Buch lesen: «Die Stimme des Atems»
Ernst Halter erinnert sich an seine Kindheit in der Kleinstadt Zofingen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sind sehr genaue und stimmungsreiche Erinnerungen an Schule und Krieg, an Stadtbewohner, Vorfälle und Unfälle, Spiele und Krankheiten, Fabriken, Bücher, an Freiheiten und Zwänge. Eingeschoben sind Artikel aus dem «Zofinger Tagblatt», die den öffentlichen Raum spiegeln, in dem sich das Kind bewegt.
Die Erinnerungen sind nicht eine nachträgliche Erzählung einer Identität, sondern bleiben als Wörterbuch fragmentarisch und offen. Durch das Verweissystem zwischen den Stichworten entsteht ein dichtes Netz an Bildern und Geschichten, die zur Geschichte eines Aufwachsens werden wie zur Chronik einer Epoche aus Kinderperspektive. Und gleichzeitig zur persönlichen Mitteilung über den Schmerz und das Glück zu leben.
«Was ich gelernt habe: Wie viel mir erspart geblieben oder nicht zugemutet worden ist. Unverdient.»
Foto Werner Erne
Ernst Halter, geboren 1938 Zofingen (AG), Schweiz
1958–1966 Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte in Genf und Zürich
1962–1963: Aufenthalt in England
1967–1968: Redaktionsassistent bei der Kulturzeitschrift «du»
1968–1969: Lektor des Verlags Fretz & Wasmuth, Zürich
1970–1985: Cheflektor des Verlags Orell Füssli, Zürich
ab 1986/87: freischaffend als Schriftsteller, Publizist und Herausgeber, Redaktor, Lektor, Berater beim Offizin Verlag, Zürich, auf den Gebieten Volkskunde, Photographie, Kulturgeschichte, Kunst
Ernst Halter war verheiratet mit der Lyrikerin und Schriftstellerin Erika Burkart (1922–2010. Er lebt in Aristau AG.
Ernst Halter
Die Stimme des Atems
Wörterbuch einer Kindheit
Limmat Verlag
Zürich
Die Koordinaten
Wie viele Richtungen braucht der Mensch? Vorne und hinten, links und rechts. Aus dem Gesicht, dem auglosen Hinterkopf und den ins Kreuz gestreckten Armen strahlen die vier Himmelsrichtungen und, eine Achtelsdrehung weiter, auch Südwest, Nordost, Südost und Nordwest. Nach unsrem Körper ordnet sich die Welt. Kann sich die Kardinalrichtung, die das Kind geprägt hat, je ändern? Unser Blick bleibt dort hängen, wo er festgemacht wurde; er spannt das Netz der Koordinaten, darin wir wandern.
Da steht ein Bub von elf Jahren auf einer Veranda, deren Geländer von Geranien und schwer duftenden Petunien überblüht ist; ihr Rot und Violett passt zum Holz des Hauses. Es liegt an einem Hang und ist mit dem Estrich und dem auf der Talseite ebenerdigen Kellergeschoss vier Stockwerke hoch. Der Junge schaut nach Süden; in seinem Rücken blinken die Fenster in der Mittagssonne. Nun lehnt er sich vor. Die mit grauen Granitplatten belegte Hausterrasse blendet herauf.
Oft, wenn ihn die Lust ankommt und weil es verboten ist, springt er von ihrer Stützmauer aufs Gartenparterre hinunter, ein Rasenrechteck, eingefasst von Blumenrabatten und Blütensträuchern und durch eine Hagebuchenhecke gegen den Vorgarten des Nachbarchalets abgeschirmt; dort haust der Steinalte. In einem Winkel ist der Sandhaufen angeschüttet. Hier duftet es feucht nach Wald, im Frühling blüht eine Forsythia über das spielende Kind weg, und ein morscher Buchsbaum wirft frösteligen Schatten.
Das Gartenparterre endet über einer weiteren Trockenmauer. Am Westeck dieser von Efeu verwachsenen Stützbastion ragt eine Scheinzypresse, ein Turm, aus dessen Gelassen selbst Sommertage nicht die herb duftende Dämmerung vertreiben. Sie hütet das doppelflüglige schmiedeeiserne Tor über dem Zugangsweg. Auf dem höheren der zwei Wipfel singt die Gartenamsel die Nacht herauf. Der Hang fällt nun zur Strasse ab. Hier blüht und fruchtet die Hostert des Alten. An einem verborgenen Ort gluckert ein Quellchen zwischen Felsbrocken unter dichtem Gebüsch und Farn in einen handtuchgrossen Weiher, ein Geheimnis, zu finden nur, wenn das Gras zwischen den Apfel- und Birnbäumen gemäht ist.
Der Blick des Buben wandert durch den schmalen Talgrund, lokker gestreute Apfelbäume. Der Gegenhang steigt auf, dicht bebaut: das Amslergut, dort kehren die Menschen der Sonne den Rücken zu; der Hang endet in einer Krete, auf der sich einige Häuser rittlings niedergelassen haben; ihre Sicht geht frei nach Süden, Westen und Norden. Dies ist der Finkenherd, und der Junge spürt leisen Neid: aufzuwachsen mit Blick nach drei Himmelsrichtungen!
Ein mit Bäumen gekrönter Hügel schliesst die Südsicht über die nähere Umgebung ab: der Heiternplatz, Festort und Aussichtspunkt der kleinen Stadt, ein mit uralten Linden umpflanzter ehemaliger Exerzierplatz. Die Lindenkronen lagern gleich grüngelben Gewitterwolken auf dem Hügel. Dahinter glimmert Schönwetterdunst, und erst über dem fernen schwarzen Dreieck des Napfs, wo die Wigger entspringt, die westlich der Stadt von Fabrik zu Fabrik fliesst, trifft der Bub wieder auf Vertrautes, die Berner Alpen aus bläulichem Glas, und jeder Gipfel trägt einen Namen. Erst die Wetterhorngruppe. Ihr gegenüber am sonnenverbrannten Südhang des Haslitals liegt das Dorf Hohfluh, wo er die Sommer- oder Herbstferien verbringt. Höher ragt die Schreckhorngruppe, anschliessend die drei Klötze von Eiger, Mönch und Jungfrau und, im Mittagsglast kaum mehr vom Himmel zu unterscheiden, das Breithorn. Dann schliesst der finster gehörnte Pilatus die Ferne zu. Der Bub blinzelt in die Mittagssonne. Ja, er steht richtig in der Welt: südwärts, alpenwärts, der Sonne entgegen.
Obwohl ich erst mit fünf Jahren, als die Eltern das Haus am Hang über der kleinen Industriestadt Zofingen kauften, in dieses Koordinatennetz gestellt worden bin, orientiere ich mich stets nach Süden, und gleich rückt die Geographie des Orts, die Lage eines Hauses ins Lot und ordnet sich in den Kompass meines Lebens. Ich werde nie dorthin auswandern, wo die Sonne im Norden steht. Australien ist die verkehrte Welt.
Der Bub schaut nach Westen; diese Richtung ist verkrüppelt. Ein Nachbarhaus verdeckt zum Teil die Sicht. Die meisten Sonnenuntergänge finden hinter seinem Dach statt. Nur im Spätherbst und Winter verlagern sie sich über die Hochkamine draussen in der Wiggerebene zum schwarzen Turm der Scheinzypresse hin. Dann feiert die Sonne als riesige Brandröte, die mit dem Verblassen des Lichts über den fernen Waldhügeln immer breiter wird und kurz vor dem Erlöschen den halben Himmel mit Rosenschein sättigt.
Osten ist offen; denn zum Besitz der Eltern gehört ein zweiter Gartenteil, quer zum Hang. Hier krautet das Gemüse. Auch der Ostgarten ist terrassiert, zuoberst stehen zwei Kirschbäume. Es folgen verstreute Dächer unter Bäumen, dann buckeln die alten Buchen der grossen Wälder hinten im Tal einen dunkelgrünen Horizont. In ihrer Tiefe geschieht nichts. Vögel fiepen in die Stille, die Sonne steigt auf und versinkt, und nachts fahren die Sternbilder über die schwarzen Baumkronen hin; die Bäche furchen sich in die Sandsteinhänge, so langsam, dass man hunderttausend Jahre schlafen müsste, um sich nicht mehr auszukennen. Geht er durch die Wälder, drehen sich die Wipfel lautlos über ihm, das Wild flieht, und sein Herumstrolchen ist die einzige fremde Bewegung.
Russland, das Land der grössten Wälder, liegt im Osten. Wenn der Junge sich nach Russland denkt, sinken die Täler zwischen hier und dort tiefer in die Erde, sie vereinsamen unter dem hohen, weiten Sprung seiner Vorstellung. Erst das Uerketal, das er zu Fuss in etwa zwei Stunden erreicht. Tritt er vor Neudorf aus dem Schatten der Bäume, sieht er nichts als Wald, denn die Täler sind jedes vom nächsten durch einen von Norden nach Süden streichenden blauen Höhenzug getrennt. Im Heimatkundeunterricht hat er sie auswendig gelernt: Suhrental, Ruedertal, Wynental, Seetal, Bünztal, Reusstal und Limmattal. An schönen Abenden färbt sich der Osthimmel schiefergrau, dann möchte der Junge fortgehen unter die herauffahrende Nacht, sich in die Wälder schlagen, so fern und tief, dass niemand ihn mehr finden wird. Er wird Parzivals Rüstung tragen und der Prinzessin im roten Zelt am Bach begegnen; miteinander werden sie nach Osten weiterreiten, nach Russland und Sibirien; in den Namen seiner Städte kracht und birst das Eis: Tomsk, Omsk, Krassnojarsk, Irkutsk, Werchojansk.
Und was ist Norden? Ein Grashang mit Obstbäumen, darin der Blick steckenbleibt. Hebt er die Augen, kommt eine grünlich getünchte Villa in Sicht, dahinter Bäume und Himmel. Norden ist kalt und aussichtslos. Die Deutschen leben dort. Zwar spricht er dieselbe Sprache, doch in Gedanken macht er einen Bogen um ihr Land. Vater und Mutter geben ihnen die Schuld am Krieg. Seine Tante, die bei guten Deutschen gearbeitet hat, fordert Gerechtigkeit für die Unschuldigen und Mutigen, die Frauen und Kinder. Norden ist mit Recht im Hinterkopf. Und reitet der Bub auf Nils Holgerssons Gänserich nach Lappland, dreht er sich um, südwärts, in eine Sonne, die rot und tief über dem Horizont steht.
Ein halbes Jahrhundert später bin ich auch im Norden heimischer geworden und weiss, dass Glück zu haben in Ort und Zeit kein Verdienst ist. Doch die Kardinalrichtung meines Lebens hat sich nicht geändert. Ich erinnere mich an Gespräche meiner Eltern mit Gästen. Von Venedig, Mailand, Ravenna, Pisa und Florenz war die Rede. Diese Städte waren mir wirklich wie Fabriken und Wälder; ihre Schönheit wachte in Büchern und Mappen, unverrückbar. Dorthin gehörte ich. Wenn ich von Florenz südwärts reiste, würde ich nach Rom kommen. In der Sixtinischen Kapelle stellte ein Fresko die Erschaffung des ersten Menschen dar. Ein Tafelwerk über diese Sixtinische Kapelle lag bei den Kunstbüchern im Schrank mit den Glastüren. Und im Hausflur hing das Bild, auf dem aus Gottes ausgestrecktem Zeigefinger der unsichtbare Geistfunke in den Finger des sich im Erwachen aufrichtenden Adam überspringt. Ich habe mit elf nicht mehr an die Schöpfungsgeschichte geglaubt. Und doch sprach das Bild in der Sixtinischen Kapelle die Wahrheit.
Denn es gibt noch zwei weitere Richtungen: oben und unten.
I. Erste Bilder
Wegfahren
Kreisrunder Ausschnitt, der Grund dunkelbraun, weich im Gefühl, ein Teppich wohl; auf dem braunen eine gelbe Spielzeuglokomotive, Holz, hinter ihr zwei oder drei gelbe Eisenbahnwägelchen. Ich schiebe die Lok langsam über die braune Fläche, der Ausschnitt wandert mit, hinterher rollen gemächlich die Wägelchen. Ich schiebe, die Lok zieht, die Wagen gehorchen. Schieben ziehen, Gefühl von sanfter brauner Weite nach allen Seiten, Behagen, überallhin freie Fahrt. Weit, weit weg.
(Lok und Wägelchen haben nie zu meinen Spielsachen gehört. Das Bild datiert aus dem zweiten Lebensjahr und ist anlässlich eines Besuchs eingelagert worden.)
→Eisenbahn →Waldbahn
Der Geruch
Unter Bäumen im Ausgangswagen auf einem breiten Gehsteig, Sonne wechselt mit Schatten, auf der einen Seite eine asphaltierte Strasse, weit, leer, auf der andern Mauern, über sie, auf den Gehsteig hängend, blühende Büsche, Farben und Duft. Plötzlich geht das Licht aus, mir ist, die Sonne sei vom Himmel gefallen. Ein widriger, aufdringlich süsser, klebriger Gestank trübt die Luft und bedroht mich. Ich werde unruhig, will fort aus der Geruchsschwade, die mich verschluckt hat. Kann nicht. Doch schon scheint wieder die klare Sonne, Mutter, Vater, Geschwister spazieren heiter, friedlich, als ob wir nicht soeben einer grossen Gefahr entronnen wären. Sie heisst «Samengeruch».
(Drittes Lebensjahr. Die Erinnerung schlummert während Jahren, wird eines heissen Sommertags aufgestört; diesmal dringt der Geruch aus dem weiten Garten einer Villa, wieder das Grauen, der Fluchtimpuls. Viel später finde ich heraus, dass er von den saftklebrigen, dampfend schlappen Johannistrieben der Pappeln verströmt wird. Meine Reaktion auf diese übermächtige, künstlich gesüsste Ausdünstung bleibt dieselbe. Warum «Samengeruch»? Ich weiss es nicht.)
→Abwässer →Fabrikgerüche →Gestank →Tinte
Holzbär
Den rechten Arm weit vorgestreckt, in der Hand einen spannenlangen geschnitzten Holzbären, gehe ich durch die finstere Küche auf den Abort. Dort erledige ich das Geschäft, ergreife den Bären auf dem Fenstersims, ziehe am Holzgriff der Kette zum Spülkasten, ein bedrohlich tosender Wasserguss, ich reisse die Tür auf, schlage sie zu und taste mich, eine Armeslänge hinter dem Tier her, durchs Küchendunkel ins Wohnzimmer zurück.
(Drittes Lebensjahr. Ich wurde meine Angst vor dem Dämmer in der Küche und der Wucht der Spülung aus dem hoch oben an der Wand angebrachten Kasten nicht los. Die Mutter, müde, mich zu begleiten und mir beim Herunterlassen des Hosenladens zuzusehen, drückte mir den Holzbären in die Hand: er werde mich vor dem schwarzen Mann in der Küche beschützen und dafür sorgen, dass das Wasser nicht über den Rand der WC-Schüssel steige und mich in die Kanalisation hinunterspüle. Ich glaubte ihr ohne Wanken.
Ich wiederhole die Übung einige Male, dann ist die Furcht überwunden, und der Bär, seiner magischen Macht beraubt, verschwindet in einer Spielzeugschachtel; eine Brienzer Schnitzerei.)
→Abwässer →Das Bärlein →Erste Heimlichkeit
Erwachen mit drei Jahren
Sonnenlicht sintert durch Vorhänge ins Zimmer. Ich liege im weissen Gitterbett an der Hinterwand; die Betten meiner Geschwister stehen, etwas abgerückt von den Fenstern, an den Seitenwänden des Raums. Bald wird die Mutter kommen; ich liege still in meiner pochenden Erwartung und blicke auf die Tür ein paar Schritt vom Fussende des Bettchens. Draussen vor den Fenstern läuten Glocken; Sonne und Kirchengeläut sagen: Heut ist Sonntag.
Die Tür öffnet sich. Die Mutter geht quer durchs Zimmer, zieht die Vorhänge zurück, das Licht im Raum wird warm. Sie kommt auf mich zu, beugt sich lächelnd über die weissgestrichenen Holzstäbe des Gitters: Schnuusserli, itz weimer uuf (Flitzerchen, nun wollen wir aufstehen). Hast du gut geschlafen? Sie streichelt mir über beide Wangen, dann klinkt sie das Gitter aus und kippt es weg. Ganz nahe kommt sie, legt ihre Arme um mich und hebt mich hoch. Wir geben uns Küsse. Setzt sie mich auf den Bettrand? Stellt sie mich auf den Boden? Mich füllt Atem von Glück, Licht, Geläut. Es flimmert und blendet vor den Fenstern und auf dem Zimmerboden. Aufstehen, Gewaschenwerden, Honigbutterbrot, Kakao, alles miteinander möglichst schnell. In den Garten rennen, in die Sonne, zu den Goldfischen.
→Der weisse Pullover →Schneekönigin →Waschtag
Dr. med. Ginella
Entdeckt er mich im Garten, ruft er, ich laufe zu ihm hin, er hebt mich vom Boden hoch, herzt und küsst mich, überschüttet mich mit Kosenamen. Hat er Zeit, führt er mich an der Hand zum Springbrunnen und zeigt mir die Goldfische, die aus dem Schatten in die Sonne, aus der Sonne in den Schatten zucken, aufblitzend, erlöschend, geheimnisfarben. Ich liebe ihn; er steckt voller Zärtlichkeiten und Kleinigkeiten: Bald kramt er ein leeres Fläschchen aus seiner Tasche, bald ein Tierlein oder ein Bildchen.
Dass er Arzt ist, sagt mir sein Wagen; nur Ärzte dürfen Auto fahren. Über der Hinterachse ist ein Stehkessel montiert, Holzvergaser geheissen. Dr. Ginella lässt mich auf seinen runden Schultern zum Gartentor reiten, tritt hindurch. Linker Hand ist die Garage, rechter Hand hoch über mir sind die Nordfenster und die Terrassen der Wohnung im Obergeschoss, wo ich zu Hause bin. Ein verkrauteter Hof, Karrengleise und Kies. Dahinter ducken sich Herrn Aeschbachs Scheune und Stall. Drin steht Bobi, sein Pferd, das weisse Papierflocken frisst, «Zellulose», Ersatzheu, weiss ich; Pferdemägen können Zellulose verdauen. Diese Flocken werden von Maschinen hergestellt, aus Holz, um den Hafer zu strecken, denn es ist Krieg. Bobi frisst auch gelbes Heu; doch wenn der Bauer das Futter von hinten in den Trog schüttet, sticht mir im Halbdunkel des Stalls der Flockenschnee in die Augen.
Dr. Ginella stellt mich auf den Kies; ein letzter Kosename, für mich allein erfunden: Häärzchäberli. Bereits sitzt er im Wagen. Im Wegfahren winkt er, und ich winke und lache zurück. Ich drehe mich um, trete durchs Törchen in den Garten und schlage mich irgendwo im Hintergrund, wo er, von Obstbäumen in hohem Gras verschattet, ans Bahnhofsgelände stösst, in die Büsche. Auf den Gleisen schnupft und pfupft ein Glettiiseli, eine der kleinen zweiachsigen Verschiebeloks.
(Viertes Lebensjahr. Verschwunden der Garten, längst abgerissen Doktorhaus und Bauernhof. An ihrer Stelle stehen heute eine Bank und ein Supermarkt.)
→Alarmsirene und Schlachthaus →Der Grossvater
Zofinger Tagblatt, 1. Mai 1941
Fahrverbot für Automobile
Besessenheit
Ich bin vier oder fünf. Im Spiel fragt mich der Bruder: Was wosch lieber, es guldigs Nüüteli oder es silberigs Waarteli? Dabei hält er beide Hände hinter den Rücken. Ich will das goldene. Er holt die Rechte, zur Faust geschlossen, hervor, ich darf sie öffnen: nichts. Nun, so begnüge ich mich mit dem silbernen. Er holt die linke Hand hervor: wieder nichts. Betrogen! Der Schmerz lässt mich nicht ruhen, bis ich ihn im Traum wettmache.
Meine Eltern haben mir zum Geburtstag ein kleines Beil geschenkt – aus purem Gold. Mich überschwemmt atemloses Glück. Ich trage das Beil im Gürtel. Ich spalte kein Holz damit, denn es ist Zeichen, Würde und Waffe, eine unantastbare Seligkeit. Wenn ich es betrachte oder schwinge, gehe ich in der matt glimmenden Makellosigkeit des Goldes auf. Am Abend lege ich das Wunderding auf den Nachttisch – und erwache. Ich taste im Morgenlicht danach und finde nichts, suche im Bett, unter dem Bett. Mir dämmert, dass ich geträumt habe. Die Trauer über diese Beraubung verschattet mich wochenlang.
Mit sechs Jahren entdecke ich im Taschenkalender des Vaters die vier Mondphasensymbole: schwarze Scheibe mit eingezeichnetem Schlafgesicht für Neumond, senkrecht gestellter Türkenmond, nach links mit lachendem hellem, nach rechts mit griesgrämigem dunklem Gesicht für die zu- oder abnehmende Phase, heller Kreis mit lachendem Gesicht für Vollmond. Sogleich besetzen die Halbmonde meine Vorstellung in einem Mass, dass ich sie in jedem Gegenstand suche und das Bilderbuch vom Mond, der seine Fülle dem Wassermann verkauft, um jede Nacht dessen Gesang lauschen zu können, für kurze Zeit mein Liebling ist. Meine Zeichnungen von Wunderblumen bestücke ich mit Halbmonden; im Schlaf senken sich Monde golden leuchtend zu mir herab und umkreisen mich.
Die kleine Welt meiner Erfahrungen tritt unter den Aspekt des Mondes; er steckt verborgen in allen Formen, ich versenke mich in den Lach- und den Greinmond, begegne dem Gestirn, das meinen Schlaf behütet, in meinen und andrer halbmondförmigen Augen, in Schatten und Sonnenkringeln, Mailänder Backwerk, Anisbrötchen, im Flug der Vögel. Wonne erfüllt mich bei jeder Entdeckung eines weiteren Mondverwandten, als hättʼ ich plötzlich ein Rätsel, mir bisher unbewusst, gelöst.
→Astronomie →Der Bruder →Der weisse Pullover →Statistik
Lumpe legge
Mitgefiebert habe ich, doch in lebhafter oder fröhlicher Erinnerung ist mir kein Kinderspiel.
– Beim Lumpe legge stellte man sich im Kreis auf, blickte einwärts, jemand zählte an, und wen das letzte Wort traf, der lief aussen herum und liess im Rücken eines der im Kreis Stehenden ein Pfand, etwa sein Taschentuch, fallen. Merkte der Beschenkte dies nicht, bevor der Läufer seinen Platz im Kreis wieder eingenommen hatte, musste er das Pfand auflesen und seinerseits aussen herum rennen, um jemand andern zu überlisten. Ich mochte das Spiel nicht, fand es heimtückisch, hasste es, zwischen den zerkratzten Beinen hinter mich zu schielen.
– Unter den Anzählreimen ist mir Ääne dääne dio dee/dio dee di Salomee/Salomee di ggadigga/ggadigga di ggompsa der erste und unvergänglich geblieben, weil ich später erfahren habe, dass im ersten Vers die keltischen Zahlen eins bis vier stecken. Also haben schon die Kinder der Helvetier vor siebzig Generationen diesen Anzählreim heruntergeleiert und mit schmutzigen Fingerchen aufeinander gezeigt – und da hat es mir geschwindelt. Wie ist er damals zu Ende gegangen? Gewiss weder biblisch noch französisch.
– Spielte man Versteckis, legte einer die Hände vors Gesicht und zählte langsam und laut, die andern rannten. Zwanzig, und die Suche begann. Wer zuerst gefunden wurde, hatte die nächste Frist auszuzählen. War der Suchende ausserstande, jemanden aus dem Busch zu klopfen, rief er gedemütigt die Mitspieler aus den Verstecken und musste wieder den Polizisten machen.
– zZiggi war ein Fangespiel, wo der Schnellere immer der Jäger und Angst der Stolz des Wilds war. War ich in die Enge getrieben und presste mich verzweifelt gegen einen Zaun oder ins Gebüsch, berührte mich der Schlag auf die Schulter wie ein kleiner Tod, auch sagt mir eine schwache Erinnerung, beim Ziggi hätten wir mitunter gleich Katzen mehrere Leben mit uns getragen.
Solche Spiele waren mir zuwider wie später das Schnellrechnen in der Schule. Heute scheint mir, dass derlei todernst wie die Kindheit selbst gemeint war, weder Spiel noch Befreiung, auch wenn Niederlagen nicht mit dem Leben, sondern nur mit Fluchten über schwankende Leitern in Alpträumen bezahlt werden mussten.
→Ersticken →Langweil →Schulschock