Skyle

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Esther Karline Bertram

Skyle

Band I: Himmelsbeben

Das Buch

Skyle – Himmelsbeben

Die Wolkenwelt von Skyle, durchwirkt von uralter Magie und mächtigen Zaubern, verspricht Freiheit von Horizont zu Horizont. In der schwebenden Inselwelt herrschte lange ein Nebeneinander der Völker und Kulturen. Doch unter den Strahlen der Zwillingssonnen wüten erbitterte Kämpfe um die Vorherrschaft.

Die alte Ordnung bröckelt unter dem Ansturm der Frühlingskönigin und ihrer Marine, Dürre und Hungersnot haben ganze Regionen im Würgegriff und mehr als eines der alten Völker steht kurz vor der Auslöschung.

Drohender Krieg und offene Unruhen lassen niemanden in den Wolkenreichen unberührt. Als sich die Situation zuspitzt, werden schließlich auch jene zum Handeln gezwungen, die lange ihr Bestes getan haben, sich herauszuhalten. Inmitten eines Netzes aus alten Bündnissen, Feindschaften und Intrigen finden sich fünf ungleiche Charaktere, mehr widerwillig als aus freien Stücken, auf einer Reise wieder, die eine große Hoffnung birgt: die Hoffnung auf einen Ort jenseits der Wolken, an dem die Letzten ihrer Art in Frieden leben können.

Die Autorin

Esther Karline Bertram

studiert Literatur und arbeitet nebenher als Norwegischlehrerin und Stimmcoach. Wenn sie nicht neue Welten auf Papier bannt, trinkt sie Kaffee mit Freunden oder steht singend oder sprechend auf der Bühne. Ihre Leidenschaft gilt neben der Phantastik dem Reisen, wobei sie immer wieder die verrücktesten Menschen trifft. Da Hausdrachen auf dem freien Markt so schwer zu bekommen sind, hofft sie darauf, einmal Katzen zu besitzen. Außerdem hat sie immer mindestens sechs Sorten schwarzen Tee im Haus und führt eine stetig wachsende internationale Liste mit Lieblingscafés. Skyle ist ihr Romandebüt.

Impressum

Dieses Buch enthält Triggerwarnungen auf der letzten Seite der eBook-Datei.

Siehe auch: https://skyle.kladdebuchverlag.de/trigger

Eine Karte von Skyle und eine Liste der Figuren gibt es online unter https://skyle.kladdebuchverlag.de

Erste Auflage 2019

Lektorat: Michaela Stadelmann

Korrektorat: Lisa Helmus

Covergestaltung: Jaqueline Kropmanns

Designarrangement: Géraldine Al-Nemri

Buchsatz: Karl-Heinz Zimmer

gesetzt aus der EB Garamond

erstellt mit SPBuchsatz

ISBN: 978-3-945431-38-2

eISBN: 978-3-945431-39-9

aISBN: 978-3-945431-40-5

© Copyright kladdebuchverlag – Freiburg

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www.kladdebuchverlag.de

Inhalt

1  Das Buch

2  Die Autorin

3  Impressum

4  Für Agnes, die wahre Hüterin von Skyle.

5  Herbst 1044

6  • 1 •

7  • 2 •

8  • 3 •

9  • 4 •

10  • 5 •

11  • 6 •

12  • 7 •

13  • 8 •

14  • 9 •

15  Winter 1044

16  • 10 •

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59  Frühling 1045

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103  • 96 •

104  Danksagung

105  Unterstützer_innen

106  Triggerwarnung

107  Mehr über die Personen, Hintergründe und die Welt von Skyle

Für Agnes, die wahre Hüterin von Skyle.


Herbst 1044

Zweites Jahrtausend der Neuen Zeit von Skyle

52. Jahr der Regentschaft der Frühlingskönigin

• 1 •

Kanonenschüsse hallten von den zerklüfteten Steilwänden der Himmelsinsel wider. Schwarze Rauchschwaden fingen sich in den halb entlaubten Ästen der Bäume, die sich unterhalb des Klippenrands an den schroffen Fels klammerten. Kurz vor der Küste schossen zwanzig oder dreißig wendige Gleiter zwischen den zwei gewaltigen Linienschiffen mit den hellgrünen Segeln hindurch.

Astral saß mit überkreuzten Beinen auf einem Felsen in sicherem Abstand zu den Klippen und beobachtete das Geschehen auf dem Wolkenmeer. Die Piloten der Möwen waren geschickte Flieger. Sie mussten es sein, weil ihre Gegner die Kanonen der Königlichen Marine waren und ihr Leben von ihrer Reaktionsgeschwindigkeit abhing. Jede der Möwen war mit einem Piloten und einem Schützen besetzt, ausgestattet mit Gewehr und Enterhaken.

Astrals Hand ruhte zwischen den Geweihgabeln seines Lunars Yami, der den Kopf auf die gewaltigen mitternachtsblauen Pfoten gelegt hatte. Er hatte seine Augen auf die Möwengleiter gerichtet, seine runden Ohren zuckten aufmerksam und Astral sah seine Anspannung in den halb gefalteten ledernen Schwingen. Er summte leise, um ihn zu beruhigen, und fischte in der Tasche seiner Uniformjacke nach seinem kleinen Skizzenblock, ohne das Gefecht aus den Augen zu lassen. Die Zeichnungen würden ihm später helfen, sich an Details zu erinnern und seine Berichte zu strukturieren.

Was auf den ersten Blick wie ein ungleicher Kampf zugunsten der Kriegsschiffe aussah, war in Wahrheit gut kalkuliert. Denn so mächtig die neuen Linienschiffe der Marine sein mochten, sie waren nicht für die Eiswinde im Norden ausgelegt. Ihre Takelage war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die Ruderblätter durch die Feuchtigkeit festgefroren. So waren sie nichts als steuerlose Giganten, der Macht der Elemente hilflos ausgeliefert. Es kostete die Mannschaften alle Kraft, ihre Schiffe von den vereisten Ausläufern der Klippen fernzuhalten. Die Rebellen machten sich dies zunutze, indem sie systematisch die Deckmannschaft ins Visier nahmen. Sollten sie es schaffen, die Marineschiffe manövrierunfähig, wäre dieser Kampf gewonnen.

Astral war es egal, wer diese Schlacht gewann. Er mochte zwar vom Beraterstab der Frühlingskönigin als Berichterstatter hergeschickt worden sein, aber er war eine Blauschwalbe und als solche immer neutral. Er würde den geforderten Bericht abliefern und dann zusehen, dass er aus Jazli wegkam. Wenn er etwas in seiner bisherigen Laufbahn als Blauschwalbe gelernt hatte, dann dass man niemals zu lange an einem Ort ausharren sollte. Davon abgesehen konnte selbst er nur eine gewisse Anzahl an Aufträgen vom Frühlingshof ertragen.

Eine eisige Böe fuhr über ihn hinweg. Astral zog zitternd seinen Schal fester um sich und suchte mit klammen Fingern nach seinem Stift, um einige Skizzen vom Kampfgeschehen anzufertigen. Yami spürte sein Unbehagen und knurrte leise, ehe er sich enger an Astral presste. Er rieb ihm dankbar über die hellgrau gemusterte Schnauze, bevor er seine Aufmerksamkeit zurück auf die Marineschiffe und die Winterrebellen lenkte.

Ein Gleiter löste sich aus der Formation und tauchte unter dem Bug der Schiffe hinweg, ehe er auf der anderen Seite wieder hervorschoss und steil nach oben zog. Astral wusste aus eigener Erfahrung, dass die Fallwinde so kurz vor der Küste unberechenbar waren, doch die Möwenteams kannten das Terrain. Als eine Böe den Gleiter erfasste, reagierte der Pilot so schnell, dass er kaum von seinem Kurs abwich, doch der Wind riss ihm seine pelzbesetzte Kapuze vom Kopf. Ein schlohweißer Schopf kam zum Vorschein.

Astral kniff die Augen zusammen und hob sein Fernglas. War das … konnte es sein, dass …?

Ein Marinesoldat wies mit ausgestrecktem Arm auf die weißhaarige Gestalt. Einige seiner Kameraden ließen von ihren Positionen ab und richteten ihre Gewehrläufe auf die Möwe, fest entschlossen, sie vom Himmel zu holen.

Der Wind trug einen Ruf zu ihm herüber: »Schützt den Prinzen!« Sofort reagierte ein halbes Dutzend Möwen und positionierte sich zwischen dem Prinzen und den Marineschiffen. Zwei von ihnen wurden abgeschossen und stürzten in die weißen Tiefen des Wolkenmeeres, ehe eine andere Gruppe ihnen zu Hilfe kam. Doch das Feuer konzentrierte sich nun auf die Möwe des Prinzen.

Astral kaute auf dem Ende seines Stiftes herum. Er war es also wirklich, der Winterprinz. Was tat er hier? Eines war offensichtlich: Die Winterrebellen waren zu risikofreudig geworden. Nun zahlten sie den Preis für ihren Leichtmut.

Yamis Schnurrhaare zuckten nervös, als das Gewehrfeuer sich verstärkte. Der Lunar bleckte die langen Säbelzähne. Mit gerunzelter Stirn sah Astral dabei zu, wie eines der Marineschiffe langsam abdriftete. Seine Besatzung war so sehr auf die Rebellen fokussiert, dass sie es zu spät bemerkten. Vielleicht konnten sie auch nichts tun, ihr Ruder schien unverändert nutzlos. Von einer tückischen Strömung erfasst, stellte das Schiff sich vor dem Bug seines Schwesternschiffs beinahe quer. Grimmiger Jubel ertönte aus den Reihen der Rebellen, die ihre Möwengleiter zu immer riskanteren Manövern zwangen. Gewehrschüsse pfiffen als Antwort auf die donnernden Kanonen. Sie konnten einen kleinen Etappensieg erringen, ehe die Hauptflotte sie erreichte.

Astral schüttelte den Kopf und steckte den Stift unverrichteter Dinge wieder ein. Seine Finger waren einfach zu klamm. Er pustete in die behandschuhten Hände, um sie zu wärmen. Wieder einmal war er froh, nicht Partei ergreifen zu müssen. Er wusste, dass beide Seiten unbedingt gewinnen wollten. Wenn die Rebellen es schafften, diese beiden Kriegsschiffe hinab ins Wolkenmeer zu schicken, hätten sie die Atempause erkämpft, die sie so dringend benötigten. Doch auch die Marinesoldaten taten ihr Möglichstes, um ihre Schiffe wieder flottzumachen, während sie die Reihen der Rebellen stetig ausdünnten.

Erneut hob der Blauschwalbenflieger das Fernglas an die Augen. Wieder trudelte eine Möwe abwärts, diesmal von einer Kanonenkugel getroffen. Auf einem Schiffsdeck explodierte eine Handgranate, von einem Rebellen geworfen. Beide, Winterrebellen und Marine, waren fest entschlossen, dem Gegner keine Fingerbreite mehr Raum zu geben. Dieser Kampf würde von nun an noch härter werden.

Astrals Mundwinkel wanderten nach unten. So viele verlorene Leben.

• 2 •

Raven öffnete die Eingangstür der Spelunke und trat in einem Schwall aus stickiger Luft, Grölen und Gelächter auf die Gasse hinaus. Er mochte Orte wie diesen. Sie waren jederzeit laut und voll, und mit der richtigen Anzahl Münzen bekam man nicht nur ein Glas Hochprozentigen, sondern auch Informationen. Er wusste jetzt sicher, dass sich seine Beute in der Stadt aufhielt und heute Abend eine Verabredung in genau dieser Kneipe hatte. Nun musste er nur noch warten.

An der nächsten Hausecke blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Von hier aus hatte er die Tür und die Einmündung zur Gasse gut im Blick. Das Gebäude besaß keinen Hinterausgang, wie er zu seiner Zufriedenheit festgestellt hatte. Der Wirt hatte in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Zechprellern gemacht und deswegen die Tür zum Innenhof fest verrammelt.

Raven rauchte fertig und schnippte den glimmenden Stummel seiner Zigarette in die stinkende Brühe, die in Pfützen auf der Gasse stand. Beim Gähnen entblößte er sein mächtiges Raubtiergebiss. Sein Blick glitt an den Häuserwänden nach oben. Wolkenfetzen jagten über den Himmel und verdeckten den Mond. Die aufziehende Nacht vertrieb die letzten Reste der spätsommerlichen Wärme aus den Straßen von Song Thrush.

Genervt schaute Raven sich um. Er hasste es, zu warten. Er hatte ein Black Board aufgesucht, bevor er hierhergekommen war. Seit dem Morgen hingen die neuen Steckbriefe aus, aber im Grunde war sein Besuch vergeudete Zeit gewesen. Die aktuellen Kopfgeldprämien waren so niedrig, dass sich nur bei zweien oder dreien das Jagen lohnte. Er hatte die Steckbriefe mit seinem Siegel versehen und damit Anspruch auf sie erhoben, weil er wusste, wo sich die Gesuchten befanden. Morgen würde er ihnen einen Besuch abstatten.

Eine Gruppe dunkel gewandeter Gestalten erschien an der Einmündung der Gasse. Sie bewegten sich vorsichtig auf den Kneipeneingang zu und sprachen mit gedämpften Stimmen. Auffällig, viel zu auffällig. Selbst ihre Waffen hielten sie versteckt, was sie viel verdächtiger erschienen ließ, als wenn sie sie offen getragen hätten.

Ravens Hände wanderten zu den Griffen der Loumepistolen an seinem Gürtel. Verdammte Amateure. Er trat zwei Schritte vor und bleckte seine Reißzähne.

Zwei der Gestalten erstarrten bei seinem Anblick. Die anderen drei blieben irritiert stehen, bis sie ihn ebenfalls entdeckt hatten.

Raven schlenderte auf die Gruppe zu. Die Headhunter wichen einige Schritte zurück.

»Ihr jagt in meinem Revier«, stellte er fest und wog die Loumepistolen in seinen Händen.

Der Mann, der ihm am nächsten war, schluckte hörbar. Sein Blick wanderte von den Pistolen über Ravens eisblaues Haar zu seinen blutroten Augen.

»Du … du bist Raven, nicht wahr?«

»Richtig.«

Wieder schluckte der Mann. Der stechende Geruch seiner Angst schlug Raven selbst über den Gestank der Gosse hinweg entgegen.

»Wir wussten nicht, dass du hier jagst. Wir … Song Thrush gehört zu unserem Gebiet, deshalb …« Der Mann brach ab.

 

»Heute Nacht gehört Song Thrush mir«, entgegnete Raven kalt.

Der Mann nickte heftig. »Natürlich! Wir werden dir nicht in die Quere kommen«, beteuerte er.

Raven hob demonstrativ eine seiner geliebten Loumepistolen hoch. »Das ist eine weise Entscheidung.«

Aus der Querstraße erklang ein gedämpfter Fluch, gleich darauf die Geräusche von Stiefeln, die auf die Pflastersteine hämmerten. Das Warten hatte ein Ende. Raven schritt an den fünf Männern vorbei, die weiter vor ihm zurückwichen. Der Mond schien für einen Moment zwischen den Wolken hervor. Sein Licht glänzte auf Ravens Haar, verfing sich in seinen klimpernden Ohrringen und verwandelte sein Gesicht in eine reißzahnbewehrte Fratze. Die Jagd hatte begonnen.

• 3 •

Das Klirren der Fensterscheiben ließ ihn hochschrecken. Unten auf der Straße rumpelte eine Panzerkolonne vorbei, ihre eisernen Gleisketten knirschten gefährlich auf den Pflastersteinen. Verwirrt blickte Wolf sich um. Die Öllampe neben ihm war verloschen. Das Zwielicht des frühen Morgens erfüllte sein Zimmer, wo er die ganze Nacht über den Berechnungen für den Rumpf des neuen Schiffes gebrütet hatte. Er sah sich seine vollgekritzelten, mit Tinte verschmierten Notizen an. Wie immer würde er der Einzige sein, der sie entziffern konnte. Ihm war es egal, solange die Zeichnungen und Zahlen stimmten.

Gähnend streckte Wolf sich auf dem harten Holzstuhl und rieb sich müde die Augen. Es war zu spät, um noch etwas Neues anzufangen. Am besten, er machte sich auf den Weg zur Werft. So hätte er genug Zeit, um bei den Werkstätten im Tiegel vorbeizuschauen.

Die Aussicht darauf, das Schiff bald fertiggebaut zu haben, entlockte Wolf ein fröhliches Lächeln. Gut gelaunt sammelte er aus der verstreuten Kleidung in seinem Zimmer halbwegs frische zusammen und zog sich um. Er warf einen prüfenden Blick auf eine Strähne seines langen Haares, ehe er es im Nacken zu einem losen Zopf zusammenfasste. Das Braungrau würde nicht mehr lange so dunkel bleiben, an einigen Stellen sah man bereits das natürliche Sonnengelb durchscheinen. Er würde es bald nachfärben müssen.

Gedankenverloren ging er in die Küche und suchte nach der Kaffeedose. Sie war leer. Nach einem Frühstück brauchte er gar nicht erst zu schauen, er war seit Tagen nicht mehr einkaufen gewesen. Zurück in seinem Arbeitszimmer sammelte er seine Papiere und sein Werkzeug zusammen. Wenige Minuten später verließ er die Wohnung.

Die schmale Stiege, die zum Hof hinunterführte, knarzte vertraut. Wolf durchquerte den kleinen Innenhof und trat durch die Durchfahrt auf die Straße. Die Straßenlaterne davor flackerte und verlosch mit einem leisen Zischen, als er sich auf den Weg durch die noch schlafende Stadt machte. Gerade verfärbte sich der Himmel über den schieferblauen Dächern rosa und gelb, doch hier unten war es noch dunkel und still. Die Dämmerung hielt sich lange zwischen den Häusern.

Während er durch die Straßen lief, erwachte die Stadt allmählich zum Leben.

»Guten Morgen«, begrüßte ihn die Bäckerin fröhlich, als er ihren Laden betrat.

»Guten Morgen«, erwiderte Wolf lächelnd.

»Was darf es sein?«

»Drei Madeleines.« Der Kaffee würde warten müssen. Er zahlte für sein Frühstück und hielt einem älteren Herrn die Tür auf, dann schlenderte er Richtung Tiegel. Er dachte über ihr aktuelles Bauprojekt nach. Wenn die bestellten Ösen heute ankämen, könnten sie das Schiff endlich fertigstellen und mit den Reparaturen am nächsten beginnen. Das Gewitterkupfer musste ausgetauscht werden. Es war bereits am Vortag aus den Werkstätten der Alchemisten geliefert worden. So würden sie den Auftrag schnell erledigen können.

Wolf stopfte sich das letzte Stück Madeleine in den Mund und hob die Nase in den Wind.

Dort, wo er jetzt hinwollte, konnte ihn sein Geruchssinn ebenso gut führen wie sein Gehör. Der Tiegel war eine laute, stinkende Ansammlung aus Läden, Werkstätten und Laboren. Die ätzenden Beizen, Farben und die merkwürdigen Gebräue konnte man, wenn der Wind ungünstig stand, in der ganzen Stadt riechen. Die Hammerschläge, das Zischen der Maschinen und das Rauschen der Blasebälge hörte man schon von weitem. Er musste sich also nur auf Nase und Ohren verlassen, um seinen Weg durch Autonne Gale zu finden.

Das Licht der Zwillingssonnen ergoss sich über die Dächer der Stadt, die Straßen füllten sich mit Leben. Die verschiedenen Gerüche, die ihn umgaben, und der steigende Lärmpegel erschwerten es Wolf, sich richtig zu orientieren. Im Tiegel begrüßten ihn die Gerüche von kaltem Metall und heißem Kaffee. Er folgte ihnen und blieb vor einer offenen Schmiede stehen. An der Werkbank war der Schmied gerade damit beschäftigt, filigrane Verzierungen für ein kunstvolles Eisentor zu fertigen. Bestimmt war es für eine der Villen oberhalb der Stadt gedacht. Der Schmied begrüßte ihn mit einem Nicken, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Wolf beobachtete gespannt, wie er Blüten und Blätter aus dem heißen Metall formte.

Die Zwillingssonnen standen bereits hoch am Himmel, als Wolf schließlich seinen Weg fortsetzte. Eigentlich hatte er vorgehabt, vor den anderen Schiffsbauern auf der Werft zu sein. Jetzt würden sie ihn wieder aufziehen. Er lächelte bei dem Gedanken. Merkwürdig, wie gut er sich in den vergangenen acht Jahren hier eingelebt hatte. Das änderte allerdings nichts an dem Umstand, dass er zu spät dran war.

Über ihm glänzten die Dachfirste, noch feucht vom Regen der Nacht. Wolf blinzelte ins Sonnenlicht. Schien so, als würde er mal wieder auf seine Alternativroute ausweichen müssen. Er bog in eine dämmrige Seitengasse ein. Sie schien leer. Links und rechts ragten die Hauswände zwei bis drei Stockwerke in die Höhe.

Die eingeflochtenen Silberperlen in der langen Strähne an seiner rechten Schläfe blitzten auf. Er beugte leicht die Knie, um Schwung zu holen, stieß sich vom Boden ab und landete auf dem Dachfirst. Aus seinem lockeren Zopf lösten sich einige Strähnen und wehten ihm ins Gesicht. Der Wind blies hier oben stärker. Er sah über das schimmernde Meer aus schiefergedeckten Dächern, Türmen und Fabrikhallen, hinab zum Hafen und zur Küste, wo sich die weiße, endlose Masse des Wolkenmeers erstreckte.

Wolf summte zufrieden eine kleine Melodie und genoss für eine Weile Sonnen und Wind auf seinem Gesicht. Dann maß er mit einem Blick die Entfernung zum nächsten Dach, nahm zwei Schritte Anlauf und sprang.