Buch lesen: «Der Fall Maria Okeke»
Eva Ashinze
Der Fall Maria Okeke
Eva Ashinze
Der Fall Maria Okeke
Kriminalroman
orte Verlag
© 2015 orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
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Umschlaggestaltung: Janine Durot
Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
Gesetzt in Times New Roman
ISBN: 978-3-85830-184-0
ISBN eBook: 978-3-85830-189-5
www.orteverlag.ch
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
1
«Moira, kannst du vorbeikommen? Kannst du jetzt vorbeikommen?» Die Stimme von Asim hatte einen drängenden Unterton. Dem war jedoch nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Bei Asim war es immer dringend. Ob es darum ging, mir ein paar honigsüsse Melonen vorzusetzen, einen seiner Angestellten aus dem Gefängnis zu holen oder Einsprache gegen eine Parkbusse zu erheben – ich sollte immer jetzt, sprich sofort, vorbeikommen.
Erstmal zog ich an meiner Zigarette und inhalierte den Rauch, so tief es nur ging. Leider stellt sich seit langem kein Tabak-Flash mehr ein; mein Körper ist zu sehr an das Nikotin gewohnt. «Was ist los?», fragte ich Asim, während ich den Rauch wieder ausstiess.
«Du rauchst», meinte Asim vorwurfsvoll.
«Na und? Du rauchst doch auch. Ich kann es hören.»
«Ich bin alt. Du bist jung. Du sollst leben, nicht sterben.»
«Asim, lass den Quatsch. Rufst du mich um Mitternacht an, um mich auf die Gefahren des Zigarettenkonsums aufmerksam zu machen? Das hätte auch bis morgen früh warten können.»
«Natürlich nicht. Natürlich rufe ich nicht deswegen an. Du musst vorbeikommen. Wir müssen reden.» Er zögerte. «Es geht um Mord.»
Asim und ich kennen uns schon lange, eine gefühlte Ewigkeit. Mit Anfang zwanzig war ich lebensmüde und deprimiert und derart pleite, dass sogar mein Zigarettenkonsum darunter gelitten hatte. Deprimiert bin ich noch immer oft. Angepisst von der Welt. Pleite nur noch sporadisch, wenn meine Mandanten kein Geld haben, um meine Rechnungen zu begleichen. Was aber auch nicht gerade selten vorkommt.
Auf jeden Fall hatte mich ein wohlmeinender Freund in Asims Restaurant, das angesagte «Alibaba», eingeladen. Ich turtelte – zum Ärger meines Begleiters – ein bisschen mit dem gut fünfzehn Jahre älteren Asim, und der Abend endete für mich unverhofft mit einem Nebenjob als Kellnerin bei Asim. Die Bezahlung war in Ordnung, der Chef ebenfalls, mein dringendstes Problem also gelöst. Meine Episode als Kellnerin dauerte zwar nicht allzu lange – ich konnte mich nicht überwinden, freundlich zu den Gästen zu sein – aber seither führen Asim und ich eine Art Freundschaft. Da war nie mehr. Keine Küsse, kein Sex. Anziehung ist zwar vorhanden, aber wir widerstehen ihr in stillschweigender Übereinkunft. Weshalb etwas Gutes gefährden? Selten bin ich so einsichtig wie in meiner Beziehung zu Asim. Uns verbindet die Schweigsamkeit. Asim und ich können die halbe Nacht zusammensitzen, zwei oder mehr Flaschen Rotwein leeren und eine Packung Zigaretten teilen. Eine rege Unterhaltung findet nicht statt. Von Asims Privatleben weiss ich nur, dass er zweimal geschieden ist und seit Jahren eine feste Freundin hat, eine Halbinderin namens Yasmina. Anscheinend gibt es in Pakistan auch einen erwachsenen leiblichen Sohn, zu dem er aber keinen Kontakt pflegt. Sowieso ist Asims Vergangenheit ziemlich undurchsichtig. Weshalb und auf welchen Wegen er vor über dreissig Jahren hierhergekommen ist – darüber schweigt er sich aus. Trotzdem vertraue ich Asim. Was ich sonst nicht von vielen Menschen behaupten kann. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich zu Asim. Ein gravierendes Problem selbstredend. Mit Liebeskummer zum Beispiel muss ich ihm nicht kommen.
«Such dir einen Neuen», hat er mir auf meine Klage einmal geantwortet. «Du siehst gut aus. Wo ist das Problem?» Für solche Banalitäten hat er kein Verständnis. Aber bei Geldproblemen, Verzweiflung, wüsten Drohungen von Ex-Liebhabern ist er meine Anlaufstelle. Oder einfach nur um gemeinsam einen Abend lang ein paar Flaschen Wein zu trinken. Und seit ich als selbstständige Anwältin arbeite, versorgt Asim mich mit Mandanten aus seinem Umfeld. Mandanten, die meist nicht zahlungskräftig sind, dafür umso verzweifelter. Aber Mord, Mord war bisher nicht dabei.
«Was meinst du mit Mord?», fragte ich vorsichtig.
«Was ich mit Mord meine?», er klang irritiert. «Gibt es da mehrere Auslegungen? Mord, es geht um Mord. Ich brauche dich. Also beweg dich hierher.» Sein Akzent klang stärker durch als üblich; Asim musste ziemlich aufgeregt sein. Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt. Missmutig starrte ich den Hörer an. Ich hatte mir bereits meine üblichen abendlichen Gläser Wein genehmigt, also lag Auto fahren nicht drin. Entweder musste ich mich in den Fahrradsattel schwingen oder ein Taxi nehmen. Mürrisch wog ich die beiden gleichermassen unattraktiven Alternativen – mitternächtliche sportliche Betätigung oder zusätzliche Kosten – gegeneinander ab. Auch den Anruf einfach zu ignorieren erwog ich kurz, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Asim brauchte mich, das war etwas noch nie Dagewesenes. Das durfte ich nicht auf die leichte Schulter nehmen.
2
«Moira, endlich.» Asim küsste mich auf die Wange und führte mich durch das «Alibaba» zu einem Tisch in der hinteren Ecke. «Das ist Henry.» Er deutet auf einen dunkelhäutigen Mann, der mit gesenktem Kopf am Tisch sass. «Henry Okeke.»
«Henry, das ist Moira, Moira van der Meer, die Anwältin.»
Henry hob den Kopf und nickte mir zu. Er war gutaussehend, oder er wäre gutaussehend gewesen, wenn er nicht so verhärmt gewirkt hätte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Kleidung hing lose an seinem Körper. Offenbar hatte er in letzter Zeit stark abgenommen. Ich setzte mich zu ihm. Er roch nach dem Staub einer ungelüfteten Wohnung, nach Zigarettenrauch und nach etwas anderem, Bitterem: Er roch wie Traurigkeit.
Asim stellte eine Tasse Kaffee vor mich hin. Wein bot er mir heute nicht an. Das hiess, es war wirklich ernst. «Erzähl es Moira», sagte er zu Henry gewandt.
«Es ist … Der Staatsanwalt …», setzte Henry mehrmals an, schüttelte dann den Kopf und deutete mit dem Kinn auf Asim. «Erzähl du. Ich kann nicht.» Sein Deutsch war gut, zwar nicht so gut wie das von Asim, aber gut. Sein Akzent verriet jedoch – neben seinem Aussehen – seine afrikanische Herkunft.
«Es geht um Henrys Tochter. Maria.» Asim beobachtete mich. «Maria ist tot.»
Ich zuckte zusammen. Maria ist tot. Dann beruhigte ich mich. Marias gibt es zu Tausenden. Das hier war eine andere Maria. Nicht meine. Ein Zufall. Kein Zeichen.
«Tot? Wurde sie ermordet?»
Asim schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Achseln, was mich unter anderen Umständen sehr erheitert hätte. Asim gab mir einen Zeitungsauschnitt. «Am besten liest du das.»
Frau von mehreren Autos überrollt
Auf der Autobahn A1 bei Winterthur-Wülflingen ist am späten Freitagabend des 2. März eine Frau von mehreren Fahrzeugen überrollt worden. Sie wurde zunächst von einem Personenwagen überfahren. Nach der Kollision geriet das Auto ins Schleudern, überschlug sich und kam auf dem Dach zu liegen. Der Lenker wurde dabei nicht verletzt. Anschliessend wurde die tödlich verletzte Frau von weiteren Fahrzeugen überrollt. Die Autobahn musste für mehrere Stunden gesperrt werden. Die Staatsanwaltschaft geht aufgrund der Untersuchungen von einem Suizid aus. Die verstorbene Frau sprang von der Brücke vor der Ausfahrt Winterthur-Wülflingen. Noch ungesichert ist die Identität der Frau. Ein Gentest, durchgeführt vom Rechtsmedizinischen Institut Zürich, soll im Laufe der Woche Klarheit bringen. «Dieses Vorgehen ist bei Verkehrsunfällen dieser Art üblich», so der Sprecher der Kantonspolizei. «Denn das Opfer ist so stark entstellt, dass eine Identifikation nicht möglich ist.»
Ich war etwas ratlos. Der Artikel war einige Wochen alt. «Ich verstehe nicht», sagte ich. «Geht es in diesem Artikel um Maria? Sie hat sich umgebracht? Weshalb …»
Henry unterbrach mich. «Sie hat sich nicht umgebracht. Das ist eine Lüge! Eine Lüge! Der Staatsanwalt behauptet das. Er behauptet, sie habe sich prostituiert. Eine Nutte sei sie gewesen, und dann habe sie sich umgebracht, aus Scham und weil sie deswegen depressiv war oder was weiss ich. Aber das stimmt nicht. Das ist nicht wahr.» Seine Stimme brach. Er bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. Aus seiner Kehle drang ein dumpfer Krächzer, der mich erschauern liess. Asim sah mich an und deutete mit dem Kopf auf die Eingangstür des «Alibaba». Ich nickte und stand auf.
«Wir lassen dich einen Augenblick allein.» Asim legte Henry die Hand auf die Schulter. «Nachher besprechen wir alles in Ruhe.»
«Maria war sein Ein und Alles.» Asim steckte sich eine Zigarette in den Mund. «Er ist unter Abacha aus Nigeria geflohen, zusammen mit seiner Frau, die damals schwanger war.» Nigerianer. Das hatte ich bereits vermutet. Henrys Aussehen, sein Akzent, sein Name. Das alles kam mir bekannt vor. «Kurz darauf ist seine Frau gestorben», fuhr Asim fort. «Seither hat er Maria alleine grossgezogen.» Er stiess Rauch aus und hustete gleichzeitig. «Er war Journalist, weisst du. Deswegen musste er gehen. Flucht oder Folter. Das war die Wahl, wenn du eine andere Meinung vertreten hast als die Regierung. Jetzt arbeitet er als Arbeiter in einer Firma für Medizinaltechnik. Künstliche Gelenke herstellen und so. Er hat zig Weiterbildungen besucht.»
«Schön und gut, dass du mir seine Lebensgeschichte erzählst», sagte ich. «Aber was hat es mit Marias Tod auf sich? Und weshalb bin ich hier? Bei Selbstmord gibt es für einen Anwalt in der Regel nichts mehr abzukassieren.»
«Du bist grässlich, weisst du das? Manchmal bist du einfach nur grässlich.» Asim starrte mich an. Ich weiss es. Ich bin grässlich. Ich kultiviere das Grässlichsein, so oft es geht.
Asim zündete sich an der Kippe gleich eine neue Zigarette an, und ich tat es ihm gleich. Ich schaute einen Moment in den Himmel. Sterne funkelten, es war kalt und klar, eine Seltenheit im April.
«Maria ist eines Tages verschwunden», nahm Asim den Faden wieder auf.
«Wie alt ist Maria? War Maria?» unterbrach ich ihn.
«Achtzehn, neunzehn. Maria war verschwunden. Henry meldete sie vermisst. Eine junge Frau wurde auf der Autobahn überfahren, nachdem sie sich von einer Brücke gestürzt hatte. Sie war zwar bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, aber schwarz, also zählten die Bullen eins und eins zusammen und tauchten bei Henry auf. Um sicher zu gehen, wurde ein Gentest gemacht. Die tote Frau ist Maria.» Asim drückte seine Zigarette an der Hauswand aus und steckte den Stummel in die Hosentasche. Ich nahm einen letzten Zug von meiner Zigarette und schnippte sie auf den Boden vor der Eingangstür. Asims missbilligenden Blick ignorierte ich.
«Heute hat Henry ein Schreiben der Staatsanwaltschaft erhalten», nahm Asim den Faden wieder auf. «Die Einstellung des Verfahrens wird angekündigt, da es sich eindeutig um Suizid handle.»
«Das ist Standard, dass ein solches Schreiben kurz vor der Einstellung verschickt wird.» Ich zuckte die Achseln. «Aber wo komme ich nun ins Spiel? Will Henry Ansprüche geltend machen gegen die Autofahrer? Das dürfte bei Suizid schwierig werden.»
«Nein.» Asim schüttelte den Kopf. «Henry glaubt nicht an einen Selbstmord. Er glaubt nicht, dass Maria von der Brücke gesprungen ist. Er glaubt, sie wurde gestossen.»
Das musste ich zuerst verdauen.
«Ich weiss, was du denkst», sagte Asim. «Aber hör dir wenigstens an, was Henry zu sagen hat. Hör es dir an.» Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. Und deswegen war ich um Mitternacht durch die halbe Stadt gerast? Wegen des Hirngespinsts eines trauernden Vaters. Wohlweislich sprach ich das nicht laut aus.
«Selbst wenn ich Henry Glauben schenke», sagte ich stattdessen, «und dann? Was stellst du dir dann vor? Was soll ich machen? Nachforschungen anstellen? Das ist nichts für mich. Ich bin keine Privatdetektivin, keine Miss Marple. Ich bin Anwältin.»
«Und? Stellen Anwälte etwa keine Nachforschungen an? Du kannst mit dem Staatsanwalt reden. Dir die Akten ansehen. Solche Sachen.» Asim machte eine Pause. «Bitte.»
«Ich werde nichts finden.» Mein Widerstand bröckelte bereits.
«Egal. Mach es trotzdem. Mach es für mich.» Er sah mir in die Augen. Asim war schlau wie ein Fuchs. Und hinterhältig. Und berechnend. Er war mein Freund. Ich schwieg eine Weile.
«Das wird dich etwas kosten», sagte ich schliesslich.
«Ich weiss.»
Ich seufzte müde. «Lass uns reingehen. Es ist spät und irgendwann möchte ich heute Nacht noch in mein Bett. Und», fügte ich an, «ich möchte alleine mit Henry sprechen. Dich will ich nicht dabei haben.» Asim nickte. Er hatte mich da, wo er mich haben wollte.
«Woher kennt ihr euch eigentlich?», fragte ich Asim, der mir die Tür zum «Alibaba» aufhielt. Ich hatte schon viele Freunde von Asim kennengelernt. Henry aber hatte ich weder jemals zuvor gesehen, noch Asim von ihm sprechen hören. Aber dass Asim und Henry sich gut kannten, war offensichtlich. «Und weshalb hast du mir noch nie etwas von Henry erzählt?»
«Antwort auf die erste Frage: Von früher, viel früher. Antwort auf die zweite Frage: Weshalb sollte ich? Kenne ich alle deine Freunde?»
Ich war genauso schlau wie zuvor.
3
Ich setzte mich Henry gegenüber. Asim verschwand in der Küche. Einer Frau alleine erzählt mancher Mann mehr und Intimeres als in Gegenwart seinesgleichen. Weshalb das so ist, weiss ich nicht. Ich mag Frauen nicht. Ich mag auch keine Männer. Ich mag niemanden, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen.
«Erzähl mir von deiner Tochter», sagte ich zu Henry. «Erzähl mir von Maria.»
«Was soll ich dir erzählen?», fragte er einigermassen hilflos.
«Was dir durch den Kopf geht. Wie sie war, wie sie aussah, was sie so gemacht hat, ihre Hobbies, wer ihre Freunde waren. Du weisst schon. Erzähl mir von ihrem Leben.»
Henry sass eine Weile in sich versunken da. «Maria», begann er, «Maria war etwas ganz Besonderes.»
Auf diesen Satz hatte ich gewartet. Ich wusste, er würde kommen. Das glauben nämlich alle Mütter und Väter. Ihre Kinder sind immer etwas Besonderes. Dabei gibt es bei den meisten keine grossen Abweichungen vom Durchschnitt. Und wenn, dann höchstens zum Schlechteren. Diese Gedanken behielt ich für mich. Sollte Henry seinen Glauben bewahren. Er tat mir leid.
«Sie sah aus wie ihre Mutter», fuhr Henry fort. «Schön. Sie war schön. Gross und schlank und elegant. Und klug war sie, oh ja, sehr klug. Sie war gerade mitten in den Vorbereitungen zur Matura.» Er zog seine Brieftasche hervor und kramte darin herum. Dann reichte er mir ein Foto. «Das ist Maria.»
Ich betrachtete das Foto. Maria posierte vor einer Hauswand, leicht angelehnt, den Kopf kokett zur Seite geneigt mit einem geheimnisvollen Lächeln auf dem Gesicht. Maria war tatsächlich sehr schön. Sie sah aus wie Sade, die Soulsängerin. Nur schwärzer.
«Sie ist wunderschön», sagte ich zu Henry. «Und sie hat das Gymnasium besucht? Welches? Hatte sie Freunde dort?»
«Rychenberg, da geht …», er unterbrach sich. «Da ging sie zur Schule. Sie hatte sich für Sprachen entschieden. Englisch. Spanisch. Sie war gut in der Schule. Maria wollte Journalistin werden.» Er lachte bitter. «Journalistin. Ich habe ihr immer gesagt, Kleine, mach es nicht wie dein alter Vater. Du musst keine Journalistin werden. Deinem Vater hat es kein Glück gebracht. Werde Ärztin. Da verdienst du mehr. Oder Anwältin.» Er machte eine Handbewegung zu mir. «Wie du. Aber Maria wollte nicht. Sie wollte partout Journalistin werden. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt.» Er seufzte. «Sie wollte die Welt bereisen und darüber schreiben. Und über starke Frauen wollte sie schreiben, das war ihr Thema. Wo sie doch selbst so stark war.» Henry biss sich auf die Lippen. «Aber Maria war auch ein Mädchen», fuhr er fort. «Sie liebte schöne Dinge. Glitzerkram. Hübschen Schmuck, Kleider. Ein richtiges Mädchen eben. Sport, Natur und so interessierten sie nicht.»
«Freunde? Bekannte?», hakte ich nach.
«Ja, natürlich hatte sie Freunde. Viele Freunde. Sie war sehr beliebt, weisst du.»
«Engere Freunde? Eine beste Freundin?»
«Ja, ja, die hatte sie auch. Sie waren oft zu viert unterwegs, Jungen und Mädchen bunt gemischt.» Er schüttelte belustigt den Kopf. «Nur Freunde. Wir sind nur Freunde, sagte Maria immer.»
«Hatte sie auch einen festen Freund?»
«Nein. Keinen festen Freund. Früher, da gab es einen. Sie haben sich vor über einem Jahr getrennt. Ein netter Junge war das. Und seither …» Henry schüttelte den Kopf. Ein wunderschönes Mädchen und kein Freund weit und breit. Das war eigenartig. Ich machte mir im Kopf eine Notiz.
«Und weshalb glaubst du nicht, dass Maria sich umgebracht hat?» Ich war müde und wollte endlich zum Kern der Sache kommen. Die weiteren Details über Maria konnte Henry mir, sollte es notwendig werden, auch später erzählen.
«Weshalb sollte sie?» Henry setzte sich gerade hin. «Weshalb sollte Maria sich umbringen? Sie war glücklich. Ich habe es dir ja gerade gesagt, sie hatte ein Ziel, Pläne, sie hatte Freunde. Sie war nicht unglücklich, nicht traurig, nicht deprimiert, nichts.»
«Vielleicht hat sie es dir nur nicht erzählt? Vielleicht wollte sie dir keinen Kummer machen?»
«Quatsch.» Henry fuhr wütend auf. «So war Maria nicht. Sie hat mir alles erzählt. Wir waren so.» Er presste zwei Finger zusammen. «Maria hatte keine Geheimnisse vor mir.»
Tja, das ist auch so etwas, was Eltern für gewöhnlich glauben. Sie vertrauen ihren Kindern blindlings. Aber alle Kinder haben Geheimnisse. Besonders die Achtzehnjährigen.
«Und weshalb sagt der Staatsanwalt, Maria habe sich prostituiert?»
Henry sprang auf und tigerte wütend auf und ab. «Das stimmt nicht! Maria hätte nie und nimmer als Prostituierte gearbeitet. Nie! Sie war nicht so. Ausserdem – wann hätte sie das machen sollen? Und weshalb? Wir haben Geld. Genug Geld. Und sie war immer den ganzen Tag in der Schule, und danach hat sie gelernt oder Freunde getroffen. Sie hatte keine Zeit und auch keinen Grund, so etwas zu machen.» Er schüttelte heftig den Kopf. «Das ist vollkommen am Haar herbeigerissen.»
«An den Haaren herbeigezogen. Tja, du magst ja Recht haben. Aber wie kommt der Staatsanwalt zu dieser Schlussfolgerung? Welcher Staatsanwalt ist überhaupt zuständig für den Fall?»
Henry zuckte mit den Achseln. «Eckert heisst er.» Eckert. Eckert Ulrich. Mit dem hatte ich mich auch schon herumgeschlagen, der war gar nicht mein Typ. Eckert liebte es, in Einvernahmen die Einschüchterungstaktik anzuwenden, er haute auf den Tisch und brüllte herum. Und bei den Anträgen zum Strafmass schöpfte er immer aus den Vollen.
«Wegen ihrer Kleidung hat der Staatsanwalt gesagt», fuhr Henry fort. »Sie hatte wohl nicht viel an. Ich weiss es nicht genau. Und da war irgendein Zettel, den sie gefunden hatten. Ich habe das nicht richtig verstanden. Ich war zu aufgewühlt, weisst du!» Er sah mich an.
Ich nickte beschwichtigend. «Ist nicht so wichtig. Das kann ich beim Staatsanwalt in Erfahrung bringen. Aber setz dich wieder, bitte. Ich kann mich besser mit dir unterhalten, wenn du sitzt.»
«Entschuldige. Das ist alles sehr schwer.»
Ich schwieg einen Moment. «Du glaubst also nicht, dass Maria sich umgebracht hat. Unfall?», schlug ich vor.
«Was für ein Unfall?», Er sah mich ungläubig an. «Wie kann man zu Fuss auf einer Brücke verunfallen und über das Geländer stürzen?»
«Vielleicht war Alkohol im Spiel? Eine Mutprobe?»
«Maria trinkt nicht», antwortete Henry im Brustton der Überzeugung. «Und Mutproben – für so etwas ist sie zu intelligent.»
Natürlich. Wie hatte ich nur auf den Gedanken kommen können. Trinken, Rauchen, Drogen, waghalsige dummgefährliche Mutproben, das machen immer nur die Kinder der anderen Eltern. Wobei mir die Unfalltheorie doch auch ziemlich abwegig schien. Vor allem angesichts der Tatsache, dass der Staatsanwalt diese Möglichkeit in keinster Weise in Betracht gezogen hatte.
«Also kein Selbstmord und kein Unfall. Und deswegen nimmst du an, es war Mord.»
«Was soll es denn sonst gewesen sein?»
Was sollte es sonst gewesen sein? Ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass die Welt nach dem Tod eines geliebten Menschen immer düster aussieht. Ich sagte nicht, dass man sich Erklärungen zurechtlegt, die sich aber fast immer als irrig erweisen. Maria hatte sich von der Brücke gestürzt. Dagegen gab es bislang keine stichhaltigen Einwände. Dafür, dass sie das getan hatte, sprach jedoch sehr viel. Die Sachlage schien eindeutig. Und wer wusste, was für dunkle Seiten hinter Marias hübscher Fassade verborgen waren?
«Nur noch eine letzte Frage, Henry», sagte ich stattdessen. «Was passierte von dem Moment an, als du Maria das letzte Mal gesehen hast, bis zur Nachricht ihres Suizids? Angeblichen Suizids», ergänzte ich schnell.
Henry erzählte mir, er habe Maria den ganzen Tag nicht gesehen. Nur morgens, beim Frühstück. Dann ging Maria zur Schule, und Henry legte sich schlafen. Am Nachmittag kam eine SMS von Maria, in der sie ihm mitteilte, sie komme erst spät nach Hause. Sie wolle mit einer Freundin lernen und bleibe da auch zum Essen. «Sie hat sich immer abgemeldet, weisst du», sagte Henry mit einem traurigen Lächeln. «Sie war sehr pflichtbewusst, auch wenn sie eigentlich erwachsen war. Aber nie hat sie mich im Ungewissen gelassen, wo sie ist oder wann sie nach Hause kommt.» Henry ging zur Arbeit. Als er frühmorgens zurück in die Wohnung kam, war Maria nicht da. Das Bett unberührt. «Ich habe mir Sorgen gemacht. Grosse Sorgen. Ich habe die Freundin angerufen, Helene. Die hat mir gesagt, Maria sei um 22 Uhr nach Hause gegangen. Ich hatte Panik. Ich hatte solche Angst um Maria. Meine Frau habe ich bereits verloren. Ich betete, lieber Gott, lass bitte nicht zu, dass Maria etwas zustösst. Lieber Gott, bring Maria heil zurück zu mir. Aber Gott hat mich nicht erhört.» Henry schwieg einen Moment. «Ich ging zur Polizei. Man belächelte mich. ‹Eine Neunzehnjährige ist seit zehn Stunden verschwunden, was Sie nicht sagen.› Als sie dann mit der Nachricht zu mir kamen, eine dunkelhäutige junge Frau sei tot aufgefunden worden, da lächelten sie nicht mehr.» Henry lachte grimmig. «Ich identifizierte ihre Tasche. Und ihre Halskette, eine kleine goldene Sonne. Trotzdem haben sie noch diesen Gentest durchgeführt, um ganz sicherzugehen. Aber ich wusste es. Ich wusste, dass es Maria war, die überfahren worden war. Trotzdem habe ich gehofft und gehofft, bis ich dann das Testergebnis erhielt.» Er schlug die Hände vor das Gesicht. Ich fragte noch nach ein, zwei Details, dann hatte ich das Gefühl, es reiche für heute. Henry war sehr aufgewühlt.
«Übernimmst du den Fall, ja?» Er sah mich flehend an.
Ich zögerte. «Ich werde sehen, was ich tun kann. Auf jeden Fall nehme ich Kontakt mit Eckert auf und sehe mir alle Unterlagen an. Die ganzen Untersuchungsberichte und so. In Ordnung? Aber versprechen kann ich nichts.» Ich wollte nichts versprechen. Ich hatte den Fall für mich bereits abgeschlossen.
«Wer füllt die Lücke aus, die eine verstorbene Person hinterlässt? Wer wird ihre Luft atmen? Essen, was sie gegessen hätte, heiraten, wen sie geheiratet hätte? Wer wird den Beruf ausüben, der dieser Person vorbestimmt war?» Henry sprach die Worte vor sich hin. Dann sah er mir direkt in die Augen. «Du verstehst mich», sagte er leise in Pidgin English. «Du bist eine von uns.» Ich wich seinem Blick aus.
Kurze darauf verabschiedete ich mich. Mein Taxi wartete bereits vor der Tür des «Alibaba». Ein teurer Spass, der heutige Abend. In mehr als einer Hinsicht.
«Ich melde mich. Und übrigens: Mach dir keine Sorgen wegen meines Honorars.» Ich warf einen giftigen Blick in Asims Richtung. «Das übernimmt Asim.»