Seemann, deine Heimat ist das Meer - Teil 3 - Reisen auf ILLSTEIN, RIEDERSTEIN, BUCHENSTEIN, SONDERBURG

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Seemann, deine Heimat ist das Meer - Teil 3 - Reisen auf ILLSTEIN, RIEDERSTEIN, BUCHENSTEIN, SONDERBURG
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Vorwort des Herausgebers


Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig bis zu 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.


Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.

Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!

In den Bänden 69, 70 und 71 können Sie wieder den Bericht eines ehemaligen Seemanns lesen. Da das Gesamtvolumen der Texte für ein Buch mit Leimbindung zu umfangreich war, wurde es zu einer Trilogie aufgeteilt. Ernst Steininger, gebürtiger Österreicher, hatte von frühester Jugend an Fernweh zum Wasser und den Wunsch, zur See zu fahren. 1957 begann er in Bremen mit einem Lehrgang auf dem „SCHULSCHIFF DEUTSCHLAND“ seine Seemannslaufbahn und fuhr danach auf verschiedenen Schiffen und Fahrtgebieten an Deck. Auf einem seiner Schiffe, dem MS „VEGESACK“, begegnete er auch dem durch die Veröffentlichung mehrerer Bücher vielen Seeleuten bekannten Maschinisten Hein Bruns, der ihn für seine weiteren Fahrzeiten wesentlich prägte. Ernst Steininger reflektiert in diesen drei Bänden über das erste Jahrzehnt seiner Seefahrtzeit. Diese Berichte erlauben nicht nur einen guten Einblick in das Leben auf See und in fremden Häfen, wie der Autor es erlebte. Ernst Steininger gibt auch recht ausgiebig und detailliert Informationen über die Geschichte der Seefahrt, der angelaufenen Häfen und Fahrtgebiete und die Entdeckungsreisen früherer Seefahrergenerationen.

Ohne bürgerlich-moralische Verklemmungen oder Tabus schildert Ernst Steininger sehr offen auch die Bewältigung der jugendlichen Libido der Seeleute.

In diesem Zusammenhang wurde ich bei der Lektüre des Manuskripts wieder einmal an den bekannten Theologieprofessor und langjährigen Prediger auf der Kanzel des Hamburger Michels, Helmut Thielicke, erinnert, der 1958 eine Seereise nach Japan auf einem Frachtschiff der Hapag unternahm und seine Erlebnisse an Bord in dem Buch „Vom Schiff aus gesehen“ zusammenfasste. Seine hautnahen Begegnungen auf dieser wochenlangen Reise mit Seeleuten brachten ihn zu dem Bekenntnis, dass ihm eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschlossen worden sei und er nun eigentlich sein kurz zuvor veröffentlichtes Ethikwerk umschreiben müsse: „Ich bemühte mich nach Kräften, offen zum Hören zu bleiben und – so schwer es mir fällt – selbst meine stabilsten Meinungen in diesem thematischen Umkreis als mögliche Vorurteile zu unterstellen, die vielleicht einer Korrektur bedürfen. Ich frage mich ernstlich, was an diesen meinen stabilen Meinungen christlich und was bürgerlich ist… Ich merke, wie schwer es ist, sich im Hinblick auf alles Doktrinäre zu entschlacken und einfach hinzuhören – immer nur hören zu können und alles zu einer Anfrage werden zu lassen... Bei meiner Bibellektüre achte ich darauf, wie nachsichtig Jesus Christus mit den Sünden der Sinne ist und wie hart und unerbittlich er den Geiz, den Hochmut und die Lieblosigkeit richtet. Bei seinen Christen ist das meist umgekehrt.“

Hamburg, 2013 /2015 Jürgen Ruszkowski


Da das Gesamtvolumen der Texte des Ernst Steininger für ein Buch mit Leimbindung zu umfangreich war, wurde es zu einer Trilogie aufgeteilt.

Der Band 69 beinhaltet den Bericht über die Kindheit und den Beginn der Seefahrtszeit des Autors auf SCHULSCHIFF DEUTSCHLAND in Bremen, Küstenmotorschiff STADERSAND, Motorschiff LINZERTOR, Motorschiff VEGESACK, Turbinenschiff HUGO STINNES, Motorschiff HORNBALTIC, Motorschiff BREMER BOERSE, Turbinenschiff WERRASTEIN, Turbinenschiff MOSELSTEIN.

Im Band 70 lasen Sie über die Fahrzeiten des Autors auf Motorschiff RAVENSTEIN nach Fernost und US-Westküste und auf MS INNSTEIN zu den Großen Seen.

Hier nun die Fortsetzung.


Widmung – Der Autor

Dieses Buch ist dem Andenken meiner Mutter gewidmet


Der Autor Ernst Steininger heute


Der Autor Ernst Steininger heute


Der Autor Ernst Steininger heute


Motorschiff ILLSTEIN

13. Kapitel

Motorschiff ILLSTEIN


Auszug aus dem Seefahrtbuch Nr. 0266, Seite 34/35

Inhaber ist angemustert als Matrose auf MS „ILLSTEIN“

Reeder: Norddeutscher Lloyd

Unterscheidungssignal: DDSG

Br.- Raumgehalt: cbm 4952

Heimathafen: Bremen

Geführt von Kapitän Dietze

Reise: Große Fahrt

Zeit: unbestimmt

1. Einsatz:

Der Dienstantritt erfolgte 21.10.1965

Das Seemannsamt Bremen, den 05. Nov. 1965

Der Inhaber hat

In der Zeit vom 21.10.1965 bis zum 01.07.1966

8 Monate und 12 Tage als Matrose gedient

2. Einsatz:

Der Dienstantritt erfolgte 29.11.1966

Das Seemannsamt Bremen, den 01. Dez. 1966

Der Inhaber hat in der Zeit vom 29.11.1966 bis zum 27.02.1967

3 Monate und 7 Tage als Matrose gedient

Zusätzliche Daten

Entnommen: Seefahrt – Norddeutscher Lloyd – Naxos

MS ILLSTEIN, Bj. 1959; BRT.: 4952;

Zugehörigkeit: bis 1972; ab 1970 Hapag-Lloyd;

1972 verkauft nach Mogadischu. Neuer Name: „MINSHAN“;

1978 verkauft nach China. Neuer Name: „LONSHAN”;

1992 in Lloyds Register noch so verzeichnet.


MS SIEGSTEIN – Schwesterschiff der ILLSTEIN

Nach dem „Eunuchentrip“ – den INNSTEIN-Reisen zu den Großen Seen – sollte mich mein nächstes Schiff unbedingt wieder einmal an liebesfreundlichere Gestade bringen. Demzufolge absolvierte ich vorerst mehrere vierzehntägige Urlaubsvertretungen auf verschiedenen mir nicht genehmen Lloyd-Schiffen, bis mir endlich die ILLSTEIN fürbass kam. Die ILLSTEIN war einer jener kleineren Neubauten, mit denen der Lloyd die zentralamerikanischen Staaten einschließlich Mexiko und den Nordosten Brasiliens bediente. In der Regel konnte es sich ein einfacher Matrose nicht aussuchen, mit welchem Lloyddampfer er auf die Reise gehen würde, denn das bestimmte Herr Pauli, der norddeutsch kühle, unbestechliche Chef des lloydeigenen Heuerbüros. Dass es mir dennoch gelang, Schiffe mit ungeliebten Reisezielen wie die US-Ostküste, US-Golf, die Westküste-Nord oder gar Australien zu vermeiden – das hatte ganz bestimmt nicht mit dem typisch österreichischen „Schmäh“ zu tun – weil ich nun einmal absolut kein Schmähtandler bin, eher ein gerader „Michel“…

Urlaubsvertretung – das war für die, die zu vertreten waren, natürlich eine gute Sache. Meist waren es Fahrensleute, die es nicht allzu weit nach Hause hatten, also von der „Waterkant“ stammten. Aber auch für mich, der ich doch meist völlig abgebrannt aus meinem „verlängerten“ Urlaub an die Küste zurückkehrte, war es eine gute Einrichtung, denn sie brachte mich stets umgehend in Brot und Lohn. Andererseits war mir das Pendeln zwischen Antwerpen, Rotterdam, Bremen und Hamburg ein Graus. Die Hektik in diesen Häfen, die kurzen Seereisen, die langen Revierfahrten und die Animositäten innerhalb solcher „Fremdbesatzungen“ waren nicht dazu angetan, das Seemannsherz zu erfreuen. Außerdem war der Urlaubsvertreter schließlich nur Gast und hatte sich mit der ihm zugewiesenen Unterkunft einfach abzufinden. Das tat er natürlich auch, schließlich saß er sowieso, bildlich gesprochen, die ganze Vertreterzeit auf seinem Seesack. Das besonders Unangenehme aber war, dass man keinen eigentlichen privaten Rückzugsort zur Verfügung hatte, um seine „Batterie“ wieder aufzufüllen. So ist es halt auch nicht verwunderlich, dass so ein quasi „heimatloser“ Janmaat in den genannten Häfen seine karge Freizeit lieber an Land als an Bord verbrachte.

 

Bei einer solchen Gelegenheit lernte ich auch Hamburg etwas besser kennen. Hamburg!? Na, damit ist natürlich die Gegend um St Pauli gemeint, die „Große Freiheit“ und die sündige Meile der Stadt, die Reeperbahn. Nun ist es aber nicht so, dass diese Ecke Hamburgs für mich gestandenen Seemann Neuland gewesen wäre, nein, ganz bestimmt nicht. War ich doch bereits im Jahre 1956, als eben flügge gewordener Grünschnabel, per Autostopp bis nach Hamburg gelangt. Damals nahm mich ein Polizist, dessen Absichten ich da noch nicht ahnen konnte, unter seine Fittiche. Das kam so: Ich trieb mich in der Speicherstadt herum und beobachtete von einer Brücke aus – offensichtlich sehr interessiert – einen Helmtaucher und seine Gehilfen bei ihrer Arbeit. Der Polizist hingegen, ein Mann um die Vierzig, musste mich anscheinend schon eine Weile im Visier gehabt haben. Jedenfalls war ich nicht wenig überrascht, als ich plötzlich energisch angefasst und vom Geländer der Brücke weg gezerrt wurde. Der gute Mann war der absurden Meinung, dass ich mich in den Kanal stürzen wollte. Sicherlich, ich hatte gerade noch ganze zehn Mark in meiner Hosentasche, und die Jugendherberge, in der ich zu übernachten gedachte, hatte mich kurz vorher wegen Überbelegung abgewiesen. Aber mich deswegen ersäufen? Im Gegenteil: ich war guter Dinge, voller Zuversicht, in Aufbruchstimmung: Was kostet die Welt?!

Der Polizist aber, der mich nötigte, ihm mein Dasein zu erklären, war vorerst misstrauisch und ließ mich nicht einfach laufen, obwohl meine Papiere in Ordnung waren. Doch schleppte er mich auch nicht auf die nächstgelegene Wache, sondern bot mir freundlichst seine Begleitung an. Eigentlich, auch wenn er noch in Uniform sei, habe er bereits dienstfrei, und wenn ich nur möchte, würde er mir ein Stück Hamburg, sein Revier, zeigen. Ich war nicht abgeneigt, zumal er mir versicherte, dass er mir dann auch noch eine Schlafstelle besorgen wolle. Überdies versprach er, mir bei der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit nach Hause behilflich zu sein.

Also überließ ich mich vertrauensselig dem freundlichen Ordnungshüter und hatte es schließlich auch nicht zu bereuen. Der gute Mann lotste mich vorerst am Baumwall entlang, Richtung Landungsbrücken. Er zeigte mir den Einlass zum Elbtunnel, die U-Bahn-Haltestelle, das gewichtige Bismarck-Monument und schließlich und endlich auch noch die Reeperbahn. Er erklärte mir, dass die knapp einen Kilometer lange Straße ihren Namen von den Reepschlägern, den vormaligen Schiffstaudrehern, erhalten hatte. In früheren Tagen, lange bevor aus ihr die „Sündige Meile“ wurde, war die Reeperbahn nichts weiter als ein sich in die Länge ziehender, zugiger Arbeitsplatz. Genau betrachtet ist sie das ja auch noch heutzutage, Schiffstaue aber werden hier nicht mehr produziert. Allerdings – frei von Fallstricken ist die Reeperbahn bis heute nicht. Ich jedoch hatte nichts zu befürchten, darauf achtete schon mein Freund und Helfer, der Polizist. Kraft seiner Begleitung sah ich sogar das eine oder andere Animierlokal kurz von innen. Auch in die wie ein öffentliches Pissoir mit Sichtblenden abgesicherte Herbertstraße ließ er mich hineinlugen. Was ich da so erspähte, die halbnackten Damen, die prallen Schenkel, Pos und Brüste, vorm Anfassen nur geschützt durch eine Schaufensterscheibe, das bewegte meine Fantasie noch lange danach…

Mein Freund bediente nicht nur meine Neugierde. In einer der vielen Eintopf-Buden verpflegte er mich auch noch mit Erbsensuppe und Wiener Würstchen. Die Zeche bezahlte er nicht etwa mit Geld, sondern mit Marken, die er von einem handlichen Papierblock abtrennte. Das fand ich genial. Weniger angetan war ich aber dann von der Art und Weise, wie er mich anschnauzte, weil ich den Senf auf dem Papierteller beim Verzehr der Würstchen etwas unorthodox verteilte. Das gab mir zu denken. Überhaupt irritierte mich sein ganzes Verhalten nicht wenig. Mal gab er sich väterlich jovial, dann wieder herrisch und gereizt. Auch machte es mich stutzig, dass er mir die Davidswache, das wohl bekannteste Polizei-Revier der Welt – und von dem ich annahm, dass es seine Dienststelle sei – mit einer vagen Ausrede vorenthielt. Dennoch ging ich auf seinen Vorschlag ein, ihn nach Hause zu begleiten. Seine Wohnung läge in der Nähe des Bahnhofs Hamburg-Altona, da würde sich auch eine Schlafgelegenheit für mich finden. Allerdings, wie sich dann herausstellte, war die angepeilte Schlafstelle ein Bett in seiner Wohnung. Dies, so erklärte er mir, sei möglich, weil seine Lebensgefährtin gerade verreist sei.

Eigentlich ja ganz plausibel. Der Verdacht, dass mit dem Mann vielleicht doch nicht alles in Ordnung und er eventuell „andersherum“ sein könnte, kam mir erst, als er mich bei Kaffee und Kuchen mit erotischem Gelaber belöffelte. Dieser Versuch aber, mich auf Kommendes vorzubereiten, verpuffte bei mir völlig wirkungslos. Ich brauchte mich gar nicht dumm zu stellen, ich war es einfach. Zwar hatte ich sicher schon von Schwulen und Lesben gehört, aber das war für mich eine Welt, an der ich nicht das geringste Interesse hatte. Kerle wie Hans Albers, in jedem Arm eine „seute Deern“, waren die Vorbilder meiner pubertierenden Seele. Und dann dies: Ich als angehender Seemann, Aspirant eines Berufstandes, der für mich der Inbegriff aufrechten, kernigen Mannsvolks war, sollte mit einem Polizisten ins Bett gehen? Ha, deswegen war ich nicht aus der heimatlichen Enge ausgebrochen, um mich dann in der Fremde so einfach vernaschen zu lassen…

Schließlich wurde die Situation auch meinem Polizisten zu dumm. Jedenfalls begriff er, dass er in mir keinen willigen Lustknaben gefunden hatte. Und er war anständig genug, von mir abzulassen. Zu guter Letzt brachte er mich genau in der Jugendherberge unter, die mich an diesem Tag schon einmal abgewiesen hatte. Vorher noch zeigte er mir innerhalb eines Hafengeländes, in der Nähe des Fischmarktes einen Getreideumschlagplatz, der von Fernlastern aus ganz Deutschland belagert wurde. Ja, zum Abschied beschenkte er mich noch mit ein paar Essenmarken aus seinem praktischen Abreißblock. Es gelang mir am nächsten Tag auch tatsächlich, an dem von ihm bezeichneten Ort einen Fernlaster zu ergattern, der mich bis Passau brachte. Diesen Wohltaten ist es sicher zu verdanken, dass mir der gute Mann bis heute im Gedächtnis geblieben ist.

Soviel zu meinen Hamburg-Erlebnissen aus dem Jahre 1956.


Werftanlage Blom und Voss, Hamburg 1957

Zehn Jahre später hatte sich die Gegend zwischen der Reeperbahn und dem Johannisbollwerk wohl weniger verändert als ich mich selbst. Der Blick des „Eisernen Kanzlers“, der imposanten Bismarckstatue unweit der Landungsbrücken, konnte noch immer ungehindert die andere Seite der Norderelbe kontrollieren. Da mochte sich sein „teutsches“ Gemüt an der beeindruckenden Kabelkrananlage der Stülcken-Werft erfreuen. Da sollten die wie ein deutsches Wahrzeichen in den blauen „Wirtschaftswunderhimmel“ aufragenden Kräne von Blom + Voss, einer der großen Rüstungsschmieden des Reiches, sein „eisernes“ Herz erquicken. Auferstanden aus Ruinen – oder sollte man besser sagen: Auferstanden kraft blutbesudelten Runen-Kapitals...


Hamburg 1960er Jahre

Der Bismarck, St. Michaelis, das „Graue Haus am Meer“ (gemeint ist das für den Seefahrer so unangenehm weithin sichtbare Hafenkrankenhaus), der Kuppelbau über dem Fracht-Lift des Elbtunnels standen also wie eh und je unverändert an ihren angestammten Plätzen.

Ich hingegen hatte mich verändert. Meine Unschuld war perdu! Was nicht heißen soll, dass ich inzwischen schwul geworden wäre, das nicht. Aber ansonsten genoss ich, sofern ich es mir leisten konnte, die sexuelle Freizügigkeit der Hafenstädte schon. Nicht, dass ich für andere Dinge überhaupt kein Interesse mehr gehabt hätte. Aber wie das so ist in einer reinen Männergemeinschaft, der Gruppenzwang und die daraus resultierende Dynamik bestimmten letztlich meistens, wo es lang ging. Oft zog es uns – selbstverständlich nur im „feinen Zwirn“, der damals noch durchaus zur Ausrüstung eines selbstbewussten Matrosen gehörte – ins vornehme Reeperbahn-Tanzlokal „Cafe Keese“. Dieses Etablissement war bekannt für seinen „Ball der einsamen Herzen“. Sozusagen ein heißer Tipp. Die Chancen, im „Keese“ ein einsames lusthungriges Frauenherz zu erobern, waren durchaus reell. Trotzdem gelang es einem der Unsrigen aber nur sehr selten von einer der meist nicht mehr ganz taufrischen Damen abgeschleppt zu werden. Weshalb? Na, Seeleute haben es halt nicht nötig, langatmig zu parlieren. Hinzu kommt noch der schnelle Griff zum Glas. Ein kleines Übermaß an Bier mit Sekt und dann womöglich auch noch Wein ließen die selbsternannten Lords den ursprünglichen Grund ihres Kommens schnell vergessen. Vergessen? Na, eher war es wohl so, dass uns die Damen mehr oder weniger deutlich machten, wir sollten sie vergessen. Besonders Vergessliche unter uns, die oft nicht mehr wussten, wo sie waren, wurden dann wenig sanft von routinierten Rausschmeißern daran erinnert…

So endete der Ausflug ins „Café Keese“ nicht selten in einem ungeordneten, individuellen Rückzug. Der war dann auch vielfach so verschlungen wie die Gangart des jeweiligen Individuums. Den einen zog es in den eher biederen „Silbersack“, den anderen vielleicht in die hinterfotzige „Ritze“. Der Rest versackte ganz schlicht in einer der unzähligen Kaschemmen auf der Großen Freiheit. Für diejenigen, die es noch schafften, war dann die „Washington-Bar“ der Abschluss oder – je nachdem – der Höhepunkt des Landgangs. Diese Bar war so etwas wie die externe Heimat aller gestandenen Lloyd-Fahrer. Hier hausten sie, all die erfahrenen Dirnen, die genau wussten, was ein Seemannsherz im desolaten Zustand am meisten benötigt…

Und das ist nicht nur Sex. Eine in Ehren erblondete Beischläferin könnte doch glatt nach all dem seelischen Ballast, den die „Jungens“ auf ihren mütterlichen Busen abgeladen hatten, ihr Examen als Psycho-Expertin machen. Hanna, die mit dem Holzbein, hatte sich zwar nicht direkt als Psychologin, dafür aber wegen ihres schlagfertigen Mund- und Beinwerks einen Namen gemacht. Sie und ihr Holzbein – das sie notfalls wie einen Baseball-Schläger zu handhaben wusste – waren in Seefahrerkreisen so bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. So mancher Lümmel, der sich nicht zu benehmen wusste, wusste hinterher ein Lied über Hannas Bein „welch Pein, welch Pein“, zu singen…

In diesem trauten „Milljö“ machte ich Hans Ballermanns; (Name geändert), Bekanntschaft. Hans war einer der hässlichsten Kerle, die mir je über den Weg gelaufen waren. Nichts, aber auch gar nichts passte in seiner für sein Gegenüber geradezu beleidigenden Visage zusammen. Besonders abstoßend waren seine oberen Schneidezähne, die sich wie bei einem Biber gelb und mächtig unter der bockwurstförmigen Oberlippe hervor schoben. Darüber steckte eine verknorpelte Nase im breitflächigen Gesicht. Die untere Kieferpartie gemahnte an die Funktion eines Nussknackers, was ihm dann später, an Bord der ILLSTEIN, auch folgerichtig den Spitznamen „Nussknackerface“ einbrachte. Vermutlich war ihm dieser Rufname sogar angenehmer als sein Familienname. Seine flachsfarbenen Haare standen wirr und stachelig in alle Himmelsrichtungen. Kurz gesagt, er hatte die Physiognomie einer Vogelscheuche, ein Alptraum – wenn da, ja wenn da nicht die großen, weit auseinander stehenden, samtbraunen, so wundersam sanft blickenden Augen gewesen wären. Dieser sanfte, warme Blick und die Art seines Sprechens, eine fast singende, sich unmerklich einschmeichelnde Redeweise versöhnten mich immer wieder schnell mit seinem fürs erste so erschreckenden Anblick. Die Gestik, mit der er seine Rede unterstrich, war wohl eindringlich, dabei aber völlig unaufgeregt. Seine Sprache war das akkurateste Hochdeutsch, das ich unter uns gemeinem Volk je vernommen habe. Niemals geschah es, dass sich aus seinem Mund ein unbedachtes, ein zu lautes oder gar unfeines Wort löste. Hans, der Penner, der er war, hatte die Seele eines Heiligen, selbst wenn er sturzbesoffen war, wurde er in keiner Weise ausfällig…

 

Na, möglicherweise übertreibe ich jetzt ein bisschen. Dass er aber der friedfertigste Mensch war, der mir bislang in meinem schon ziemlich langen Leben begegnet ist, davon nehme ich kein Jota! Wie und warum Hans, der Sohn eines höheren Landesbeamten, zum Penner wurde, darüber ließ es sich trefflich spekulieren. Ich meine halt, dass es sein entstelltes Gesicht war, welches ihn zum Außenseiter stempelte. Derselbe Grund war aber vielleicht auch die Ursache seiner gepflegten Umgangsmanieren. Allein dadurch gelang es ihm, sein abstoßendes Erscheinungsbild erheblich abzumildern.

Hans kannte den Kiez wie seine Westentasche. Das mit der Weste ist natürlich nur bildlich zu verstehen, seine Bekleidung entsprach eher der eines Lumpensammlers. Sein Revier, auf das er mich neugierig gemacht hatte, lag rund um St. Michaelis. In dieser abseits der Reeperbahn gelegenen Ecke gelangte ich dank seiner Begleitung in Spelunken, die ich in Deutschland nicht, nicht einmal in Hamburg, für möglich gehalten hätte. Dunkel erinnere ich mich an spärlich beleuchtete Kellergewölbe, an schemenhafte Gestalten, die sich dicht an dicht stehend oder hockend an einem anscheinend endlosen Tresen festhielten. Anderes, genauso wenig Vertrauen einflößendes Volk belagerte die mit Gläsern und Flaschen voll beladenen Stehtische am Rande des Gewölbes. In den wenigen Sitzgelegenheiten hingen schwer gezeichnete Zecher – wie angeschlagene Boxer in den Seilen. Einige zur Gänze abgestürzte Alkoholleichen krümmten sich auf dem vorsorglich mit Sägespänen bestreuten Stein- oder Ziegelboden…

Instinktiv versuchte ich zu kneifen. Das war mir nun doch eine Nummer zu surreal. Ich sah mich in einen Film zurück versetzt, in dem sich biedere Bürger nach Einbruch der Dunkelheit in Ratten verwandelten, allerdings, ohne dabei ihre menschliche Gestalt einzubüßen. Und, im Gegenteil zu Ballermanns Kellerratten, waren es sehr elegant gekleidete Männlein und Weiblein. Das Anstößige daran war, dass den blütenweißen Stehkragen der schwarzbefrackten Herren menschlich aussehende Rattenköpfe aufgesetzt waren. Ebensolche, jedoch weitaus putzigere Köpfchen, zierten die mit glitzernden, gleißenden Colliers behängten, aber sonst nackten Hälse der Damen. Überhaupt zeigten die Damen – außer anschmiegsamen Fuchs- und Marderpelzen – sehr viel glatte Haut. Auch kamen sie mit dem obligaten Rattenschwanz, den sie vorwiegend wie eine Stola um die blanke Schulter trugen, viel besser zurecht als ihre männlichen Partner…

Ratte, ratte, rette sich wer kann – mein lieber Mann, das ist leichter gesagt als getan! Eine, nein, keine Ratte – eine mausgraue Alte, schwere, trübe Hornbrille auf der ausgetrockneten, verknautschten Nase, hält mir kommentarlos die Bild-Zeitung unter meine lange, feuchte Nase: „Vorlesen!“ Ich lese vor, lese und trinke und versinke, versinke unaufhaltsam in Hans Buhmanns Welt…

Zu Hansens Ehre sei gesagt, er war kein Bettler. Vollmatrose, der er war, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter im Hafen oder wenn es sich ergab, eben als Urlaubsvertreter auf Hapag- und Lloydschiffen. Er kannte sich und seine Unzuverlässigkeit und mied daher „feste Anstellungen“. Die Vorstellung, eine längere „Durststrecke“, also eine mehrmonatige Seereise auf sich zu nehmen, entsprach nicht seiner Lebensphilosophie. Trotzdem ergab es sich, dass wir zusammen – für „fest“ – auf der ILLSTEIN anheuerten.

Ende Oktober 1965, Auslaufen Hamburg. An dieser Stelle würde ich gern meine ureigensten Originalberichte, die ich gelegentlich so zwischendurch verfasste, mit einfließen lassen. Soll ich? All right – ich wage es…

Zwei Uhr morgens, Auslaufen Hamburg. Die Janmaaten stehen schon klar bei „Leinen los!“ Der letzte Schauermann jumpt noch eben über die Verschanzung. Die Gangway haben wir dem etwas zu säumigen Agentenlehrling bereits unter den Füßen weggezogen. Die Schlepptrossen straffen sich; ab geht die Post. Wer über die Abschiedsgepflogenheiten in der ordinären Frachtschifffahrt im Unklaren sein sollte, dem sei kurz gesagt: Es gibt keine. Kein Ehrensalut, keine Deutschmeisterkapelle oder vielleicht gar einen Shanty-Chor, auch keine Kusshändchen hauchenden Dockschwalben. Selbst die höchst anständigen Ehegattinnen, die des Kapitäns, der Offiziere und Ingenieure, des Funkers und des Chefstewards, haben ihre Männer schon vor Stunden verlassen. Wer lässt sich schon gerne um zwei Uhr morgens an die kühle Nachtluft setzen.

Langsam zieht der Vorderschlepper das Schiff durch den Kaiser-Wilhelm-Hafen. Vorbei an der langen Reihe der Lagerschuppen: Schuppen Nr. 74, Nr. 73, Nr. 72, Nr. 71; hier liegen sie, die Lloyd- und HAPAG-Liner, Bug an Heck, aufgereiht wie die Perlen an einer Gebetsschnur. Mich fröstelt es, meine Laune ist am Tiefpunkt. Die Vorstellung, dass allmächtige Konzernherren die Schiffe samt Fracht und Menschen wie die Perlen einer Gebetsschnur durch ihre gepflegten Hände gleiten lassen, macht mich auch nicht fröhlicher. Im grellen Licht zahlloser Hochkerzen rotieren auf engstem Radius unentwegt schlanke Kräne neuester Bauart. Sie erinnern mich an Geier, deren Schnäbel Hiev um Hiev in den geöffneten Bäuchen der Frachter verschwinden, um ihnen entweder ihre fremdartigen Schätze zu entreißen oder sie mit profanen Kisten, sperrigen Konstruktionen oder Fahrzeugen vollzustopfen.

An Backbord gleißt, zu einem sprühenden Lichtbündel verschmolzen, die bläuliche Flammenglut vieler Schweißaggregate. Pausenloses Gedröhne, Geratter, Gezische: Die Werft – für jeden rechtschaffenen Seemann ein Ort der Verwünschung. Wehe dem Schiff, das notgedrungen in die Hände der Werftarbeiter fällt. Da bleibt kein Auge trocken. Alles, was dem Seemann heilig ist, ist diesen Barbaren völlig wurscht. Überall dort, und nicht nur dort, wo sie zu tun haben, hinterlassen sie „verbrannte Erde“. Die Motormänner stehen tränenden Auges vor ihren einstmals blitzblanken Handrädern und Ventilen, die Reiniger sehen fassungslos auf ihre verölten, verdreckten Flurplatten… Wir Decksbauern schaufeln uns durch Unmengen von Schlacke, abgeblätterten Rost, verkohlte Farbe, durch Berge von Elektroden- und Verpackungsresten… Das Küchenpersonal vermisst den Schlüssel für die Provianträume, dem Steward sind Teller und Tassen abhanden gekommen, und dem Messeboy fehlen Kehrblech, Handfeger und die letzten Rollen Toilettenpapier. Dreck, Lärm, Rauch und Gestank dringen durch alle Ritzen. Eine Werftzeit kann man eigentlich nur im Suff aussitzen. Und wenn die Werft, wie in diesem Fall, Howaldt heißt, dann ist man im „Levermann“, der nächstgelegenen Kneipe, bestens aufgehoben.

Wir, die Achtergang, stehen noch immer wegen des Einholens der Schlepptrosse klar. Im Moment ist sie gespannt wie eine Gitarrenseite, der Schlepper zieht das Heck, natürlich samt Schiff, um das an Steuerbord liegende Kaiser-Wilhelm-Höft herum. „Achterschlepper los!“ schallt es plötzlich aus dem Lautsprecher der Wechselsprechanlage. Im selben Augenblick klatscht auch schon die vom Schlepperkapitän per Slip-Haken gelöste Leine ins Wasser. Mit geübten Griffen werfen wir sofort das in Achterschlingen um einen Doppelpoller liegende schwere Drahtseil los, nachdem wir es mit ein paar Törns ums Spill vor dem Ausrauschen gesichert haben.

Kaum ist die Schleppleine im Wasser, will der Alte – von Statur ein kleiner Mann, dafür aber ein ganz großes Nervenbündel – auch schon wissen: „Ist die Schraube klar?“ – „Nein, Schraube ist noch nicht klar!“ antwortet der Zweite dem Lautsprecher. „Ist die Schraube klar?“ – „Nein, Schraube ist noch nicht klar!“ brüllt der Zweite gereizt in den Lautsprecher hinein. Aber aus diesem schallt es unentwegt, zuerst forsch fordernd, dann zunehmend anklagend und schließlich geradezu winselnd zurück: „Schraube klar, Schraube klar, ist die Schraube klar…“

Inzwischen ziehen wir – in „Gänsemarschaufstellung“, Hand über Hand – das nasse, dreckverschmierte, frisch gelabsalbte Stahlseilende mit Muskelkraft durch den Hafengrund an Deck. So eine Schlepperleine kann ganz schön lang und ganz schön schwer sein; dementsprechend kann es schon einige Minuten länger dauern, bis endlich das Auge unterm Schiffsarsch sichtbar wird.

„Ist die Schraube klar, Schraube klar?“ Das unentwegte Gequake und Gewinsel des Alten raubt dem Zweiten seine sonst mit so viel Nachdruck zur Schau gestellte Gelassenheit. Seiner tadellosen Uniform und seiner feinen Lederhandschuhe nicht achtend, reißt er wie ein wild gewordener Matrose nun ebenfalls an der nicht endenden wollenden Stahltrosse. Zwar könnten wir zum Einholen der Leine auch das eigens dafür gedachte Spill verwenden. Aber unser Bootsmann, ein von der Hunte stammender, schollenflüchtiger Kleinbauer, hat wohl eine angeborene Aversion gegen technische Geräte. Also nutzt er jede Gelegenheit, dem „nümodschen Kram“ eins auszuwischen. Und weil ihm die Übersetzung des Verholspills zu langsam ist, heißt es dann: Nix wie ran, und mit „man tau“ und „noch een“ wird wieder einmal mehr „aleman winscha“ geübt…