Kostenlos

Das Eulenhaus

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ich danke Ihnen, ich möchte allein sein!«

»Ich bedaure, daß Sie meine Gegenwart noch eine Viertelstunde ertragen müssen, aber ich lasse Sie nicht allein fahren.«

Sie faßte Beate um den Hals und küßte sie.

»Was hast du?« fragte diese. »Du zitterst ja?«

»Oh nichts, Beate.«

»Also laß es mich wissen, Klaudine, wenn du nicht daheim bist, ich hole mir dann die Kleine.«

Wieder fuhr sie in den schweigenden Wald hinein. Sie lehnte in der Ecke des Wagens, ihr Kleid hatte sie dicht an sich gezogen und mit ihrer Hand fest in die Falten gegriffen, als wollte sie irgend etwas zerdrücken, um ihre innere Empörung zu beschwichtigen. Neben ihr saß Lothar. Der Schein der Wagenlaterne streifte seine Rechte, an welcher der breite goldene Ehering blitzte. Kein Wort ward geredet in diesem lauschigen, seidengepolsterten kleinen Raum, der zwei Menschen abschloß von dem Unwetter und den Schrecken der Nacht. In dem Herzen des Mädchens wogte ein Sturm von Zorn und Schmerz. Was glaubte dieser Mann von ihr, was war sie in seinen Augen?

Sie vermochte es nicht auszudenken, denn schreckhaft klangen ihr die eigenen Worte in die Ohren: »Und morgen werde ich wieder hingehen, und übermorgen und alle Tage!«

Nun war der Würfel gefallen, was sie gesagt hatte, das tat sie, und sie tat das Rechte.

Sie beugte sich vor. Gottlob, dort schimmerte das Licht aus Joachims Fenster. Nun hielt der Wagen und der Schlag wurde aufgemacht. Baron Gerold sprang hinaus und bot ihr die Hand zum Aussteigen. Sie übersah es und ging der Pforte zu. Mit einer stolzen Wendung des Kopfes streifte sie ihn noch einmal, und da glaubte sie beim Scheine der Laterne, die der alte Heinemann mit hocherhobener Hand hielt, zu sehen, daß er ihr mit einem bekümmerten Ausdruck nachschaute. Aber das war wohl nur Einbildung gewesen.

Sie kam fast atemlos in das Haus, und hinter sich hörte sie das Rollen des Wagens, mit dem er nach Neuhaus zurückkehrte.

»Sie schlafen schon alle«, wisperte der alte Mann, indem er seiner Herrin die Treppe hinaufleuchtete, »nur der gnädige Herr arbeiten noch. Die Kleine hat bei Fräulein Lindenmeyer gespielt, und dann haben wir Erdbeeren mit Milch gegessen, es ging alles wunderschön. Das gnädige Fräulein brauchen gar nichts mehr zu tun, von Rechts wegen.«

Sie nickte ihm zu mit ihrem ernsten, blassen Gesicht und schloß die Tür ihres Stübchens hinter sich. Dort sank sie auf den ersten besten Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht. So saß sie lange, lange.

»Er ist nicht besser als die anderen«, sagte sie endlich und schickte sich an zu Bette zu gehen, »auch er glaubt nicht mehr an Frauenehre, an Frauenreinheit!«

Was hatte sie ihr genutzt, ihre Flucht? Glaubte nicht gerade er das schlimmste von ihr? Sein Lächeln, die Reden heute abend hätten es ihr gezeigt, auch, wenn sie es nicht schon längst gewußt hätte. Oh, die ganze Welt mochte denken von ihr, was sie wollte, wenn nur ihr Herz, ihr Gewissen rein blieb! Sie allein würde dafür sorgen, daß sie den Blick nicht niederzuschlagen brauchte.

Sie preßte die Lippen aufeinander. Wohl, sie würde ihm zeigen, daß eine Gerold selbst den trübsten, schlammigsten Weg zu gehen vermag, ohne sich auch nur die Schuhsohlen zu beschmutzen!

Sie erhob sich, zündete Licht an und blickte sich in ihrem Stübchen um; wie sah es hier aus! Die Spuren ihrer in Unordnung geratenen Gedanken zeigten sich erschreckend deutlich in dem sonst so zierlichen Raum, dort die Schranktür weit geöffnet, auf der Kommode Schleifen, Nadeln, Kämme in wirrem Durcheinander, verschiedene Kleider auf Betten und Stühlen, alles spiegelte so klar die Stunde der Unentschlossenheit wieder, die sie durchlebt hatte, ehe sie nach Altenstein fuhr. Sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht gehen und fand doch nicht den Mut, sich mit einer Lüge entschuldigen zu lassen. Draußen hatten die Pferde ungeduldig gescharrt vor dem fürstlichen Wagen und eine Viertelstunde nach der anderen war verstrichen, bis Joachim zuletzt kam: »Aber, Schwester, bist du noch nicht fertig?«

Da war sie gegangen.

Sie begann aufzuräumen. Wie erleichtert atmete sie auf, als wieder Ordnung um sie herrschte. Ja, es war nun überhaupt alles geordnet, sie selbst hatte die Entscheidung getroffen in einem Augenblick des Zornes, des bittersten Wehes. Aber war es wirklich das Rechte?

10

Frau von Berg saß in ihrem Zimmer im Neuhäuser Schlosse am Schreibtisch. Die Tür zum Nebenraum stand offen, dort wohnte das Kind mit einer Wärterin. Vor den Fenstern rauschte der Regen hernieder und winkten die nassen Zweige der Linden. Die Dame hatte sich in ein dickes wollenes Tuch gehüllt und schrieb. Die Erregung mochte wohl ihre Feder führen, denn diese jagte förmlich über das starke cremefarbige Papier und die Buchstaben waren so merkwürdig klein und flüchtig.

Sie war außerordentlich schlechter Laune, und als eben Beates laute Stimme vom unteren Hausflur bis hier herauf scholl, machte sie eine Faust und sah zornfunkelnd zur Tür hinüber. Wer stand ihr denn dafür, daß dieser Hausdrache nicht, kraft seines Amtes, wieder einmal bei ihr eindrang, um sich zu überzeugen, ob alles in Ordnung sei hier oben? Und das schlimmste blieb, daß man hier so machtlos war. Der Baron hatte ja kaum noch Augen für sein Töchterlein, und wo diese Augen waren, das wußte sie nur zu genau. Gestern abend hatte er sie ja noch bei Nacht und Nebel nach dem Eulenhause begleitet!

Sie blickte durchs Fenster, dann nickte sie, als ob ihr etwas besonderes einfiele, und schrieb weiter:

»Ich habe bereits gestern Prinzeß Thekla in meinem wöchentlichen Bericht über das Befinden ihres Enkelkindes verschiedene Andeutungen gemacht, die Prinzeß Helene in einen ihrer bekannten Wutanfälle versetzt haben werden. Es ist kaum glaublich, wie sehr diese junge Dame zur Eifersucht neigt. Nun, ich erzählte Ihnen ja öfter davon.

Übrigens, mein bester Palmer, hörte ich gestern abend im Vorübergehen an dem Wohnzimmer – ich kam aus der Plättstube, wo ich einen Wortwechsel mit dem Hausmädchen hatte – Sie glauben nicht, wie man sich ärgern muß in diesem gottbegnadeten Musterhaushalt, wenn man einmal etwas außergewöhnliches verlangt – ich hörte also im Vorübergehen, wie das Gänschen, genannt Schwan, ihrem allergetreuesten Verehrer mit erhobener Stimme erklärte, daß sie die Absicht habe, jeden Tag nach Altenstein zu pilgern! Somit hätte sich ja Ihre Prophezeiung als wahr erwiesen. Wie sagten Sie doch noch? ›Es gibt kein besseres Mittel, einen schüchternen Liebhaber um den letzten Rest gesunder Vernunft zu bringen, als ein wenig Versteck mit ihm zu spielen.‹ Sie sagen freilich, der Herzog ist abgekühlt, um so besser! Erlauben Sie mir aber, vorläufig noch einige geringe Zweifel an dieser Abkühlung zu hegen, ich glaube den Allergnädigsten besser zu kennen.

Morgen hoffe ich Sie zu sehen. Fräulein Beate hat nämlich großes Reinmachen angesagt. Sie pflegt sich dabei ein weißes Kopftuch umzubinden und mit einem langen Besen die Ahnenbilder abzustäuben. Es ist ein Festtag dann, zu Mittag gibt es Kartoffelklöße mit Backobst, ah, es ist ein idyllisches Leben hier! Lange halte ich es nicht mehr aus, mein Bester, die Versicherung gebe ich Ihnen. Sorgen Sie, daß man nicht ewig hier bleibt, dann hört auch meine Gefangenschaft auf. Lassen Sie Cholerabazillen im Brunnenwasser sein auf Altenstein, oder setzen Sie einige Dutzend Ratten und Mäuse in die Allerhöchsten Zimmer, lassen Sie den seligen Oberst oder die schöne Spanierin spucken gehen oder den Blitz einschlagen, mir ist einerlei was, wenn es nur die Einwohner hinaustreibt und ich die Dächer der Residenz wiedersehe. Ich kann in dieser Kuhstalluft nicht atmen.«

Sie brach hier wieder ab und wandte den Kopf nach dem Nebenzimmer, wo ein erbärmliches Kinderweinen erklang. Ein bitterböser Ausdruck flog über das volle weiße Gesicht der Lauschenden. »O Gott, ich wollte, daß —« murmelte sie und erhob sich.

»Frau von Berg, die Kleine ist sehr unruhig«, berichtete die Kinderfrau.

»So geben Sie ihr doch Milch, mein Gott, sie wird Hunger haben. Was ist’s denn weiter!«

»Sie nimmt nichts, gnädige Frau.«

»So tragen Sie das Kind umher, es muß sich beruhigen.«

»Ich darf das Kindchen nicht herausnehmen, solange es in dem nassen Umschlag liegt, der Arzt hat’s ausdrücklich – «

Frau von Berg schleuderte die Feder auf den Tisch und rauschte in das Kinderzimmer.

»Ruhig! Ruhig!« rief sie mit ihrer gellenden Stimme und klatschte, an das Bett tretend, in die Hände. Ihre Augen sahen so drohend aus, so geradezu wütend, daß das Kind verstummte, um nach ein paar Sekunden desto lauter zu schreien. Es klang so ängstlich, so hilfesuchend, dieses Weinen, dass die Kinderfrau von der Spiritusmaschine, wo sie das verordnete Süppchen kochte, herzustürzte, und dass draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte erklangen und der Baron Gerold im nächsten Augenblick auf der Schwelle stand.

»Ist Leonie krank?«, war die erste Frage und seine verdüsterten Augen suchten das Kind im Bettchen, das jetzt seine Ärmchen verlangend nach ihm ausstreckte, aber auch ruhig ward.

Frau von Berg war verlegen, aber sie blieb standhaft am Fuße des Bettchens. »Nein«, erwiderte sie, »nur hungrig oder eigensinnig.«

»Aber es war nicht das Schreien eines eigensinnigen Kindes«, sagte er kurz und bestimmt.

»Nun, es ist auch möglich, dass sie sich nicht wohl fühlt«, erklärte die schöne Frau. »Es ist mir schon längere Zeit vorgekommen, als vertrage die Kleine die Luft hier nicht, man denke auch, von dem weichen, lauen Klima der Riviera nach dem deutschen Waldklima, in diese kühle, scharfe Bergluft.«

Er sah sie ernsthaft an.

»Meinen Sie?«, fragte er und dieser Tonfall trieb ihr das Blut in die Wangen. »Ich bedaure nur«, fuhr er gelassen fort, »dass das arme Kindchen da von dem ersten Arzte Nizzas direkt an diese scharfe, kühle Luft verwiesen wurde. Es muss sich nun leider schon daran gewöhnen, denn vorderhand liegt Nizza sowieso außer Frage, da sein Vater gegenwärtig gezwungen ist hierzubleiben. Im übrigen, meine liebe Frau von Berg, scheint ihm die ›kühle, scharfe‹ Luft dennoch recht gut bekommen zu sein. Gestern sah ich, wie das Kind lebhaft durch das Zimmer rutschte und sich an jenem Stuhl dort völlig allein aufrichtete.«

 

Frau von Berg zuckte unmerklich die Schultern.

»Was will das heißen bei einem zweijährigen Kind?« sagte sie.

»Bleiben Sie logisch, gnädige Frau. Es ist hier davon die Rede, ob das Kind Fortschritte im Befinden gemacht hat oder nicht. Ich möchte Ihnen jetzt noch eine Mitteilung machen, die Sie vermutlich interessieren dürfte. Ihre Durchlauchten, Prinzeß Thekla und Helene, werden in allernächster Zeit auf einige Wochen nach Neuhaus kommen, um sich persönlich von dem Befinden ihrer Enkelin zu überzeugen. Woher mag doch Ihre Durchlaucht wissen, daß der Reitenbacher Arzt mein Kind jetzt behandelt? Haben Sie keine Ahnung?«

Frau von Berg wechselte die Farbe. Sie blieb jedoch ruhig und zuckte die Achseln.

»In meinen verschiedenen Schreiben an Ihre Durchlaucht habe ich nichts davon verlauten lassen«, fuhr er fort und trat von dem Bette an das Fenster, »ich liebe nicht das Hineinreden in die Anordnungen, die ich treffe. Außerdem – Prinzeß Thekla ist Homöopathin und hat alle Taschen voll Kügelchen und Tropfen. Haben Sie wirklich keine Ahnung, Frau von Berg?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine!« antwortete sie.

Er achtete auch nicht mehr darauf, sondern preßte plötzlich die Stirn an das Fensterkreuz und starrte auf die Straße, die sich wie ein weißer leuchtender Streifen am Walde dort drüben hinzog. Da kam ein herzoglicher Wagen im schnellsten Trab gefahren, ein Frauenantlitz ward einen Augenblick hinter der Spiegelscheibe des Fensters sichtbar, dann war die Kutsche verschwunden. Klaudine fuhr nach Altenstein!

Als er sich umwandte, sah er seltsam bleich aus. Frau von Berg musterte ihn mit einem bösen Lächeln um den Mundwinkel. Auch sie hatte den Wagen gesehen. Er bemerkte es nicht, er trat zu dem Bettchen des Kindes, das jetzt schlief, und betrachtete das kleine kränkliche Geschöpf lange Zeit.

Frau von Berg ging mit leisem Schritt in das Nebenzimmer. Er blieb stehen, und allmählich legte sich ein harter, bitterer Zug um seinen Mund. Die alte Kinderfrau hinter dem blauverhangenen Bettchen sah ihn starr an – der Herr mochte wohl das arme Kindchen gar nicht leiden, weil es seiner vergötterten Frau das Leben gekostet hatte? Ja, ja, es kam das öfter vor, daß so ein Würmchen es entgelten mußte! Armes Ding, ein so unschuldiges Geschöpfchen, dem es bestimmt ist, stets mit vorwurfsvollen Augen angesehen zu werden. Armes Ding!

Plötzlich wandte sich der Mann dort am Bettchen und ging mit schnellen Schritten hinaus.

11

Ja, Klaudine fuhr zu Hofe. Sie saß da in dem Wagen mit dem stillen, stolzen Ausdruck, den ihre Züge gewöhnlich zeigten. Sie hatte heute früh ihren Haushalt besorgt und war dann nach Tisch aus ihrem Aschenbrödelgewand geschlüpft, um das ebenso einfache wie elegante Kleid aus dunkelblauer weicher Seide anzulegen, das sie noch einige Tage, bevor sie um ihre Entlassung gebeten, von dem Schneider zugeschickt bekommen hatte. Es war keine Eitelkeit von ihr, sie war gezwungen, dieses Kleid zu wählen; denn Ihre Hoheit hatte gestern gesprächsweise erwähnt, daß sie schwarze Kleider nicht liebe.

Als Klaudine, um Abschied zu nehmen, zu ihrem Bruder in das Turmzimmer trat, betrachtete er sie verwundert.

»Wie schön du aussiehst!« sagte er stolz und küßte sie auf die Stirn.

Und sie blickte ihn ängstlich und verwirrt an; »ich habe kein anderes Kleid, Joachim.«

»Ich mache dir doch keinen Vorwurf«, erwiderte er freundlich, »ich freue mich nur über die harmonische Wirkung deiner blonden Haare mit dem tiefen Blau. Leb wohl, Schwesterchen, geh ohne Sorgen, Elisabeth ist gut aufgehoben bei Fräulein Lindenmeyer, und ich schreibe. Was zögerst du denn noch, Liebling? Hast du Kummer?«

Sie war wie schwankend ein paar Schritte zu ihm hinübergetreten, und ihre Lippen bewegten sich leise, als wollte sie sprechen. Dann wandte sie sich rasch, murmelte ein »Leb wohl!« und ging. Ihm, dem Träumer mit dem wedchen Gemüt, durfte sie ihre Sache nicht zur Entscheidung vorlegen. Selbst handeln, das ist der einzig richtige Weg.

Aber was in aller Welt sollte sie zunächst tun? Die Herzogin rief, und sie mußte kommen. Wenn sie nicht krank lag, hatte sie keinen einzigen Grund abzulehnen, eine Lüge wollte sie nicht sagen, und die Wahrheit durfte sie ihr gegenüber nicht aussprechen. Und war sie denn nicht am sichersten neben der fürstlichen Gemahlin? In dem Gemache der Gattin durfte keiner der heißen flehenden Blicke sie streifen. Sie drückte das Batisttuch an die pochende Schläfe, als könne sie den Schmerz dämpfen, der dort schon den ganzen Tag wühlte.

Dort unten tauchten jetzt die hochgiebligen Dächer des Altensteiner Schlosses aus den Gipfeln der Bäume, und gerade in diesem Augenblick brach nach langen düsteren Regentagen der erste Goldblitz der Sonne aus den lichter gewordenen Wolken und ließ den vergoldeten Knauf des Turmes aufleuchten.

»Ihre Hoheit haben schon mit Ungeduld gewartet«, berichtete flüsternd die alte Frau von Katzenstein in dem Vorzimmer, »Hoheit wollen von Ihnen ein neues Lied von Brahms hören und haben diesen Morgen zwei Stunden an der Klavierbegleitung geübt. Sie sind schrecklich nervös und aufgeregt, liebste Gerold, es hat einen kleinen Wortwechsel mit Seiner Hoheit gegeben.«

Das junge Mädchen sah fragend in das Gesicht der Hofdame.

»Unter uns, liebste Gerold«, flüsterte diese, »Hoheit wünschten, daß der Herzog heute nachmittag den Tee bei ihr nehme, und er lehnte es rundweg und mit einer Kürze ab, die fast unfreundlich genannt werden kann. ›Wir wollen musizieren‹, sagte Ihre Hoheit schüchtern, ›und ich glaubte, mein Freund, du habest dich gerade im letzten Winter sehr für Gesang interessiert? Ich meine, du hast die kleinen musikalischen Abende bei Mama niemals versäumt?‹ Seine Hoheit antwortete darauf: ›Ja, ja, gewiß, meine Teure, aber augenblicklich – ich habe Palmer zu einem Vortrag befohlen, und da das Wetter besser geworden ist, so will ich mit Meerfeld auf den Anstand heute abend.‹«

Klaudine drehte ihr Notenheft in den Händen; sie war rot geworden und unendlich peinlich berührt durch diesen Bericht. »Wollen Sie mich Ihrer Hoheit melden?« fragte sie.

»Sogleich, liebstes Geroldchen, lassen Sie mich Ihnen nur noch erzählen. Die Herzogin wandte ihm den Rücken und sagte ganz leise: ›Du willst nicht, Adalbert!‹ Und dann ist er ohne Antwort fortgegangen, und sie ist zu tausend Tränen aufgelegt.«

Die fürstliche Frau saß an ihrem Schreibtisch, als Klaudine eintrat, und streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist, als ob der Sonnenstrahl, der eben da draußen aufleuchtet, mit Ihnen in mein Zimmer geflogen käme, beste Klaudine«, sprach sie liebenswürdig mit ihrer matten klanglosen Stimme. »Sie glauben nicht, wie einsam man sich bisweilen fühlen kann unter Menschen, selbst unter denjenigen, die uns alles sein sollen. Ich habe vorhin in beängstigender Unruhe mein Tagebuch geholt und darin geblättert, da ist mir leichter geworden. Ich habe doch schon viel, sehr viel Glück erlebt, das tröstet mich und macht mich dankbar. Nehmen Sie Platz. Sind das die Lieder, von denen ich sprach?« Sie ergriff die Noten und blätterte darin. »Ah, richtig – Liebestreue! Sie sollen es mir nachher singen, liebstes Fräulein von Gerold, jetzt möchte ich bitten, eine kurze Spazierfahrt mit mir zu machen, ich sehne mich unaussprechlich nach frischer Luft.«

Als die Damen nach einer Stunde zurückkehrten, nahmen sie den Tee, und dann trat Klaudine an den Flügel.

Ihre schöne weiche Altstimme schwebte durch den leicht dämmerigen Raum. Sie sang mit einer traurigen Lust. Der kostbare Flügel stand merkwürdigerweise in dem nämlichen Zimmer, an der nämlichen Stelle, wo einst ihr Instrument gestanden hatte. Das volle süße Glück ihrer Jugend ward lebendig in dieser Umgehung, sie wußte nicht, wie es kam, daß Joachims Lieblingslied von ihren Lippen floß:

 
»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar —
O wie liegt so weit, so weit,
Was mein, was mein einst war —«
 

Sie sang die traurige einfache Weise mit innigem Gefühl, und dann brach sie inmitten der letzten Strophe mit einem Tone ab, der wie gebrochen klang, und nach ein paar falschen Akkorden, welche die begleitende Hand noch mechanisch griff, ward es still.

Dann scholl es aber weich und leise durch das Gemach: »Adalbert, ich wußte ja, du würdest kommen!«

Klaudine hatte sich erhoben und starrte zu der hohen Gestalt hinüber, die sich eben zu einem Kuß auf die Hand der Gattin herabneigte. Nun verbeugte sie sich und faßte nach der Lehne ihres Sessels, als müßte sie sich stützen.

»Singen Sie weiter, Fräulein von Gerald«, bat der Herzog, »es ist lange her, seit ich die Freude hatte, Sie zu hören.«

Er saß im tiefen Schatten neben dem Lager seiner Gemahlin, den Rücken dem Fenster zugewandt. Klaudine sah sein Gesicht nicht, sie wußte aber, daß der letzte rosige Schein der Abendsonne sie streifte. Das machte sie noch verwirrter. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen, aber als sie einsetzte, klang die Stimme verschleiert und kraftlos, es war, als schnüre ein Krampf ihr die Kehle zu. Sie stammelte eine Entschuldigung und erhob sich.

»Wie eigentümlich!« sagte die Herzogin. »Haben Sie schon früher daran gelitten, liebste Klaudine?«

»Niemals, Hoheit!« stotterte sie der Wahrheit gemäß.

»Es gibt derartige nervöse Erscheinungen«, bemerkte der Herzog ruhig, »vielleicht hast du Fräulein von Gerold bereits zu sehr angestrengt?«

»Oh, das wäre möglich. Verzeihen Sie, meine liebe Klaudine, und ruhen Sie sich aus«, rief sichtlich erschreckt die Herzogin. Sie winkte das junge Mädchen zu sich auf das kleine Sesselchen, von dem soeben der Herzog aufgestanden war, um fast unhörbaren Schrittes im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Setzen Sie sich so, daß ich Ihr Gesicht erblicken kann«, bat sie. »Wirklich, Sie sehen angegriffen aus, aber jetzt kommt Ihre Farbe wieder. Mein Gott, ich glaube fast, Sie haben sich vor dem plötzlichen Eintritt des Herzogs erschreckt! Adalbert!« lachte sie und bemühte sich, ihren Kopf zu wenden – er stand in diesem Augenblick hinter ihrem Sofa. »Du wirst schuld an diesem Verstummen sein. Oh du böser Mann, was richtest du für Sachen an!« Unwillkürlich hatte Klaudine die Augen zu dem Angeredeten erhoben, um sie im nächsten Augenblick tödlich erschreckt zu senken – da war er ja wieder, dieser heiße, flehende Blick! Über das Haupt der Gattin hinweg war er zu ihr geflogen, indes seine Stimme so ruhig erklang: »Es sollte mir leid tun, gnädiges Fräulein, ich kann mir aber nicht denken, daß mein Erscheinen hier etwas schreckendes, ungewöhnliches haben soll. Ich —«

»O gewiß nicht, Hoheit«, erwiderte Klaudine laut und richtete sich empor, »ich war in dem Augenblick ermüdet, ich hatte ein wenig Kopfschmerz. Es ist mir jetzt viel besser.«

»Um so besser!« lächelte die Herzogin, »und nun wollen wir plaudern. Du bist so stumm, Adalbert. Wie kam es, daß du dein Jagdvergnügen aufgabst? Erzähle! War es wirklich nur, weil du diesen Abend bei mir sein wolltest?« Sie folgte ihm, wenn er wieder an ihr vorüberschritt, mit glückseligen Augen, und ohne eine Antwort abzuwarten, plauderte sie weiter: »Denke dir, Adalbert, der Erbprinz hat ein Gedicht gemacht, seine ersten Verse, der Doktor ließ es mir heute zugehen, er hat es in seinem Lateinheft gefunden. Willst du es lesen? Liebste Klaudine, dort, auf meinem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer – nein, dort unter dem mit der Statuette des Herzogs. Danke sehr. Würden Sie es uns vorlesen? Es ist so kindlich geschrieben und so ernst empfunden.«

Klaudine nahm das Blatt, trat zum Fenster und las beim sinkenden Tageslicht die großen kindhaften Schriftzüge:

 
»Wenn ich ein Mann erst werde sein,
Hab’ ich ein Wörtlein mir erkoren —
Das schreibe ich ins Herz mir ein,
Daß niemals werde es verloren:
Treu will ich sein, das ist mein Wort,
Treu meinem Volk, treu meinem Gott,
Treu meinen Freunden immerfort,
Treu meiner Pflicht, mir selber treu,
Daß treu stets meine Treue sei!«
 

Klaudine konnte das Gesicht der Herzogin nicht erblicken, aber sie sah, wie sie die Hand nach dem Gatten ausstreckte, und hörte, wie eine leisbebende Stimme flüsterte: »Dein Sohn, Adalbert!« Und laut fragte sie: »Ist es nicht köstlich?«

Er hatte sein Umherwandern eingestellt. »Ja, es ist köstlich, Elise. Möge der liebe Gott ihn so führen, daß es ihm niemals schwer falle, die Treue zu halten.«

 

»Das kann nicht schwer fallen, Adalbert, niemals!«

»Niemals?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Niemals! Was sagen Sie, Klaudine?«

»Hoheit, es kann Fälle geben«, begann das schöne Mädchen, »wo es einen schweren Kampf kostet, die Treue zu halten.« —

»Aber dann ist’s keine Treue, die durch Liebe bedingt wurde«, unterbrach die fürstliche Frau und ihre Wangen wurden heiß, »dann ist es eine künstliche Treue.«

»Ja«, sagte der Herzog halblaut. Sie klang eigentümlich, diese einfache Bestätigung.

»Dann ist es eben keine Treue, dann ist es Pflichtgefühl«, erklärte die Herzogin eifriger.

»Treue in der Pflicht ist vielleicht der höchste Grad der Treue, Hoheit«, sprach Klaudine sanft.

»Ach, das ist ja ein Streiten um des Kaisers Bart, bestes Kind«, unterbrach abermals die Herzogin. »Eine Treue, die erst mit sich kämpfen muß, hat überhaupt ihre Bedeutung verloren. Wenn zum Beispiel – wenn der Herzog«, sie stockte einen Augenblick und ein schalkhaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, »wenn – nun, wenn er mit seinen Gedanken zuweilen – sagen wir einmal – bei Ihnen, Klaudine, wäre, dann würde doch seine Gattentreue keinen Wert mehr haben, und wäre er tatsächlich der tadelloseste Ehemann. Hörst du, Adalbert? – Dann hättest du, nach meiner Ansicht, überhaupt schon die Treue gebrochen.«

Der Herzog hatte sich umgewendet und schaute zum Fenster hinaus, Klaudine saß mit fast entstellten Zügen da. Die Herzogin bemerkte es nicht, sie lachte jetzt, es war ein so drolliger Gedanke, den sie eben ausgesprochen hatte. Und sie lachte weiter, so kindlich glücklich, wie nur der zu lachen versteht, der ein großes Glück sein eigen nennt und spielend von einem möglichen Verlust spricht, weil er sicher weiß, daß dies niemals sein kann.

»Klaudine!« rief sie dazwischen, »wie sehen Sie aus! Ängstigen Sie sich nicht, es ist kein Hochverrat. Nicht wahr, Adalbert, du weißt, wie ich oft necke? Mein Gott und nun tut mir die Brust weh – o das Lachen. – Klaudine! Klaudine!« Das Wort erstarb in einem heftigen Hustenanfall. »Wasser! Wasser!« stieß sie hervor.

Das erschreckte Mädchen war aufgesprungen und zu dem Tischchen geeilt, das stets eine Wasserflasche trug. Frau von Katzenstein, die in das Zimmer gestürzt war, hielt die nach Atem Ringende in den Armen. Der Herzog stand mit finsterer Miene neben dem Ruhebett, die Leidende hatte seine Hand wie im Krampf erfaßt.

Sie war wie geschüttelt von dem Husten und vermochte nicht zu trinken. Mit leisem Schritte kam der herbeigerufene Arzt durch das Zimmer. Klaudine trat zur Seite und gab dem alten liebenswürdigen Herrn Raum.

»Lieber Doktor Westermann!« stieß die Kranke hervor, »es wird schon besser, es geht vorüber. Oh mein Gott, ich atme wieder!«

Die allerletzte graue Dämmerung füllte das Zimmer. Klaudine hatte sich in die Fensternische zurückgezogen, sie stand wie auf glühenden Kohlen und sah, fast abwesend, auf die Gruppe inmitten des Gemaches.

Jetzt trat der Herzog zurück, und die Leidende fragte mit matter Stimme: »Habe ich dich sehr erschreckt, Adalbert? Vergib mir!«

»Hoheit müssen sich sogleich niederlegen«, erklärte der Arzt.

Der Herzog, der sich bereits der Tür genähert hatte, kam plötzlich zurück. Frau von Katzenstein stützte die Kranke, die sich gehorsam erheben wollte. Sie winkte freundlich zu Klaudine hinüber: »Auf Wiedersehen! Ich werde Sie bald rufen lassen, Liebste! Gute Nacht, mein Freund«, wendete sie sich dann zum Herzog, »morgen bin ich wieder ganz wohl.«

Der Arzt trat, nachdem die Kranke hinter dem Vorhang verschwunden war, zum Herzog.

»Hoheit, es ist nichts ängstliches, nur muß die hohe Kranke sehr geschont werden – keine aufregenden Gespräche, keine geistlichen Debatten, wie Ihre Hoheit es lieben. Das Temperament Ihrer Hoheit spielt mir ohnehin schon böse Streiche, ebenmäßig langweilig soll die Kranke leben.«

»Bester Herr Medizinalrat, Sie kennen ja die Herzogin. Eben hat sie übrigens bloß ein wenig gelacht.«

»Ich erlaube mir nur, Eure Hoheit nochmals darauf aufmerksam zu machen«, erwiderte der alte Mann sich verbeugend.

Der Herzog winkte sichtlich zerstreut und ungeduldig mit der Hand. »Guten Abend, lieber Westermann.«

Klaudine erschrak. Sie preßte sich tiefer hinein in die Dämmerung der Fensternische und blickte dem sich entfernenden Arzte mit seltsam bangen Augen nach. Sie war allein, allein mit dem Herzog. Das, was sie stets klug zu vermeiden gewußt, was er unverkennbar gesucht, heiß gesucht hatte, war geschehen. Aber vielleicht hatte er ihre Gegenwart vergessen, denn er schritt so erregt auf und ab im Zimmer. O, er würde sie nicht bemerken, das einzige Licht des Armleuchters genügte kaum, den nächsten Umkreis des Kamins zu erhellen, und sie stand geborgen hinter dem seidenen Vorhang der Fensternische.

In atemloser Angst verharrte sie, wie ein verfolgtes Reh, das dem Jäger nicht mehr zu entrinnen weiß. Sie hörte das Klopfen ihres Herzens so deutlich, wie seine gedämpften Schritte dort auf dem weichen Teppich. Dann zuckte sie empor, die Schritte näherten sich. Eine hohe Gestalt war unter den Vorhang getreten und eine Stimme, welche von einer leidenschaftlichen Aufregung seltsam klanglos gemacht wurde, nannte ihren Namen: »Klaudine«.

Sie trat furchtsam einen Schritt seitwärts, als wollte sie eine Gelegenheit erspähen, um zu fliehen.

»Klaudine«, wiederholte er und bog sich herab zu ihr, so daß sie trotz der tiefen Dämmerung den flehenden Ausdruck seiner Augen sehen mußte. »Die Szene tat Ihnen weh? Sie war nicht meine Schuld, ich möchte Sie um Verzeihung bitten.«

Er wollte nach ihrer Hand fassen, sie barg sie in den Falten ihres Kleides. Kein Wort kam aus ihrem fest geschlossenen Munde. So stand sie in stummer Abwehr, mit den schönen zornigen Augen ihn anblickend.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte er.

»Hoheit, ich habe den Vorzug, die Freundin der Herzogin zu sein!« sagte sie dann voll Verzweiflung.

Ein trauriges Lächeln flog einen Augenblick über sein Gesicht. »Ich weiß es! Sie sind im allgemeinen nicht dafür, von heute auf morgen Freundschaft zu schließen. Indessen – Sie meinen, man müsse alles benutzen?« »So scheinen Eure Hoheit zu denken!«

»Ich? Auf Ehre nicht, Klaudine! Aber Sie, Sie haben sich mit wahrer Sturmeseile hinter die Schranke geflüchtet, die diese Freundschaft zwischen Ihnen und mir errichtet.«

»Ja!« sagte sie ehrlich, »und ich hoffe, daß Hoheit diese Schranke achten, oder —«

»Oder? Ich ehre und anerkenne Ihre Zurückhaltung, Klaudine«, unterbrach er sie. »Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen wie ein verliebter Page nachschleichen werde. Nichts soll Sie daran erinnern, daß ich Sie liebe, so leidenschaftlich, wie je ein Mann ein Mädchen geliebt hat. Aber erlauben Sie mir, daß ich in Ihrer Nähe sein darf, ohne dieser eisigen Kälte begegnen zu müssen, die Sie mir gegenüber zur Schau tragen, lassen Sie mir die – Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Sonne auch für mich scheinen wird, nur diese Hoffnung, Klaudine.«

»Ich liebe Sie nicht, Hoheit!« sagte sie stolz und kurz und richtete sich auf, »gestatten Sie, daß ich mich zurückziehe.«

»Nein! Noch ein Wort, Klaudine! Ich verlange kein Zugeständnis Ihrer Neigung, es ist weder die Zeit dafür noch der Ort. Sie haben recht, mich daran zu erinnern! Daß ich die Herzogin nicht aus Liebe gewählt habe, daß meine erste innige Liebesleidenschaft Ihnen gehört, kann ich dafür? Ich meine, das geschieht Besseren als mir! Es kommt ohne unser Zutun, ist da und wächst mit jeder Stunde, je mehr wir dagegen ankämpfen. Ich weiß nicht, ob Sie so fühlen wie ich? Ich hoffe es nur und will ohne diese Hoffnung nicht leben.« Er trat näher und bog sich zu ihr nieder. »Nur ein Wort, Klaudine«, bat er leise und demütig, »darf ich hoffen? Ja, Klaudine? Sagen Sie ja! und kein Blick soll verraten, wie es um Sie und mich steht.«