rüffer&rub visionär / Jeder Tropfen zählt

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Aus der Reihe: rüffer&rub visionär #2
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»Wäre ich Beckenschwimmer gewesen, gäbe es mich als Expeditionsschwimmer nicht«

Die Olympischen Spielen oder die Tour de France als Höhepunkte des Spitzensports faszinierten mich als Kind und Jugendlichen. Nicht die mediale Welt, das Geld oder der Ruhm brachten mich zum Träumen, sondern die Schönheit der Athletik, gepaart mit der Härte und Besessenheit der Athletinnen und Athleten. Diese Faszination ist mir bis heute geblieben und war ein wichtiger Antrieb, dass ich den Weg des Sportstudiums und die Ausbildung zum Spitzensporttrainer gewählt hatte. Die Welt des Spitzensports konnte mich aber nicht aus- und erfüllen. Christof Gertsch, Schweizer Sportjournalist des Jahres 2014 und 2015, und ich sind der Frage nachgegangen, warum der Spitzensport mir nicht alles gab, und ich dem Weg des Wasserbotschafters folgte:

Christof Gertsch: Ist nicht alles, was es zu schwimmen gibt, längst geschwommen? Das kälteste Wasser, der längste Fluss, die stürmischste See: Mich dünkt, alles sei gemacht. | Ernst Bromeis: Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt noch so viel zu schwimmen auf diesem Planeten. Aber es erstaunt mich nicht, dass Sie diesen Eindruck haben. Lewis Gordon Pugh, einer der bekanntesten Extremschwimmer der Welt, hat in einem »Forbes«-Interview gesagt: »We’ve hit all of the world’s major landmarks. There’s really nothing left.«

Er hat unrecht? | Ich sage nicht, dass Schwimmer wie Pugh nicht extreme Leistungen vollbringen. Aber das, was sie tun, ist für mich eben auch eine Art Zirkusschwimmen. Sie halten sich an diese Regeln, die sich meistens an jenen der Channel Swimming Association orientieren: die Größe der Badehose, das Begleitschiff, solche Vorgaben – aber sie denken nicht darüber hinaus. Ich halte die Open-Water-Szene für sehr konservativ. Diese blöden Rekorde, ein Kilometer bei eingrädigem Wasser, 500 Meter bei Minustemperaturen – das sind nur Variationen des immer Gleichen. Wenn wir uns nur an dem festhalten, was vorgegeben ist, bringen wir das Schwimmen nicht weiter. Was ich suche ist die Expedition und die Exploration, das heißt, das Erforschen meines Innern.

Wenn Sie sich der klassischen Messbarkeit und Vergleichbarkeit des Sports zu entziehen versuchen – sehen Sie sich dann vielleicht eher als Freestyle- denn als Extremschwimmer? | Das ist ein wichtiger Punkt. Schauen Sie sich nur die Alpinisten an. Die könnten sich ja zu zweit unten an eine Wand stellen und gegeneinander antreten, und schon hätten sie den direkten Vergleich. Das wäre Sport und medial sicher gut verwertbar. Aber sie machen es nicht. Sie wollen es nicht. Es ist für sie eine Frage des Stils. Ich verfolge einen ähnlichen Ansatz. Das absolut Messbare, Vergleichbare des Kletterns – das findet in den Hallen statt, an künstlichen Wänden, und eben nicht im Freien, nicht am Berg. Ich suche das Kompromisslose wie die Kletterer. Ich – ein Freestyle-Schwimmer? Vielleicht haben Sie recht. Wie der Free-Solo-Kletterer: Er, die Wand, sonst nichts.

Sie, das Wasser, sonst nichts. | Genau. Nichts, auch kein Begleitboot.

Aber so weit sind Sie noch nicht. | Nein. Und vielleicht werde ich nie so weit sein. Ein Begleitboot ist wie eine Alpenclub-Hütte, du weißt, dass du notfalls in Sicherheit bist. Das wahre Exponiertsein wäre, ohne Begleitboot zu schwimmen. Bei der Expedition in Graubünden habe ich das über weite Strecken gemacht. Doch die Seen waren in der Dimension nicht vergleichbar mit den größten Süßwasserseen der Welt ...

Ist es wirklich das, wonach Sie streben – das wahre Exponiertsein? | Ich sage das primär, um zu zeigen, dass noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Zuallererst geht es mir um etwas anderes: Um die Dauer der Expedition, das Extreme des Unterwegsseins, um ein wochen- oder monatelanges Abenteuer. Mich reizt der Ladogasee in Russland: 83 Kilometer breit, 219 Kilometer lang, der größte See Europas – meines Wissens hat ihn noch niemand durchschwommen. Oder der Baikalsee in Asien, das »heilige Meer«: Mehr als 600 Kilometer, mitten in der Wildnis. Free-Solo wäre wohl nur auf den 90 Kilometern Seebreite machbar. Aber den See ohne Begleitung längs zu schwimmen, wäre ein denkbares Abenteuer. Neuland. Das ist absolute Einsamkeit. Jemand wird es mal wagen.

Die Sponsoren, die Medienaufmerksamkeit, anfänglich zudem die Etappenpläne – gehen Sie mit mir einig, wenn ich sage, dass darin eine gewisse Ambivalenz steckt? Zum einen suchen Sie das Kompromisslose, Eigene, Andere. Und zum anderen enthalten ihre Expeditionen halt doch ein gewisses Maß an Marketing. | Ja, das ist ein Widerspruch. Einerseits versuche ich, neue Wege zu finden. Andererseits gehe ich Kompromisse ein, damit sich die Projekte finanziell irgendwie auszahlen. Als ich anfing, mir mein zweites Leben als Expeditionsschwimmer aufzubauen, war klar, dass das mein Beruf sein sollte. Ich wollte nicht einem normalen Job nachgehen und nebenbei Schwimmer sein. Heute bedeutet das, dass ich mich manchmal von meinem Ideal entfernen muss. Ich muss mich jedes Mal fragen: Was sind meine Wertvorstellungen? Welche sind mir wirklich wichtig? Wo kann ich gegenüber Sponsoren nachgeben, damit es mich am wenigsten schmerzt? Und wie kann ich meine selbst auferlegte Aufgabe als Wasserbotschafter einbringen?

Das Kompromissloseste wäre, ans Ufer zu stehen, loszuschwimmen, am anderen Ufer auszusteigen – und niemandem davon zu erzählen. Vielleicht Ihrer Frau, Ihren Kindern, aber sonst niemandem. | Das mag stimmen. Und Sie mögen mir Selbstverliebtheit unterstellen ...

... was ich nicht tue. | Es wäre auch falsch. Ich sehe es so: Die Menschen, die mich zu meinem Weg inspiriert haben, all die Abenteurer der letzten Jahrzehnte – von ihnen habe ich ja auch nur erfahren, weil sie bereit waren, ihre Geschichten in Filmen, Zeitungsartikeln, Büchern zu erzählen. Ich finde es schön, diese Geschichten erzählt zu bekommen. Wenn nie ein Abenteurer seine Geschichte nach außen getragen hätte, stünden wir, na ja, nicht gerade am Anfang der Zivilisation, aber doch an einem sehr anderen Ort der Entwicklung, als wir es jetzt sind. Und das wäre schade. Natürlich frage ich mich, wie weit sich Vermarktung treiben lässt. Funktioniert die Geschichte nur noch wie bei Felix Baumgartner, wenn jemand mithilfe von extremem Marketing einen Sprung aus dem All macht? Oder wie bei Bertrand Piccard und seinem Projekt »Solar Impulse«, wenn es rund 170 Millionen Franken kostet? Ich hoffe, dass es einen Zwischenweg gibt, damit ich weiterhin als Wasserbotschafter die Menschen auf das kostbare und gefährdete Gut Wasser aufmerksam machen kann.

Angesichts der Energie, die Sie fürs Schwimmen aufwenden, und der Kraft, mit der Sie sich fürs Wasser einsetzen, kann ich es kaum glauben, dass Sie keine Vergangenheit als Schwimmer haben. Sie waren als Jugendlicher wirklich nie Beckenschwimmer? | Wenn ich Beckenschwimmer gewesen wäre, gäbe es mich als Expeditionsschwimmer heute nicht.

Warum nicht? | Weil ich als Beckenschwimmer nie auf die Idee gekommen wäre, dass Schwimmen viel mehr sein kann als Längen- und Kachelzählen, oder als Chlor in Haar und Nase. Ich habe mich lange genug im Umfeld des Spitzensports aufgehalten, um zu wissen, dass das eine Welt ist, die dich einengt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Spitzensport fasziniert mich. Diese Athletik, diese Energie – das beeindruckt mich. Der Spitzensport ist aber eben auch der Ort, wo es zuallererst um Disziplin geht. Der Spitzensport als Galeere, alles ist uniform, alle sind diszipliniert, alles ist Unterwerfung und Hierarchie, und am Ende richtet der Medaillenspiegel über Erfolg und Misserfolg. Das ist nicht meine Welt. Es ist kaum ein Zufall, dass man einst von Leibesübungen sprach und dass der Sport auch heute noch dem Militärdepartement angegliedert ist. Die Schönheit der Bewegung, diese Kunst des puren Sporttreibens – das wird pervertiert und missbraucht: Doping, Korruption. Der Spitzensport befindet sich in einer Sackgasse. Es geht ihm wie dem Schneesport in den Alpen: Jahrzehntelang hat das Geschäftsmodell funktioniert, und jetzt kommt die Klimaerwärmung, und man weiß nicht weiter.

Der Spitzensport wird sich kaum von innen heraus erneuern. | Ich weiß, dass das keine neue Erkenntnis ist – aber darum ist sie nicht weniger wahr: Der Spitzensport ist eine Parallelwelt. Wer dabei sein will, hat sich den Regeln des Spitzensports zu unterwerfen. Und wer sich den Regeln nicht unterwirft, ist nicht dabei.

Es ist im Spitzensport kaum Platz für eigene Wege. Alles ist vorgegeben, auf alles gibt dir das System eine Antwort. Du machst, was alle anderen machen. Und wenn du es anders machst, weil du der Glückliche mit dem vielen Talent bist und das System dir deinen eigenen Weg zugesteht, musst du am Ende noch als vermeintlicher Beleg dafür hinhalten, dass das System eben doch nicht so starr sei, wie manche sagen. | Es ist in diesem System nicht möglich, von außen reinzukommen und zu sagen: »So, jetzt machen wir’s anders. Jetzt verändern wir mal was.« Das geht nicht. Wer es anders machen will, muss austreten. Das ist in anderen Bereichen des Lebens genau dasselbe, im Bankwesen zum Beispiel. Aber jetzt driften wir ab.

Überhaupt nicht. Genau das haben Sie doch getan: Sie haben eine Stellenanzeige aufgegeben, sich als Einziger darauf beworben – und den Job erhalten. Den Job des Wasserbotschafters. | Stimmt. Aber das macht mich eben auch angreifbar.

Inwiefern? | Die Leute sagen, ich mache das nur, weil ich im Spitzensport nicht reüssiert habe.

Das sagen die Leute wirklich? | Nicht direkt, aber hintenrum. Dabei suchte ich schon zu Zeiten meiner Ausbildung als Spitzensporttrainer den Weg vielmehr in der Bewegungskunst. Ich habe nun meine Kunst weiterentwickelt und lebe nun das Zusammenspiel philosophisch und mit dem Anspruch als Wasserbotschafter.

 

Und was sagen die Spitzensportler? | Im April vor der ersten Rhein-Expedition 2012 gab es einen Medienanlass mit zwei französischen Spitzenschwimmern in den Thermen Vals und im Grand Canyon des Rheins in Graubünden. Camille Muffat4 und Yannik Agnel5 wurden ein paar Wochen später in London im 50-m-Becken beide Olympiasieger. Als Agnel von Journalisten gefragt wurde, ob er auch gerne den Rhein schwimmen würde, meinte er: »Jamais. Nie würde ich so was wagen. Viel zu gefährlich, viel zu kalt, viel zu lange. Jamais.« – Er war aber von der Poesie und der Mission fasziniert.

Wenn Sie den Weg des absolut Kompromisslosen gingen, wenn Sie ins Wasser springen, losschwimmen, am anderen Ufer aussteigen und niemandem davon erzählen würden – dann könnte es Ihnen egal sein, was die Leute sagen. | Ich will ja gar nicht, dass es mir egal ist. Und vor allem will ich nicht, dass es egal ist, was ich tue. Ich sehe mich wirklich nicht als Propheten oder so was, bewahre!, aber ich glaube, dass Projekte, wie ich sie verfolge, neue Wege aufzeigen können. Das ist nicht als Angriff auf den Spitzensport gemeint, aber vielleicht als Alternative. Spitzensport ist nicht alles. Wir haben einen Körper und einen Geist. Wir sind Menschen. Vielleicht bringt es einen Beckenschwimmer, der mit 5 Jahren zu schwimmen begonnen hat und mit 18 keine Lust mehr hat, dazu, dass er die Schönheit des Schwimmens wiederentdeckt: Draußen, wo das Schwimmen etwas derart Wundervolles sein kann. Das Schwimmen als eigene Idee und Ausdruck einer Mission und Kunst. Das Schwimmen als Poesie und Berufung des Wasserbotschafters, dafür setze ich mich ein.

Weshalb braucht Wasser unseren Schutz?

Wir müssen das Wasser nicht schützen. Wir müssen die Erde nicht schützen. Das Wasser fließt und die Erde dreht sich auch ohne unseren Schutz weiter. Allerdings: Wir müssen das Wasser schützen, wenn wir das Leben bewahren wollen.

Dabei ist es für die Wasserdürstenden keinen Trost zu wissen, dass es unter der Antarktis riesige Vorkommen an fossilem Wasser gibt6 oder dass es auf dem Mars Wasser im Überfluss geben soll. Die Wissenschaft findet das hoch spannend, doch wird so unser Fokus auf Science-Fiction gelenkt und nicht auf die realen Probleme vor Ort. Es stellt sich für mich schon die Frage, ob die Millionen an Forschungsgeldern für ferne Wassersuchmissionen aufgewendet werden sollen, ob nach Leben auf dem Mars gesucht werden soll oder ob das Geld doch vielmehr auf unserem Planeten und in unsere Spezies investiert werden könnte. Denn die Wasserherausforderungen dieser Welt sind größer und tiefer als der größte Ozean. Sie tangieren unser Leben auf völlig unterschiedliche Art und Weise und sind je nach geografischer Lage von unterschiedlicher Dimension. Die Wasserthemen lassen sich meiner Meinung nach auf folgende vier Nenner bringen:

-Wasser ist Existenz

-Wasser ist Lebensrecht

-Wasser ist klimarelevant

-Wasser ist zerstörbar

Wasser ist Existenz

Wasser ist die Grundlage des Lebens. Ohne Wasser gibt es weder Pflanzen, Tiere noch Menschen, und auch keine Landwirtschaft und Industrie. Die Erdfläche besteht zwar aus etwa 71% Wasserfläche,7 und man könnte deshalb folgern, dass es mehr als genug Wasser für alle Menschen gibt. 97% des Wassers ist jedoch so salzig, dass es von den Menschen nicht verzehrt werden kann, 2% ist in gefrorenem Zustand in den Eiskappen der Pole und in Gletschern oder in unzugänglichen Grundwasserschichten vorhanden. Es bleibt für den Menschen und alle Organismen, die im Süßwasser oder an Land leben, noch 1%.8 Als Trinkwasser sind 0,3% der weltweiten Wasservorräte verfügbar, das heißt 3,6 Millionen Kubikkilometer können als Trinkwasser verwendet werden.9

Die Schweiz gilt als Wasserschloss Europas. Die Fläche der Schweiz beträgt nur 0,4% Europas, doch 6% der Süßwasservorräte Europas sind hier zu finden.10 Das Land hat rund 1500 Seen11 und unzählige Bäche und Flüsse. Mehrere Quellen von großen Flüssen Europas sind auf schweizerischem Gebiet. Die Wasserressourcen sind ausreichend; der Bedarf an Trink-, Brauch- und Löschwasser der ganzen Schweiz wird durch 2% des jährlichen Niederschlags abgedeckt.12 Experten sind der Meinung, dass auch in Zukunft die Wassermenge in der Schweiz kein Problem sein sollte.13 Doch durch die intensive Nutzung des Gewässerraums und die zunehmende Überbauung des Bodens werden unbelastete Flächen, wo sich sauberes Grundwasser fördern lässt, zunehmend knapp. Im Mittelland und den großen Alpentälern fällt es den Wasserversorgern immer schwerer, die für die Trinkwasserversorgung erforderlichen Freiflächen zu sichern. Trotz des gefühlten Überflusses an Wasser müssen auch in der Schweiz die Trinkwasserressourcen für die Zukunft geschützt und gegen andere Interessen verteidigt werden.14

Jeder Einwohner der Schweiz braucht pro Tag zum Trinken, Kochen, Waschen und Reinigen 162 Liter Trinkwasser. Der Verbrauch von Trinkwasser aus der Schweiz sinkt seit Jahren. 1990 wurden inklusive Industrie pro Bewohner rechnerisch rund 500 Liter pro Tag verbraucht. 2013 waren es noch 300 Liter. Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass die Bevölkerung sensibilisiert wurde und viele Geräte wie Spül- und Waschmaschinen weniger Wasser verbrauchen. Andererseits werden immer mehr Güter importiert und viele Industriebetriebe, die große Mengen an Wasser zur Herstellung ihrer Produkte benötigen, haben ihre Produktion ins Ausland verlegt.15 Werden wasserintensive Produkte in die Schweiz eingeführt, spricht man vom Import »virtuellen Wassers«. Bei Herrn und Frau Schweizer summiert sich diese Menge auf täglich 4000 Liter »virtuelles Wasser« pro Person, etwa das 25-Fache des häuslichen Verbrauchs. Natürlich ist dieses Wasser nicht mehr in den konsumierten Waren enthalten, verantwortlich für seinen Verbrauch, d.h. seine Verschmutzung oder Verdunstung bei der Produktion im Ausland, sind wir aber doch.

In Deutschland betrug 2013 der durchschnittliche Tagesverbrauch von Trinkwasser 121 Liter pro Kopf. Davon wurden lediglich 4% für Essen und Trinken verwendet. Den höchsten Anteil wurde für die Körperpflege (Baden, Duschen, 36%) und für die Toilettenspülung (27%) gebraucht. Für die Herstellung von Kleidern, Bedarfsgütern und Lebensmitteln wurden zusätzlich 3900 Liter pro Person und Tag benötigt.16 Der weltweite Durchschnitt des Wasserverbrauchs pro Tag und Kopf beträgt rund 3795 Liter.17

Es gibt keinen einzigen Lebensbereich ohne Wasser. Ohne Wasser lassen sich weder Gemüse noch Früchte anbauen, noch wäre eine Fleischproduktion möglich. Auch industrielle Produkte könnten nicht hergestellt werden. Das im Schweizer Konsum steckende »virtuelle Wasser« entfällt zu 60% auf landwirtschaftliche und zu 40% auf industrielle Produkte.18 Trinken wir am Morgen eine Tasse Kaffee, so wurden für den Kaffeeanbau und die Verarbeitung der Bohnen bereits 132 Liter Wasser aus Gewässern entnommen, verschmutzt oder verdunstet.19 Kaufen wir in einem Laden Lebensmittel ein, so wurde für 1 kg Reis 2500 Liter Wasser verbraucht, für 1 kg Rindfleisch 15 400 Liter. Für die Produktion von 1 kg Baumwolle werden 10 000 Liter Wasser benötigt.20 Ein A4-Blatt Papier, 80 g/m2, das aus Holzfaserrohrstoff hergestellt wurde, beinhaltet 10 Liter »virtuelles« Wasser oder umgerechnet auf 1 kg Papier 2000 Liter (Recyclingpapier »nur« noch 20 Liter).21 Auch Rohstoffe können nur mithilfe von Wasser gewonnen und verarbeitet werden. Elektronische Komponenten in Computern bestehen aus Materialien, die mit hohem Wasseraufwand gewonnen werden müssen. Ein Mikrochip steht deshalb für einen Verbrauch von 32 Litern Wasser, die Herstellung eines ganzen Computers erfordert ungefähr 20 000 Liter.22

Ölgesegnete Länder wie im Nahen Osten finden die Lösung gegen Süßwasserknappheit in Entsalzungsanlagen, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. Diese sind aber eine immense Hypothek für die Energie- und Ökologiebilanz. Entsalzungsanlagen verbrauchen für die Produktion von einem Liter Süßwasser ein Mehrfaches an Treibstoff. Befürworter von Entsalzungsanlagen argumentieren, dass es auch Agrartreibstoffe sein könnten. Allerdings braucht es für die Erzeugung von 1000 Litern Süßwasser 4 Liter Biodiesel. Die Herstellung dieses Biodiesels wiederum verschlingt je nach Quellenangabe 4000 bis 16 000 Liter Wasser.23 Jeder Kommentar erübrigt sich.

Andere von der Dürre befallene Regionen wie Kalifornien setzen auf strombetriebene Anlagen. Auch hier sind die Kosten für den Bau und der Energieaufwand für die anschließende Produktion groß, und solche Lösungen können sich nur finanziell bevorteilte Erdteile leisten.

Wasser bedeutet nicht nur organisches Leben. Wasser bedeutet auch ökonomisches Leben. Ich beschreibe in der Folge bewusst die Herausforderungen in meiner alpinen Umgebung in Graubünden, weil sie über die Bewohner hinaus auch viele andere Menschen betrifft. Gerade in den touristisch geprägten Alpentälern ist das Wasser die unverzichtbare wirtschaftliche Grundlage. Dies zeigt sich exemplarisch im ganzen Alpenbogen von Frankreich über die Schweiz, Italien und Österreich bis nach Slowenien. Sie leben vom Schneetourismus, von der Wasserkraft oder von Wellness- und Kur-Angeboten.

Für den Kanton Graubünden ist Schnee die ökonomische Grundlage. Die ganze Schneetourismusindustrie befindet sich aber in der Sackgasse. Aufgrund der Klimaerwärmung kann der Schneesport, ob auf Ski-, Snowboard- oder Langlaufbrettern, nur noch mithilfe von Kunstschnee garantiert werden. 36% der Skipistenfläche werden bereits heute in der Schweiz technisch beschneit, in Österreich sind es 66% und in den italienischen Alpen gibt es Skigebiete, die komplett beschneit werden.24 Im bekannten Schneesportort Davos trägt der Wintertourismus »durch die touristische Nachfrage zu 26% des regionalen Volkseinkommens bei. Einen großen Einfluss auf den Entscheid der Touristen, in Davos Ski zu fahren, haben die Gesamtschneeverhältnisse.«25 Das Eidgenössische Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF geht davon aus, dass das regionale Volkseinkommen Einbußen um 60 Millionen Franken hätte, wenn in einem schneearmen Winter keine Schneekanonen eingesetzt werden könnten.26 Es stehen also viele Arbeitsplätze auf dem Spiel.

Die Nachfrage nach technischem Schnee wird immer größer. Die Wintersportorte sind mit ihrer Beschneiung ein Großverbraucher von Wasser geworden. Anfangs reichte noch die Trinkwasserversorgung, inzwischen werden für die Schneekanonen auch Bergbäche und hoch gelegene Quellen benutzt. Nicht immer reicht dies aus. Wasser muss oft über mehrere hundert Meter in die Höhe gepumpt werden, was mit hohem Energieverbrauch verbunden ist. Allein im Engadin wurden in St. Moritz, Pontresina, Scuol, Samnaun usw. eigene Speicherseen für den Betrieb von Schneekanonen gebaut.27 In Davos werden pro Jahr rund 600 000 Kubikmeter Wasser dafür benötigt, das sind 21,5% des Verbrauchs der Landschaft Davos. Im Verhältnis zum gesamten Energieverbrauch der Landschaft Davos macht die Beschneiung allerdings jährlich nur 0,6% aus.28

 

Die bereits jetzt wasserintensive Beschneiung droht immer mehr in Konflikt mit der Trinkwasserversorgung und der Ökologie der Bergbäche zu geraten. Die Landwirtschaft, die Wasserkraft oder der Sommertourismus nutzen die gleichen Quellen, um ihr tägliches Geschäft am Leben zu erhalten. Eine intensive Bewässerung im Sommer, gefolgt von einem niederschlagsarmen Winter bringt Wasserstress in die Berge. Das Landschaftsbild wird sich im Sommer verändern, wenn Speicherseen die Landschaft neu gestalten oder für die Wasserkraft im Bereich der Groß- und Kleinwasserkraftwerke Flusslandschaften ihren ursprünglichen Charakter und romantischen Wert verlieren. Die Kosten, wie z.B. für den Bau von Kunstschnee-Wasserleitungen und Speicherseen, werden fortlaufend steigen. Der Permafrost (ständig gefrorener Boden) wird durch wärmere Temperaturen beeinflusst. Dies wiederum führt dazu, dass sich die Struktur und die geotechnischen Eigenschaften der alpinen Böden ändern.29 Baugrund wird dadurch weniger tragfähig, und es entstehen Kosten, da Bergstationen und Transportanlagen mit beträchtlichem Mehraufwand wieder in den Boden verankert werden müssen.

Die Beschaffung des nötigen Wassers wird zu Beschneiungskosten führen, die irgendwann von der Masse nicht mehr bezahlt werden können. Laut Klimaprognosen scheint sich die Schnee-Situation in den nächsten Jahren noch zuzuspitzen. In Anbetracht aller Folgekosten, die durch die Klimaveränderung entstehen, wird man in Zukunft kein einziges neues Skigebiet mehr aus dem Boden stampfen. Es wird meiner Meinung nach vielmehr zu außergewöhnlichen Zwischenlösungen führen. Die Gletscherabdeckbemühungen auf dem Ötztal-Gletscher im österreichischen Tirol oder das Snowfarming in Davos, sprich die Übersommerung von Kunstschnee, sind die ersten Phänomene dieser Entwicklung.

Die zweite Wirtschaftssäule, die den Schweizer Alpengebieten über Jahrzehnte Wohlstand brachte, ist die Wasserkraftindustrie. Dies zeigen vergleichende Zahlen deutlich: 2012 hat die Wasserkraft 16,5% des Weltbedarfes an elektrischer Energie geliefert. Damit gehört sie nach Kohle und Erdgas zur drittbedeutendsten Form der Stromproduktion – noch vor der Kernenergie. Dabei lieferte die Wasserkraft rund 2/3 der Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen.30 In Deutschland betrug der Anteil der Wasserkraft lediglich 4,4% (2013). In der Schweiz hingegen stammt 56% des erzeugten Stroms aus der Wasserkraft. Der Anteil an der erneuerbaren Stromproduktion beträgt etwa 97%.31

Durch die Wasserzinsen, welche die Wasserkraftwerkbetreiber an die Konzessionsgemeinden auszahlen müssen, floss für die Ressourcennutzung der Gemeinden des Schweizer Mittellands gerechterweise Geld in die alpine Peripherie. Durch die Marktöffnung auch im europäischen Raum, durch ein Überangebot an konventionellen Kraftwerken sowie tiefe Preise für Kohle, Gas und CO2-Emissionen und der teils durch ein wachsendes subventioniertes Angebot erneuerbarer Energien,32 kann mit Wasserkraft derzeit kaum mehr Geld verdient werden. Ob sich dies in Zukunft ändern wird, wird sich weisen. Der Zerfall der Wasserstrompreise führt dazu, dass Wasserstromproduzenten ganze Stauseen ins Ausland verkaufen wollen. Der Schweizer Energiekonzern Alpiq, der nicht an Endverbraucher, sondern an den Großhandel verkauft, gab Anfang März 2016 bekannt, dass die Strompreise innerhalb des letzten Jahres um ein Drittel gesunken seien. Der Konzern wies deshalb für das Jahr 2015 einen Reinverlust von 830 Millionen Franken aus. In der Folge will Alpiq bis zu 49% des Wasserkraftportfolios an in- und ausländische Investoren verkaufen. Sie versprechen sich davon, dass die Abhängigkeit von den Großhandelspreisen reduziert wird.33 Jasmin Staiblin, CEO von Alpiq, schließt auch den Verkauf der Anteile an einen chinesischen Staatskonzern nicht aus.34 Das muss unterbunden werden.

In Graubünden ist es eine wirtschaftliche Realität, dass zum Beispiel die Bierbrauerei Calanda 1993 den Rhein herunter nach Holland an Heineken verkauft wurde. Oder dass die Valser-Mineralquellen in den USA bei Coca Cola »fluid« gemacht werden. Dass nun ganze Stauseen globalen Wirtschafts- und Energieplayern zum Verkauf angeboten werden, ist ein neues Phänomen. Die Aussage von Jasmin Staiblin, die Wasserkraft, je nach Optionen, auch nach China zu verkaufen, bringt die ganzen Wirtschaftsmachenschaften auf den Seegrund. Nun stehen wir auf dem Sprung, unsere primären Ressourcen zu verkaufen – im großen Stil. Die Wasserkraft ist bei uns erschöpft, also sollen es andere richten. In der globalen Wirtschaftswelt ist das völlig normal, und warum sollte es mit der Wasserkraft anders sein als mit anderen Wirtschaftszweigen? Als global aufgestellte CEO hat Staiblin wohl nicht das emotionale Verhältnis und die Wertevorstellungen zu unseren Quellen, wie es vielleicht der neue »Graubünden-Ferien«-Direktor Martin Vincenz hätte. Daher sieht sie dies womöglich entspannter und mit weniger Patriotismus als die an den Quellen und Stauseen Lebenden. Wenn Alpiq und andere Wasserwerk-Besitzer ganze Staudämme in die Verkaufsvitrinen stellen, brechen sie aber emotional einen Damm: »Chi chi venda sia aua, venda sia orma«, wer das Wasser verkauft, verkauft seine Seele – und nicht nur einen See. Wenn die Schweizer Stauseen aus China betrieben und von dort darüber bestimmt wird, wie viel Strom für wen produziert wird, dann können wir nicht mal mehr gegen den Strom schwimmen.

Im Rahmen der Klimapolitik wird in der Schweiz derzeit der Bau von Kleinwasserkraftwerken stark gefördert. Dies ist der ökologische Gau für die noch nicht verbauten Seitentäler im alpinen Raum. Denn erneuerbare Energie bedeutet nicht, dass sie automatisch naturverträglich ist. Über die Hälfte der Tier- und Pflanzenarten befinden sich in der Schweiz an Fließgewässern. Durch den Bau von Wasserkraftwerken gehen immer auch Lebensräume für Tiere und Pflanzen verloren. Bei Stauseen wird Wasser über Turbinen ins Fließwasser geleitet. Dabei ändern sich die Abflussmenge, die Strömungsgeschwindigkeit, Wassertemperatur und -trübung im Minutentakt. Werden die Turbinen abgestellt, sinken Abflussmenge und Pegelstand in kürzester Zeit, beim Hochfahren wird das Fließgewässer von einer Flutwelle heimgesucht (Schwall-Sunk-Phänomen). Das beeinträchtigt das Leben der Tiere und Pflanzen. Oft bleiben dabei Tiere, Larven und Laich auf dem Trockenen liegen und sterben. Dies führt zu einer Verarmung der Gewässer.

Eine weitere Folge der Wasserkraftnutzung ist, dass Staudämme und Wehre die Fischwanderung stromaufwärts unterbrechen. Selbst Fischtreppen lösen das Problem nicht vollständig. Und bei der Wanderung stromabwärts sterben viele Fische in den Turbinen.35 Ich habe dies bei meiner Rhein-Expedition mit eigenen Augen gesehen.

Es kann nicht sein, dass wir alle Gewässer bis auf den letzten Tropfen für die Wasserkraft ausnutzen. Es gibt nur einen vernünftigen Weg: Wir müssen als Gesellschaft weniger Energie und somit weniger Wasser verbrauchen, indem wir zum Beispiel Häuser besser isolieren oder die Häuser als Energieplus-Gebäude bauen.36 Es muss beim Umgang mit Energie ein grundsätzliches Umdenken stattfinden. Solange wir das Gefühl haben, wir leben in einem Wasser- und Energieschloss, und es gibt davon unendlich viel, wird sich unser Verbrauch nicht ändern.

Womöglich hilft das Bewusstsein, dass Energiesparen einen spürbaren Einfluss auch auf unseren Kontostand hat. So war es bei Samih Sawiris. Der ägyptisch-montenegrinische Unternehmer baut im schweizerischen Andermatt auf einer Fläche von 1,46 Quadratkilometern ein Urlaubszentrum mit Hotels, Ferienhäusern und -wohnungen, Golfplatz, Geschäften, Sport- und Freizeitanlagen. Die touristische Großinvestition entsteht an den Quellen von vier stattlichen Flüssen: Rhône, Ticino, Reuss und Rhein. Als ich 2009 die Jahresveranstaltung des »Netzwerks Wasser im Berggebiet« besuchte, betonte der Bauherr Samih Sawiris an einem Podiumsgespräch, dass er in seinem Tourismusressort Wasser sparen müsse. Auf die Frage, warum er dies mache, denn das Wasser in Andermatt fließe à discrétion, meinte Sawiris: »Ich muss Energie sparen. Wer Wasser spart, spart Energie. Und wer Energie spart, hat einen besseren Geschäftsabschluss!«37 Diesen Ansatz müssen wir verfolgen. Es stellt sich im Alpenraum nicht die Frage, ob wir Wasser nutzen, sondern wie wir Wasser nutzen.

Um den auf Wasser basierenden Wohlstand in den Alpen zu retten, werden verschiedene Ideen geprüft und neue Businessmodelle gesucht. Die Berufs- und Lebensmodelle wie »Mia Engiadina« propagieren, abgelegene(re) Talschaften wie das Unterengadin als dritten (digitalen) Arbeitsplatz in intakter Umgebung zu wählen, und setzen auf modernste Kommunikationsinfrastruktur und elektronische Vernetzung.38 Vor allem der Gesundheits- und Wellnesstourismus könnte ein Lösungsansatz sein, denn die Menschen werden immer älter und wollen dies vor allem gesund und in einer gesunden Umgebung werden. Auch könnte im Klimawandel das Hochgebirge ein neuer Zufluchtsort für hitzegeplagte Flachländer werden. Ich bezweifle aber, dass wir im Alpenraum ein Wirtschaftsmodell erarbeiten werden, der den Status quo an Wohlstand weiterhin sichern wird. Bei allen Bemühungen werden wir in Zukunft im Alpenraum kaum mehr den materiellen Luxus genießen können wie in den vergangenen Jahrzehnten. Trotz allem werden wir nicht zurückfallen in die Zeiten von Armut und Hunger, als in den vergangenen Jahrhunderten die Bergbevölkerung bis nach Russland oder die USA emigrieren musste. Wir werden in den Alpen bescheidener leben müssen. Wir werden aber nicht verdursten.

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