Ich habe immer nur den Zaun gesehen

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Die Zeit arbeitete jetzt schon gegen die Nazis. Die Häftlinge in den Konzentrationslagern bekamen den Zeitdruck allerdings in Form von Schlägen und Misshandlungen zu spüren.

Eine gewisse Nervosität lässt sich in der Niederschrift der Besprechung, die als Geheime Kommandosache in vierzig Exemplaren verschickt wurde, herauslesen. Es heißt darin: Die nachstehenden Bauvorhaben wurden durchgesprochen. Die Ingenieurbüros des Arbeitsstabes U wurden mit Nachdruck darauf hingewiesen, soweit noch nicht geschehen, mit allen Mitteln nunmehr endgültige Objekte für die zu verlagernden, bisher noch zögernden Fertigungsbetriebe festzulegen, die Planung hierfür sofort durchzuführen, R-Kartenentwürfe vorzulegen, wo erforderlich, Bauleitungen zu stellen und im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss Bau die Bauarbeiten sofort in Gang zu bringen und beschleunigt durchzuführen.

Geheime Kommandosache ist per Stempel auf den blauen Aktendeckel gedruckt, der mit Flächen- und Bauarbeiterbedarf und Dringlichkeitsstufen für U-Bauten betitelt ist. Ein leuchtend roter Streifen, quer über dem Aktendeckel unterstrich eindrucksvoll die Wichtigkeit des Dokumentes, das vor mir lag. Der Reichsbahntunnel Bruttig-Treis ist darin mit der höchsten Dringlichkeitsstufe versehen. Die U-Objekte hatten Decknamen erhalten. Sie hießen Fanny, Reh, Brunhild, Hering und Hai. Das Objekt A7, der Tunnel an der Mosel trug den Decknamen Zeisig. Er hatte die Objektnummer 211.

Im ersten Halbjahr 1944 wurden Häftlinge aus unterschiedlichen Konzentrationslagern nach Cochem deportiert. Es waren Menschen aus fast ganz Europa: aus Holland, Belgien, Luxemburg, Lothringen, aus Jugoslawien, Italien, Kroatien, Griechenland und Norwegen. Einige waren aus Deutschland.

Die angeblich auf Befragung und der Treiser Pfarrchronik beruhende Behauptung in der Studie Das Konzentrationslager Treis zwischen 1942 und 1944, auf die ich später bei Nachforschungen stieß, es habe sich eine kleinere Anzahl von Häftlingen bereits seit ungefähr zwei Jahren, also bereits seit 1942 in Treis aufgehalten, erscheint fragwürdig. Es gibt hierüber kein mir bekanntes Dokument oder sonstige Hinweise.

Der erste große Häftlingstransport kam Anfang März aus Natzweiler. Er bestand aus überwiegend französischen N.N. Häftlingen. Diese wurden in der ersten Aprilwoche wieder abgezogen und hauptsächlich durch Polen und Russen ersetzt. Auf diesen Vorgang gehe ich aber später noch genauer ein.

Aus den Meldelisten des Außenkommandos Cochem konnte ich für jeden Gefangenen die folgenden Angaben entnehmen: die laufende Listennummer, die Häftlingsnummer, die Staatsangehörigkeit, den Namen, das Geburtsdatum und den Beruf. Außerdem sind alle Häftlinge darauf, entsprechend ihrer Einlieferungsgründe, mit Abkürzungen wie folgt gekennzeichnet: S.V. steht für Sicherheitsverwahrung, B.V. für Befristete Vorbeugehaft. Hieraus ist später die Bezeichnung Berufsverbrecher entstanden. Aso steht für Asoziale, AZA für Ausländische Zivilarbeiter, Kgf. für Kriegsgefangene, Pol. für Politische Häftlinge und Paragraph 175 für Homosexuelle. Ab und zu fand ich die Bezeichnung Bifo für Bibelforscher und einmal SAW für Sicherheits-Abteilung Wehrmacht.

Seitenweise sind vor allem Franzosen aber auch Häftlinge aus Belgien und den Niederlanden mit der Kennzeichnung N.N. versehen, was ja für Nacht und Nebel stand. Fünf N.N. Häftling waren Polen, was eher selten vorkam.

Die Polen und Russen sind vor allem als Politische Gefangene und Kriegsgefangene, viele aber auch mit AZA bezeichnet. Als Ausländische Zivilarbeiter wurden Menschen bezeichnet, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden.

Die Häftlinge kamen aus allen Berufsgruppen. Viele waren Handwerker, Arbeiter, Bauern, andere Techniker, Lehrer, Offiziere, Händler, Ärzte und Angestellte. Einige waren noch Lehrlinge, Schüler oder Studenten.

Die Jüngsten unter ihnen waren noch keine achtzehn Jahre alt. Nur wenige waren über fünfzig. Der französische Junge Raymond Boule wurde mit einem der ersten Transporte in das Außenkommando Cochem gebracht. Wenig später, am 2. April 1944, wurde er hier sechzehn Jahre alt. Am 15. Juni 1944 kam er in das Zuchthaus in Brieg. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Ein französischer Häftling war mit 61 Jahren der älteste. Ein anderer, ebenfalls Franzose, am 18.4.1884 geboren, wurde in Cochem 60 Jahre alt.

Auf allen Listen, auf denen N.N. Häftlinge zusammengestellt sind, steht der handschriftliche Vermerk Quarantäne. Zunächst konnte ich mir den Zusammenhang nicht erklären, fand aber dann ein Zitat des französischen N.N. Häftlings Doktor Andrè Ragot: Quarantäne … Wir malen uns gegenseitig unsere Kleider mit roter Farbe an, Zeichen der N.N., Häftlinge der Kategorie III, während die gelbe Farbe die Kategorie II bezeichnet. Dieses Zeichen sah folgendermaßen aus: Ein Streifen auf der Hosennaht von oben bis unten. Ein N vorne auf jedem Schenkel. Auf dem Jackenärmel oberhalb des Ellenbogens ein Querstreifen. Ein rotes Kreuz im Rücken mit einem N auf jeder Seite oder oben und unten. Ein rotes Kreuz auf der Mütze. Sind wir noch Menschen oder vielmehr gekennzeichnete und nummerierte Sachen? Erste Stufe der Demoralisierung.10

10 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982

Das KZ-Außenlager Cochem wurde am 10. März 1944 eröffnet. So steht es im Haftstättenverzeichnis. Das heißt, die ältesten, noch vorhandenen Akten über das KZ Cochem stammen vom 10. März 1944. Die letzte Erwähnung findet das Lager am 29. September 1944. Es bestand demnach also ein gutes halbes Jahr. Im Verzeichnis der Haftstätten ist weiter unter Außenkommando Kochem nachzulesen: Arbeitgeber: SS Wirtschaftsverwaltungshauptamt, Amtsgruppe C/Jägerstab/SS Führungsstab A7, Bauinspektion-Reich-West, Art der Arbeit: Arbeiten an einem Tunnel und Verladearbeiten am Bahnhof.

Die Angabe 10. März 1944, als Zeitpunkt der Eröffnung des Lagers, dürfte der Termin sein, an dem die ersten Gefangenen in Cochem eintrafen.

In Bruttig ließ die SS kurzerhand das am Dorfrand gelegene Hotel Zum guten Onkel mit Stacheldraht verschlagen und sperrte die Häftlinge in den Saalbau, von wo aus sie das Lager Auf der Kipp errichten mussten.

In Treis verlief es ähnlich. Die SS requirierte das Hotel Wildburg am Moselufer. In dessen Saalbau errichtete sie das erste Lager, in das die KZ-Häftlinge zunächst gesperrt wurden, bevor sie von dort in die selbst errichteten Bauten Auf der Kipp umzogen.

Auf der Kipp, so wurden und werden heute noch die Erdaufschüttungen genannt, die als Erdaushub beim Bau des Tunnels anfielen und vor den Tunnelmündungen als Wälle oder Dämme aufgeschüttet, aufgekippt wurden.


Abb. 11: »Namentliche Aufstellung der Häftlinge des Arbeitslagers Kochem – nicht NN« (Quelle: Bundesarchiv Koblenz/Potsdam NS 4 NA, R 3/331,R7/1214)


Abb. 11a


Abb. 12: »Namentliche Aufstellung der Häftlinge des Arbeitslagers Kochem – Quarantäne« Die beiden Dokumente (jeweils die erste Seite der Aufstellungen) sind die zeitlich am weitesten zurückliegenden Unterlagen über das KZ-Außenlager Cochem. Datiert mit dem 10. März 1944 geben sie klar Auskunft über den Zeitpunkt der Eröffnung.


Abb. 13: Aufstellung über den SS Führungsstab in Cochem vom Mai 1944. (Quelle Abb. 12 + 13: Bundesarchiv Koblenz/Potsdam NS 4 NA, R 3/331,R7/1214)

Mit dem 10. März 1944 sind auch die am weitesten zurückliegenden Namentlichen Aufstellungen der Häftlinge in Cochem datiert. Offenbar hat sich auch der Ersteller des Haftstättenverzeichnisses an diesen Unterlagen orientiert. Es handelt sich hierbei um zwei Listen, auf denen ausschließlich N.N. Häftlinge aufgeführt sind und um eine Liste mit der Kennzeichnung nicht N.N. Insgesamt sind genau 300 Personen aufgeführt, davon 232 N.N. Häftlinge. Diese Zahl dürfte der Anfangsbelegung der beiden Lager Bruttig und Treis entsprochen haben. Einer der N.N. war der belgische Rechtsanwalt Albert Aerts. Er überlebte Cochem und Natzweiler und erzählte später über den Häftlingstransport, dem er angehörte und die Ankunft in Cochem:

Mein Leben in den deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern ist eine dauernde Steigerung des Elends gewesen.

Ich dachte, Natzweiler würde alles übertreffen, was man sich an Leiden und Entbehrung vorstellen kann. Aber ich hatte Treis-Bruttig noch nicht gesehen.

Am 2. Februar 1944 wurden wir zu ein paar Hundert in Zellenwagen geladen. Man warf uns aufeinander wie schmutzige Leinentücher. Als der Wagen schon übervoll war, wurden immer noch mehr hinzugeladen. Das ging so: Ein Häftling wurde rückwärts gegen das nach Luft schnappende, röchelnde Menschenknäuel hineingedrückt. Ein SS-Mann setzte seinen Stiefel dem Kerl auf den Bauch und in kürzester Zeit war der auch drinnen.

Die Reise nach unten war schrecklich. Die Leute hingen mitten im Wagen. Am Bahnhof von Rothau wurden wir in Viehwaggons geladen. Glücklicherweise lag darin ein wenig schmutziges Stroh.

 

Über Straßburg erreichten wir Kochem, ein malerisches Moseldorf, dreißig Kilometer von Koblenz entfernt. Die Aussicht war prachtvoll. Hoch oben auf einem Berg eine Burg. Am anderen Ufer der Mosel standen deutsche Menschen und gafften, einfach aus Neugierde. In Bruttig übernachteten wir in einer Garage. Am anderen Tag erreichten wir Treis nach einem Fußmarsch über den Bergrücken. Wir wurden untergebracht in einem abgedankten Tanzsaal, neben einer ebenfalls abgedankten Weinstube. Rund um den ganzen Komplex war Stacheldraht gespannt. Das war ein neues Kommando. Wir weihten es ein. Wir, das waren vor allem Franzosen, einige Russen und Polen. Ich denke, dass ich der einzige Belgier war. Wir mussten zuerst einen Weg anlegen, an der Mosel entlang, fünf Kilometer lang. Dieser mündete in einen Tunnel, den wir später zu einer unterirdischen Halle ausbauen mussten, wahrscheinlich zu einer Fabrik für V1 und V2. Die Deutschen fühlten, dass es für sie ein Wettlauf gegen die Zeit wurde, und obwohl wir bloß über Pickel verfügten, jagten sie uns mit Fußtritten und mit Stößen an zu einem höllischen Tempo. Der Weg musste innerhalb einer Woche fertig sein, und so geschah es dann auch. Wir bekamen praktisch nichts zu essen. Die Bewacher verschacherten unsere Rationen an die Dorfbevölkerung, die selbst Not litt. Zum ersten Mal wurden wir Tag und Nacht vom Hunger geplagt. Von Seiten der Bürger kam uns wenig Sympathie entgegen. Die SS hatte das Gerücht verbreitet, dass wir Schwerverbrecher wären. Wenn wir Deutschen in der Nähe der Mosel begegneten, geschah nicht selten, dass sie uns voll Hass zuriefen: ›Der Krieg dauert noch sechs Jahre, dann seid ihr alle krepiert.‹

Ein paar Menschen scheinen doch gewusst zu haben, dass wir gewöhnliche politische Gefangene waren und hatten Mitleid mit uns. Hin und wieder lag ein Apfel auf der Straße oder ein Kohl oder, anscheinend auf einem Haufen zusammengefegt, ein paar Möhren und Rüben mit grünen Blättern darüber. Das Schwierige war, daran zu kommen, denn aus der Reihe zu treten war lebensgefährlich. Hier und da stahlen wir etwas. Die Arbeit im Tunnel war unmenschlich schwer. Da war eine Abwasserleitung, die kaputt war. Wir mussten die Rohre aus dem Boden herausnehmen, den Graben vertiefen und neue Rohre legen. Wir standen bis zum Bauch in einem klebrigen, stinkigen Brei, um kleine Loren zu füllen. Da verlor ich meine zweite Brille. 11

11 Quelle: Bert Aerts: Advokaat in Nacht en Nevel. Amsterdam 1972, Übersetzung ins Deutsche von Ernest Gillen


Abb. 14: Blick auf den nördlichen Teil der Ortschaft Treis. Im Hotel Wildburg (zweites Haus von links) wurden die Häftlinge zunächst provisorisch einquartiert. Foto aus den 1930er oder Anfang der 1940er Jahre. (Historische Aufnahme, Markus Bleser, Treis)

Viele der Häftlinge, die mit dem gleichen Transport wie Bert Aerts von Natzweiler nach Cochem kamen, tauchten in späteren Unterlagen wieder auf. Daher ließ sich folgendes rekonstruieren.

Die beiden 34-jährigen französischen N.N. Häftlinge Raymond Tourneur und François Le Corre, der 43-jährige Niederländer Alexander Putto und der gleichaltrige Franzose Max Douillere wurden schon einige Tage nach ihrer Ankunft in Cochem, am 20. März, wieder nach Natzweiler zurückgebracht. Den Grund für die sogenannte Rücküberstellung und was in Natzweiler mit den vier Männern weiter geschah, habe ich nicht herausfinden können. Eines nur ist sicher: Der Franzose Raymond Tourneur starb elf Tage später, am 31. März 1944, im KZ Natzweiler. Über das Schicksal der drei anderen schweigen die Akten.

Ein Franzose schrieb später über den Transport von Natzweiler nach Cochem und über die Gefangenschaft des französischen Arztes Doktor Ragot im KZ-Außenlager an der Mosel:

Franzosen, hinaus! André Ragot ist er erste, der dran ist, hinauszugehen und der erste, der einen mächtigen Faustschlag in die Kinnbacken bekommt. Ein SS notiert die Nummern der Gefangenen. Die gleiche Szene in Block 10. Appell. Der Tag verstreicht mit Stampfen in den Schnee, mit Fragen: ›Was bereiten sie für uns vor?‹ Ein SS-Arzt macht eine Durchsicht.

›Ihr werdet ins Außenlager kommen. Das gleiche Essen wie die Zivilisten! Arbeit im Sitzen!‹

Zwei Kapos werden für die Bewachung bestimmt, Leski und Fritz. Zwei deutsche Politische. Zwei brutale Kerle.

Name, Vorname, Nummer, Geburtsdatum, Beruf. Die Verwaltung hält ihre Listen in Ordnung. Man verteilt gestreifte Uniformen, die ›Zebras‹. Eine Jacke, ein Mantel und eine runde Mütze. Und alle werden in Block 14 eingesperrt. Georges drängt sich gegen Ragot, um sich zu wärmen. Er hat eine Rippenfellentzündung. Er war denunziert worden durch den Liebhaber seiner Frau. Wie schmutzig. Der Liebhaber war trotzdem auch nicht entkommen. Er ist im selben Transport gelandet wie er. Aber keine Moral. Der Liebhaber ist zurückgekehrt. Nicht Georges.

Am nächsten Tag um sechzehn Uhr. Ein Zellenwagen vor Block 14. Man pfercht die Gefangenen zusammen. Um die Tür zu schließen, setzt man einen Fuß auf den Bauch des letzten. Und man drückt stark. Der Bahnhof von Rothau. Die Waggons mit Stroh. Ragot drückt sich in eine Ecke mit Grandjean und Georges, der vierzig Grad Fieber hat und schnauft wie ein Ochse. Zwei junge Soldaten der Luftwaffe steigen in den Wagen ein. Die Wachen. Die Türe schließt sich wieder hinter ihnen. Sie haben Angst. Das ist zu sehen. Diese zweihundert verstörten Augen, die sie scharf beobachten. Sie öffnen die Tür wieder, um sich ein bisschen sicherer zu fühlen. Und die Kälte breitet sich im Wagen aus.

Straßburg fünfhundert Gramm Brot, vierzig Gramm Margarine und zwei Portionen Wurstersatz. Alles ist sofort verschlungen. Wo fahren sie hin? Noch eine Nacht in dem eisigen Waggon. Grandjean und Ragot haben Georges in die Mitte genommen. Damit er es ein bisschen wärmer hat.

Endlich Kochem. Eine kleine Stadt an der Mosel. Die Mosel, breit, fließt zwischen zwei begradigten Ufern. Weinstöcke bedecken die Hänge. Vorne, auf einem Hügel, ein Schloss.

›Siehst du sie, die N.N. auf der anderen Seite? Sie nehmen die Metro.‹ Georges phantasiert. Es sind sieben Kilometer zu Fuß. Ragot stützt ihn. Und er kommt an. Man pfercht sie in einer Scheune zusammen. Es sind dreihundert. Franzosen und Holländer, Russen, Belgier und Deutsche. Am nächsten Tag eine Überraschung. 750 Gramm Brot mit Wurst. Das Leben ist schön! Die Küchen werden eingerichtet. Grandjean gelingt es, angestellt zu werden, bis Leski ihn bemerkt und ihn mit festen Faustschlägen vertreibt.

›Du bist wirklich Arzt? Beweise es doch. Als erstes, was macht man, um ein Nagelgeschwür zu öffnen?‹ Ragot zieht sich ohne Mühe aus der Affäre. Aber ausführlich, mit vielen Details. Der Kapo, ein alter Seemann, war überzeugt.

›Gut, so geht es! In Ordnung. Du kommst in ein Nachbar-Kommando, nach Treis, wo man dir eine leichtere Arbeit geben wird. So kannst du abends deine Kameraden pflegen.‹

Ausgezeichnet. Aber er muss Georges in Bruttig zurücklassen. Dieser starb auf dem Rücktransport nach Struthof.

Wieder ein langer Marsch. Beladen mit Säcken und Koffern der Wachen. Die Gefangenen werden in einem Tanzsaal eines Hotels am Ufer der Mosel einquartiert. Ein großes Gebäude, gut durchlüftet durch riesige Türöffnungen. Man teilt Äpfel an sie aus.

›Ragot, der Arbeitskapo verlangt nach dir!‹ André folgt gefügig Zauer, einem anderen Kapo.

›Bist du der große Arzt, dumm wie die Nacht?‹ Eine erste Ladung Schläge prasselt auf Ragot. Den ganzen Nachmittag über wird er drangsaliert.

Sie müssen eine kleine Straße bauen. In 8 Tagen ist sie fertig. Am Rand, zwischen den Steinen, Nüsse. Ab und zu eine Schnecke. Eine kleine, weiße Schnecke, die einen glauben lässt, dass man in der Nacht nicht an Hunger sterben wird. Eines Tages entdeckt die Kolonne ein Rübensilo. Das ist ein Andrang! Die Russen als erste. Kopf gesenkt. Sie tauchen in das Loch und holen große Rüben heraus. Das Gedränge findet mit unerbittlicher Grausamkeit ein Ende. Faustschläge und Fußtritte. Die Ochsenriemen der Kapos. Und Entziehung der Suppe.

Die Straße ist fertig. Alle kommen in den Tunnel. Das ist die schlechteste Arbeitskolonne. Eine wirkliche Gemeinheit. Man zählt die Toten nicht mehr. Der Tunnel ist eine ehemalige Pilzzucht, errichtet von Kriegsgefangenen von vierzehn/achtzehn. Der alte Wasserabfluss soll zerstört und ein ausgedehnter Graben gebaut werden. Am Eingang beaufsichtigen Zivile die Arbeiten, Beleidigungen auf Deutsch, den Knüppel in der Hand. Die Kapos passen auf und verteilen Schläge, um den Zivilen zu gefallen, die dem Kommandoführer Bericht erstatten. Und der Hunger … Die Gefangenen erhalten niemals die kleinsten Mengen Wurst oder Margarine. Es kommen Pakete an. Aber die SS-Männer nehmen sie an sich. Selbst ein Großteil des Brotes wird ihnen geklaut. Sie essen fast nur noch Unkräuter und weiße Schnecken.

Am Morgen aufstehen um vier Uhr. Ein Glas Hafersaft und dann zur Arbeit.

›Die Kranken zurück!‹ Leski amüsiert sich wie ein Verrückter. Ragot wird gerade während des Appells ohnmächtig. Er steht wieder auf, folgt einem Dutzend seiner Kameraden, die den unerwarteten Befehl des Kapos gehört haben. Zwei Faustschläge für jeden. Es ist besser umzukehren, um nicht noch mehr zu bekommen. Die Kolonne setzt sich in Bewegung. Fünf Kilometer bis zum Tunnel. Sie gehen stumpf, abgezehrt, völlig abgemagert, erschöpft, den Bauch zerrissen von einem schrecklichen Hunger. Sie stützen sich gegenseitig, steigen über die, die fallen, ohne anzuhalten, stoßend gegen Schieferbrocken auf der schlechten Straße, die Füße blutend, umwickelt mit alten Lumpen, hustend und spuckend.

›Los, weiter mit euch! Solche wie euch kann man haben, so viele man will.‹

›Solche wie euch‹, das sind die Gefangenen. Vorrat an Arbeitskräften – unerschöpflich und fast umsonst. Der Betrieb zahlt der SS nur vier Mark pro Tag für jeden Gefangenen.

Täglich werden die Lungenkranken zahlreicher. Viele haben die Ruhr. Zwanzig mal am Tag gehen sie und kauern sich neben einer Kiste nieder, kommen zurück, waten durchs Wasser und mit ihren abgemagerten und müden Armen heben sie die Picke über den Kopf.

›Wie alle Ausgehungerten, sprachen wir viel über Kochrezepte, die uns das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, zu unserem Unglück, denn das hatte zur Folge, dass wir uns regelrecht selbst aufzehrten. Ich wusste das, und weil ich das vermeiden wollte, suchte ich ein anderes Thema, über das ich nachdachte. Aber unweigerlich, fünf Minuten später, dachte ich wieder an Croissants am Morgen, an Hammel mit Bohnen oder an andere Hirngespinste. Ein langsamer moralischer Abbau.‹

Mittags eine dreiviertel Stunde Pause. Man ›stellt‹ sie auf einem mit Stacheldraht umzäunten Gelände ab. Da essen sie ihre Suppe.

Die Hände sind vom Pickelhalten zerschunden. Sie können ihre steifen Finger nicht mehr krümmen. Wie haben sie Angst auch nur einen Tropfen von der lauen Flüssigkeit zu verschütten.

Nachschlag. Einen halben Liter Suppe Nachschlag. Aber anstatt der Reihe nach zu verteilen macht man sich einen Spaß. Die Suppe wird in einem Napf an den Zaun gestellt, den sie erreichen müssen. Man lacht über die Schlacht, die folgt. Zusätzlich muss man sich den Brutalitäten widersetzen, die auf sie hinab prasseln, um das Recht zu haben, eine zusätzliche Portion zu erhalten. Ein großer Russe, den die Deutschen ›Stalin‹ getauft haben, erhält jeden Tag eine zusätzliche Portion. Er verdient sie sich. Er ist besonders stark und scheint gefühllos gegen Schläge zu sein. Er schlingt gierig einen halben Liter hinunter, zusammen mit dem Blut, das ihm aus der Nase läuft.

Vier Wasserkannen für dreihundert Häftlinge. Unmöglich an sie heran zu kommen. Nur ›Stalin‹ schafft es. Nachts, eingesperrt in die Schlafsäle haben sie nur einen großen Kübel für ihre Notdurft, den sie morgens beim Aufstehen um vier Uhr in die Mosel leeren. Aber bis Mitternacht ist der Kübel voll. Es bleibt nur die Hose. Oder das Kochgeschirr.

 

›Arbeit! Bewegung!‹ Ragot zuckt mit den Schultern. Zwanzig mal Stuhlgang am Tag. Fieber lässt seine Glieder zittern. Alles ist ihm egal.

›Ich gehe zum Kapo!‹ – Egal. Ein Fußtritt ins Gesicht.

Bei der Rückkehr von der Arbeit, hinter der Kolonne, einige Schubkarren. Für die Tagestoten.

Schlägereien und Diebstähle werden immer häufiger. Die Russen tun sich zusammen. Aufgepasst! – das Brot verschwindet in der Tasche oder unter’m Arm. 12

12 Quelle_ Allainmat: Auschwitz en France. Paris 1974. Übersetzung ins Deutsche von Dorothee Mendner

Doktor Ragot überlebte trotz aller Schikanen und Entbehrungen Cochem und Natzweiler. Er starb jedoch im September 1954 im Alter von vierundvierzig Jahren an den Folgen seiner Deportation. Seine Aussagen haben wesentlich zur Aufarbeitung der Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler beigetragen. Jetzt tragen sie zur Aufarbeitung des Außenlagers Cochem bei. In der Gedenkbroschüre des KZ Natzweiler wird ganz unzweideutig festgestellt:

Unter den Außenkommandos war Kochem eines der schrecklichsten. Es musste ein Kanal durch den Tunnel gelegt werden und das Bahnhofsmaterial musste abgeladen und transportiert werden. Wenige haben Kochem überlebt, nur einige N.N., darunter Doktor Ragot, wurden auf wunderbare Art gerettet, als der Lagerverwaltung klar wurde, dass die N.N. nicht in Außenkommandos arbeiten durften. Er wurde folglich nach Natzweiler zurückgebracht. In einem Monat starben in Kochem vierzig von hundertfünfzig Franzosen. 13

13 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982

Dem Lebensweg und Schicksal einiger der im KZ-Außenlager Cochem verstorbener Franzosen und mancher ihrer Kameraden anderer Nationen konnte ich auf die Spur kommen.

Der Niederländer Louis Vervooren, ein N.N.-Häftling, war 48 Jahre alt, als er nach Cochem kam. Von Beruf war er Maschinenbauingenieur. Er verbrachte nur noch wenige Tage im Nebenlager Bruttig. Am 31. März 1944 ist er dort gestorben. Die amtliche Todesursache lautete: Herz- und Atemstillstand. In den von der SS täglich angefertigten Veränderungsmeldungen wird er am 5. April 1944 morgens als verstorben gemeldet.

Diese Veränderungsmeldungen wurden zentral in Natzweiler erstellt und enthalten alle Abgänge und Zugänge des Stammlagers und der Außenkommandos. Das Grab des Louis Vervooren befindet sich noch heute auf dem Bruttiger Gemeindefriedhof. Hier wurde sein Körper, mit noch sechzehn anderen Häftlingsleichen auf Anweisung des SS Führungsstabes ohne polizeiliche Genehmigung verscharrt. Das Todesdatum auf dem Grabstein stimmt mit der Angabe auf der Auflistung des Amtes Cochem-Land über Grabstätten von Angehörigen der Vereinten Nationen überein. Andere Häftlingsleichen wurden per LKW in das Mainzer Krematorium gebracht und verbrannt.


Abb. 15: Grabstein des Louis Christian Vervooren. Er war einer der Häftlinge, die gleich in den ersten Wochen zu Tode gekommen sind und von der SS auf dem Bruttiger Friedhof verscharrt wurden. (Foto: E. Heimes aus dem Jahr 1986)

Auch Vervoorens Landsmann, Hendrikus Rempe, ein damals 40-jähriger Hafenarbeiter, überlebte die Strapazen von Bruttig nur wenige Tage. Er verstarb laut Eintragung schon am 26. März 1944. Vermutlich akute Herzschwäche ist nachzulesen. Er wurde auf dem Bruttiger Friedhof verscharrt. Sein Grab ist heute noch dort.

Der Norweger Richard Waldemar Johannsen, N.N. Häftling, von Beruf Malergehilfe, starb am 2. April in Bruttig und wurde dort auf dem Friedhof verscharrt. Im Mai 1944 wäre er 32 Jahre alt geworden. Als Todesursache wurde Herz- und Atemstillstand vermerkt.

Der N.N. Franzose Josef Labouret wird in der Veränderungsmeldung der SS am 5. April als verstorben gemeldet. Auf der gleichen Meldung steht auch Louis Vervooren. Labouret wurde nicht auf dem Bruttiger Friedhof begraben. Es könnte sein, dass er im Treiser Lager gewesen ist.14 Als er starb, war er 37 Jahre alt. Von der Verbandsgemeindeverwaltung Treis-Karden lagen mir keine Sterbelisten vor, aus denen ich Näheres über Josef Labouret hätte erfahren können. Über die Weigerung des Standesamtes Treis-Karden, Einsicht in die standesamtlichen Sterbelisten zu gewähren, werde ich noch zu sprechen kommen.

14 Josef Labouret war tatsächlich Häftling im Treiser Lager, was ich jedoch erst viel später nachweisen konnte, als ich nach langem Kampf und viel Gezerre die Sterbelisten des Standesamtes Treis in den Händen hielt. Josef Labouret war nach dem 31-jährigen Marcel Vernot der zweite Treiser Häftling, der vom dortigen Standesamt als verstorben gemeldet wurde.

Konkrete Angaben lassen sich noch über folgende N.N. Häftlinge machen. Leider waren die mir vorliegenden Auflistungen nur sehr lückenhaft.

Die Franzosen Alexandre Martineau, 36 Jahre, Landwirt; Alexandre Norois, 43 Jahre, Maler und Pierre Clowez, Angestellter, werden auf der Veränderungsmeldung der Lagerverwaltung am 8. April 1944 als in Cochem verstorben gemeldet. Der Todestag von allen dreien ist der 5. April. Pierre Clowez hatte drei Tage vorher seinen 33. Geburtstag. Während alle bisher in Bruttig verstorbenen Häftlinge auf dem Friedhof des Ortes hinter der Kirche verscharrt wurden, hat man diese drei Toten erstmals nach Mainz ins Krematorium überführt und verbrannt.

Nur zwei Tage zuvor war zuletzt der am 3. April 1944 verstorbene Franzose Pierre Tarle auf dem Bruttiger Friedhof verscharrt worden. Er war 44 Jahre alt und von Beruf Gymnasiallehrer. Als Todesursache wurde kurz und bündig Herz- und Atemstillstand vermerkt. Fünfeinhalb Jahre später, im September 1949, wurden seine Überreste exhumiert und wahrscheinlich in seine französische Heimat überführt.

Insgesamt wurden auf dem Bruttiger Friedhof siebzehn Häftlingsleichen begraben. Zehn von diesen wurden nach dem Krieg exhumiert und in mir unbekannte Orte, wahrscheinlich in ihre jeweilige Heimat, zur Bestattung überführt.

Die Veränderungsmeldung vom 13. April 1944 weist fünf Todesfälle auf, drei davon im Außenkommando Cochem. Es handelt sich bei den Toten um den N.N. Franzosen Henry Douat, 36 Jahre, Landwirt; Arthur Portier, 57 Jahre, ebenfalls Landwirt und um den 18-jährigen Schüler André Chinier. Alle drei kamen am Karfreitag, den 7. April 1944 zu Tode. Ihre Körper wurden in Mainz verbrannt.

In dem Dokument mit dem Titel Nachweisung über Todesfälle von KZ-Häftlingen in der Gemeinde Bruttig werden insgesamt 50 Todesfälle belegt. Es zeigte sich wieder die Lückenhaftigkeit der noch vorhandenen Unterlagen, denn drei der auf der Liste als verstorben mitgeteilten Personen sind in den überlieferten namentlichen Häftlingsaufstellungen nicht verzeichnet.

Henri Gourdier, Lager Bruttig, gelernter Uhrmacher, verstarb dort am 20. März 1944 im Alter von 36 Jahren angeblich an einer Grippe.

Jules Heidet, Lager Bruttig, verstarb dort am 28. März 1944 im Alter von 50 Jahren angeblich an einer Darmvergiftung.

René Quillem, Lager Bruttig, verstarb am 29. März 1944. Er war 36 Jahre alt. Todesursache: Herz- und Atemstillstand. Alle drei wurden auf dem Bruttiger Gemeindefriedhof hinter der Kirche verscharrt, im September 1949 exhumiert und vermutlich zur Bestattung in ihre Heimatorte überführt.

Am 27. März starb 31-jährig der Franzose Marcel Vernot, in Bruttig oder in Treis. Von Beruf war er Mechaniker gewesen.

Wie schon erwähnt, sind auf zwei Häftlingslisten ausschließlich N.N. Häftlinge aufgeführt. Die dritte Liste trägt den handschriftlichen Vermerk nicht N.N. Hierauf sind die Namen von 95 Personen aufgelistet, von denen 27 wieder durchgestrichen wurden. Am Ende der Liste war der Vermerk zu lesen 68 Häftlinge nicht N.N.

Streichungen einzelner Personen befinden sich auch auf den beiden anderen Listen mit N.N. Häftlingen. Über die Gründe der Streichungen äußerte sich der ehemalige Natzweiler-Häftling Ernest Gillen, den ich ja demnächst besuchen sollte, in einem späteren Schreiben an mich, das in Auszügen am Ende dieses Kapitels dokumentiert wird.

Aber zurück zur Aufstellung der Häftlinge nicht N.N. Es befinden sich darauf viele Reichsdeutsche, die als Berufsverbrecher, politische Gefangene, Asoziale, Zigeuner oder Homosexuelle bezeichnet werden. Andere werden als russische und polnische Kriegsgefangene oder sogenannte ausländische Zivilarbeiter geführt. Es befinden sich ein Belgier, ein Jugoslawe, ein Niederländer, ein Luxemburger und zwei Italiener darauf.

Angeführt wird die Liste von dem damals 23-jährigen Friedrich Ehlscheid. Er trug als einziger die Häftlingsbezeichnung SAW.

Ernest Gillen hatte ihn in Natzweiler kennengelernt.

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