Zug der Deutschen, Sie wissen schon.»

Wunderlin nickt. Emil schreibt mit.

«Und dann ist er nicht mehr nach Hause gekommen?»

Sie schüttelt den Kopf.

«Haben Sie sich keine Sorgen gemacht? Jemanden kontaktiert?»

Wieder schüttelt sie stumm den Kopf.

«Weshalb nicht? Angenommen meine Frau würde über Nacht nicht nach Hause kommen – ich würde mich bei all ihren Bekannten erkundigen, bei der Polizei und beim Spital vorstellig werden.»

Emil stutzt. Er hat Wunderlin noch nie von seiner Frau reden hören.

«Es war nicht das erste Mal.» Sichtlich beschämt senkt Anna Ritter den Kopf.

«Er ist öfters weggeblieben?»

«Nicht öfters, nein. Aber es kam manchmal vor, wenn er getrunken hatte. Er trinkt nicht oft, aber wenn, dann … Er wusste, dass ich ihn nicht besoffen in der Wohnung will, vor der Kleinen. Er ist jeweils wiedergekommen, wenn er nüchtern war.»

Emil schreibt eifrig mit.

«Wo und mit wem hat er getrunken? Mit Arbeitskollegen vielleicht?»

«Kann sein.» Sie zuckt wieder mit den schmalen Schultern.

«Verkehrte er vor allem mit Deutschen?»

«Mit Deutschen. Mit Schweizern. Ottmar hatte gern Gesellschaft.»

Das klingt fast ein bisschen bitter. Emil schaut Anna Ritter forschend an, aber ihre Miene verrät nichts.

Wunderlin unterdrückt einen Seufzer, streicht über sein lichtes Haar, unter dem die Kopfhaut durchschimmert. Die Frau hat nicht viel zu sagen. Wahrscheinlich der Schock. Er kramt seine Zigaretten hervor. «Darf ich?»

Sie schaut ihn teilnahmslos an, nickt.

«Sie auch?»

Sie verneint. Wunderlin zündet sich eine Zigarette an. Anna Ritter steht auf und holt einen Aschenbecher aus der Kommode, reicht ihn dem Polizisten.

«Paulaner München», liest dieser halblaut den Schriftzug. «War da Ihr Mann her?»

Die Frau schaut verwirrt. Wunderlin deutet auf den Aschenbecher. «München.»

«Nein. Den muss er mal geschenkt bekommen haben.»

«Woher kam denn Ihr Mann?»

«Aus Buch, einem kleinen Dorf, etwa vierzig Kilometer von München entfernt. Aber da war er lange nicht mehr.»

Wunderlin nickt, Emil schreibt.

«Hat Ihr Mann mit den Nationalsozialisten sympathisiert? Wir haben ein entsprechendes Fähnchen bei ihm gefunden und wo München doch die Hauptstadt der Bewegung ist …»

Anna Ritter schaut müde aus, erschöpft, dunkle Ringe zeichnen sich unter ihren Augen ab. «Der Ottmar war kein politischer Mensch. Und ein Fähnchen habe ich nie bei ihm gesehen. Ich verstehe nicht, was das mit dem Tod von Ottmar zu tun haben soll.»

«Vielleicht hat sich ihr Mann durch seine Gesinnung Feinde gemacht. Gerade hier im roten Töss sind Nazis nicht besonders hoch im Kurs.»

«Wie ich bereits sagte: Ottmar hatte mit Politik nichts am Hut.»

«Sonst jemand, der ihm nicht wohlgesinnt war?»

«Ich weiss nicht», murmelt sie. Sie erhebt sich halb vom Sofa. «Ich muss jetzt das Mittagessen kochen für mein Margritli. Die Schule ist bald aus.»

«Nur noch ein, zwei Fragen, Frau Ritter.»

«Ich kann nicht mehr. Bitte.»