Mirroring Hands

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Attraktoren

Ein Attraktor ist etwas, das ein komplexes adaptives System in Richtung eines bestimmten Resultats oder Zustandes zieht, insbesondere, wenn das System instabil ist oder sich unter Stress befindet (Boeing 2016, S. 37; Pascale, Millemann a. Gioja 2001). Ein Attraktor ist nicht das Gleiche wie ein Organisationsprinzip, das ein fundamentaler Aspekt von Selbstorganisation ist. Ein Attraktor beeinflusst den Zustand eines Systems, indem er das System zu bestimmten Mustern hinzieht, die es einschränken, aber auch kreative Veränderungen hervorrufen können. Die Vorstellung von Attraktoren verhilft uns zu gewissen Einblicken in jene repetitiven, aber rätselhaften Aspekte von Geist und Verhalten, in denen wir keinen Sinn zu erkennen vermögen. Warum wiederholen wir die gleichen Fehler, entscheiden uns mehrmals für den falschen Job oder denken immer wieder die gleichen Gedanken? Warum erleben wir wiederholt Zwänge, Süchte und Gewohnheiten, von denen wir lieber nicht behelligt würden? Und was treibt andererseits kreative Menschen dazu an, Neues zu entdecken und zu entwickeln? Attraktoren sind in das System eingebettete Punkte der Energie und Information. Es kann sich dabei um Erlebtes handeln, das in das Gedächtnis eingebettet ist; um Gedanken und Handlungen, die in neuronalen Strukturen wie Amygdala und Basalganglien enkodiert sind; und um soziale Einstellungen, familiäre Traditionen oder religiöse Lehren und Rituale. Das freudsche Unbewusste, die jungschen Archetypen und kognitive Schemata sind, verallgemeinernd ausgedrückt, Formen von kognitiven Attraktoren im komplexen System der Psyche.

Es gibt vier Hauptarten von Attraktoren:

1)Der stabile Fixpunkt zieht ein System in Richtung eines finalen Ruheorts: Stürzt ein Felsbrocken eine Klippe hinab und erreicht einen finalen Ruheort, hat er einen Fixpunkt-Attraktor erreicht.

2)Der periodische Attraktor oder Grenzfluss-Attraktor kommt am häufigsten als ein anhaltender, aber isolierter Zustand in biologischen und ökologischen Systemen vor: der Schwung eines Pendels oder die Umlaufbahn eines Planeten.

3)Der quasiperiodische oder zyklische Attraktor tritt auf, wenn zwei oder mehr Rhythmen unterschiedlicher Periodizität interagieren und dadurch Oszillationen erzeugen, die sich nie exakt wiederholen: etwa ein Pendel mit zwei drehbaren schwingenden Armen oder natürliche Systeme wie eine Luftturbulenz.

4)Der chaotische oder seltsame (merkwürdige) Attraktor produziert ein adaptives fraktales Reaktionsmuster, das die Anfangsbedingungen verändern kann. Systeme können sich radikal wandeln, wenn sich ihre Anfangsbedingungen verändern. Beispiele hierfür sind das Wetter, turbulente Strömungen, elektrische Schaltkreise, chemische Systeme, Molekulardynamiken auf zellulargenetischer Ebene, soziale Dynamiken und die persönlichen Dynamiken von Geist, Persönlichkeit, Emotionen und Verhalten.

Der Therapeut versucht, dem Klienten zu helfen, seinen Mut und seine Fähigkeit zu mobilisieren, sich aus den stagnierenden Fixpunkten und überholten Grenzzyklen zu entfernen, die Probleme und Symptome erzeugen. Befreit sich ein Klient aus einem stagnierenden oder repetitiven Zustand, verändern sich seine Anfangsbedingungen, und dadurch entsteht auf effektive Weise ein neuer Ausgangspunkt. Eine systemische Veränderung dieser Art kann man anhand von Äußerungen wie den folgenden erkennen: »Ich habe ein neues Kapitel aufgeschlagen«, »Ich habe das Steuer herumgerissen« oder »Ich bin bereit, noch einmal ganz von vorn zu beginnen«. Somit befindet sich das gesamte System in einer kreativen Periode des Phasenübergangs, in der eine effektive Problemlösung und eine Geist-Körper-Heilung möglich sind.

Attraktoren sind Punkte in einem System, die das Muster des Flusses innerhalb des Systems sowie die Voraussagbarkeit des Endzustandes des Systems verändern können.

Natürliche Problemlösung und Geist-Körper-Heilung

Wie schaffen wir die Ordnung, die wir brauchen, um überleben zu können, stabil und gesund zu sein und uns wohlzufühlen? Was kann ein Klient tun, wenn er in seinem Leben unter Chaos oder Erstarrung leidet? Wie kann er sich der einschränkenden Wirkung der Attraktoren entziehen, die durch frühere Erlebnisse in sein System gelangt sind? Vielleicht geht es nicht in erster Linie darum, was Therapeut und Klient tun, sondern darum, wie gut sie es dem System gemeinsam ermöglichen, existierende Blockaden aufzulösen. In diesem Abschnitt geht es nicht um Zauberei, sondern um natürliche Problemlösung und Geist-Körper-Heilung, die man in allen Therapien nutzen kann.

Emergenz, Selbstorganisation und Feedback sind sehr wichtige Eigenschaften komplexer Systeme, die die Wirksamkeit von Mirroring Hands zu erklären helfen. Sie beinhalten im Grunde, was geschieht, wenn die Elemente eines komplexen Systems interagieren, spontan Probleme lösen und sich ganz natürlich in Richtung Heilung und Wohlbefinden bewegen.

Emergenz

Emergenz beinhaltet, dass Eigenschaften und Qualitäten aus Interaktionen der Elemente des Systems hervorgehen. Neue Eigenschaften und Merkmale entstehen auf natürliche Weise, wenn separate Elemente zusammenkommen. Emergenz ist ein Produkt der Synergien zwischen diesen Elementen. In unserer Beschreibung des Schwarms der Stare war die emergente Eigenschaft die Wolke der fliegenden Vögel. Die Wolke ist keine Qualität eines einzelnen Vogels, sondern manifestiert sich aufgrund der kollektiven, synergistischen Aktivität der Vögel. Emergente Eigenschaften und Qualitäten verändern sich in Relation zum Ausmaß des komplexen Systems. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, erzeugen 100 Vögel eine andere fließende Wolke als 1000 Vögel. Entscheidend ist hier, dass das, was sich manifestiert, nicht das Gleiche ist wie die Teile selbst (Berrondo a. Sandoval 2016, S. 69–78).

Einsicht ist ein Beispiel aus dem menschlichen Bereich. Die Interaktion einer Vielzahl von Elementen – sie können neuronale Potenzierung, mentale Assoziationen, Gedanken und Ideen, die von anderen stammen, und scheinbar unwichtige Dinge aus der näheren Umgebung einschließen – kann plötzlich und unerwartet zu einer radikalen und transformierend wirkenden kognitiven Realisation führen. In der Fernsehserie Dr. House wurde ein brillanter Arzt aufgefordert, Patienten mit mysteriösen Beschwerden zu diagnostizieren.14 Dr. Gregory House hatte oft Schwierigkeiten mit der Logik und durchstreifte seinen Geist dann auf der Suche nach sachdienlichen Informationen. War er kurz davor aufzugeben, wurde er von so banalen Dingen wie einer leeren Chips-Packung, die über den Boden rollte, inspiriert oder von einer völlig beiläufigen Bemerkung in einem Gespräch. Die Antwort tauchte dann wie von Zauberhand in seinem Geist auf. Wenn wir mit einem Klienten arbeiten, können wir alle möglichen gut beleumundeten Arte evidenzbasierter Therapie benutzen; bessert sich der Zustand des Klienten dann, sagt er uns möglicherweise, etwas an der Art, wie die Blumen in der Vase hinter uns arrangiert seien, habe sich positiv auf seine Genesung ausgewirkt.

Emotionen, Empfindungen, affektive Zustände, Gedanken, Verhaltensweisen und Intuitionen sind alle emergente Eigenschaften und Qualitäten. Affektive Zustände wie Depression, Angst, Panik, Wut, Liebe, Glück, Freude und so viele andere sind emergente Eigenschaften und Qualitäten der positiven und negativen Interaktionen im komplexen menschlichen System. Warum diese emotionalen Zustände aufgetaucht sind, ist die therapeutisch relevante Frage, die wir stellen müssen. Was geht in dem System vor sich, das diese Emotionen aufkommen lässt? Welche Botschaft über die innere Welt des Klienten geht von diesen emergenten Emotionen, Gedanken oder Verhaltensweisen aus? So denken wir im System. Emergenz in irgendeiner Form ist unvermeidbar, aber was genau die jeweilige emergente Eigenschaft oder Qualität bedeutet, ist therapeutisch relevant.

Emergenz beinhaltet, dass neue Eigenschaften, Qualitäten und Merkmale durch natürliche Selbstorganisation verwirklicht werden, wobei Elemente eines komplexen Systems interagieren und zueinander in Beziehung treten.

Selbstorganisation

Die interessanteste emergente Eigenschaft komplexer Systeme ist die Selbstorganisation. Die Mathematik komplexer Systeme besagt, dass geschlossene komplexe Systeme im Laufe der Zeit aufgrund eines Prozesses mit Namen »Entropie« komplexer und ungeordneter werden. Lebende Systeme hingegen sind offene Systeme, die im Laufe der Zeit komplexer werden können, sich aber in Reaktion auf interne Regeln und Regulationsprozesse in Richtung einer Ordnung bewegen. Selbstorgansation ist der emergente Prozess eines komplexen Systems, dessen Aktivität darauf zielt, eine Balance zwischen einem Mangel und einem Zuviel an Ordnung zu finden. Der große Astrophysiker Murray Gell-Mann beschrieb Emergenz und Selbstorganisation als »fundamentale Eigenschaften in Verbindung mit vielen Zufällen« (Gell-Mann 2007). Komplexe Systeme verfügen über innere Regeln und Prinzipien, die das Wesen der Ordnung innerhalb des Systems beeinflussen. Dies erklärt, warum Komplexität und nichtlineare Dynamik nicht beinhalten, dass Systeme völlig unvorhersehbar sind. Es gibt Parameter, welche Systeme in Richtung bestimmter Sets von Wahrscheinlichkeiten bewegen. In lebenden Systemen ist das Überleben natürlich ein wichtiges Prinzip. Ein lebendes System strebt von Natur aus Zuständen der Ordnung zu, die das Leben verlängern und fördern. Es mag Sie überraschen zu hören, dass die riesigen Mengen von Staren, die gemeinsam fliegende Wolken bilden, mit drei grundlegenden Regeln auskommt, um sich zu organisieren. Diese sind im Laufe der Zeit in verschiedener Hinsicht in das genetische Erbe der Stare eingegangen:

 

1)Bewegt sich ein Nachbar, dann tue das auch.

2)Fliege weg von einer Gefahr, beispielsweise von einem Habicht oder einem Wanderfalken.

3)Agiere fast unverzüglich zusammen mit sieben benachbarten Vögeln.

Das ist alles. Fügt man dem noch einige grundlegende Fakten hinzu, beispielsweise was die Art des Fluges, die Luft, in welcher der Flug stattfinden soll, sowie chemische und biologische Gegebenheiten angeht, ergibt sich ein System, das für die Selbstorganisation bereit ist. Bei Menschen ist die Zahl der »Teile« natürlich viel größer, und auch ein wesentlich komplexeres Set von Umgebungsfaktoren spielt bei ihnen eine Rolle, aber der Prozess der Selbstorganisation ist der gleiche. Nach unserer Auffassung ist es adäquat anzunehmen, dass bei Menschen ein grundlegendes Organisationsprinzip in einer Art der Selbstorganisation besteht, die von Natur aus zu Gesundheit und Wohlbefinden hinstrebt. Das offensichtlichste Indiz hierfür ist unser Immunsystem. Wenn wir erkranken, leitet das Immunsystem eine Vielzahl von Aktivitäten ein, die von der Zell- bis zur Gen-Ebene den Zustand der Gesundheit wiederherzustellen versuchen. Aufgrund von Untersuchungen über die Gen-Expression, die im Hinblick auf das therapeutische Modell der Mirroring Hands durchgeführt wurden (Cozzolino et al. 2015, S. 1–31), wissen wir, dass es eine genetische Kaskade gibt, welche die Produktion entzündungshemmender Proteine und Stammzellenaktivierungen einschließt, die sich positiv auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirken (Rossi et al. 2008 b, S. 39–44; Atkinson et al. 2010, S. 27–46).

Selbstorganisation ist die spontane Schaffung von Ordnung in einem komplexen System. Ordnung resultiert aus einem anfänglich ungeordneten System in Beziehung zu fundamentalen und organisierenden Prinzipien. Der Prozess läuft spontan ab und manifestiert sich, ohne dass er durch ein äußeres Agens kontrolliert werden muss.

Feedback

Durch Selbstorganisation entstehen emergente Eigenschaften und Qualitäten, die zu Ergänzungen des Systems werden. Diese neuen Eigenschaften werden dann mittels einer Feedbackschleife in die nächste Phase der Selbstorganisation einbezogen. Auf diese Weise geht der neue Zustand des Systems, der durch Emergenz (ganz gleich, ob es sich dabei um Ordnung oder Unordnung handelt) entstanden ist, in das System ein und interagiert dort mit den bereits existierenden Elementen. Die Prinzipien der Emergenz und der Selbstorganisation beinhalten im Grunde, dass ein System sich selbst verändert. Die Feedbackschleife ermöglicht es Systemen, sich allmählich zu verändern. Dies geschieht in Beziehung zum Wesen dessen, was aus dem Inneren des Systems hervorgeht, sowie der Dinge, die von außerhalb des Systems hinzugefügt werden. Demnach können negative emergente Eigenschaften bewirken, dass ein System negativeren Charakter annimmt. Aus diesem Grund können Menschen viele Jahre lang in gestörten, beschädigten und desintegrierten mentalen und emotionalen Zuständen verweilen, die gleichen Fehler immer wieder machen und sich Mal um Mal in die gleichen destruktiven Situationen begeben. Es ist schwierig, aus einem zerstörenden Bewusstsein heraus in einer schädigenden Umgebung zu genesen. Ebenso vermag das Hinzufügen positiver Faktoren zu einem System – ob es sich dabei um eine sichere therapeutische Umgebung, einen fürsorglichen therapeutischen Rapport oder einen hilfreichen therapeutischen Ansatz handelt – nicht nur eine Veränderung zum Positiven zu initiieren, sondern die initiierten Veränderungen zum Positiven bewirken außerdem, dass noch mehr Veränderungen zum Positiven hervorgerufen werden.

Der therapeutische Prozess kann für einen Klienten eine ziemliche Achterbahnfahrt sein. Negative und positive Einflüsse konkurrieren dabei um das Einwirken auf sein komplexes therapeutische Erleben. Wie wir später sehen werden, kann eine Therapie eine »dunkle Nacht der Seele« sein, aber diese »Nacht« zu durchleben ist der Mühe wert, wenn das helle Licht positiver Möglichkeiten aufleuchtet und auf das gesamte System einwirkt. Das fließende Muster, das die Stare erzeugen und das uns so wunderschön erscheint, ist nicht der Freude der Vögel am kunstvollen Flug zu verdanken, sondern es entsteht, weil sich der Schwarm in Reaktion auf Störungen in Form der Sturzflugangriffe von Raubvögeln ständig neu organisiert. Das wunderschöne Muster, das wir beobachten, ist der visuelle Ausdruck der Selbstorganisation der Stare, mit deren Hilfe sie Probleme, Schwierigkeiten und Störungen bewältigen, um Gesundheit und Wohlbefinden des gesamten Schwarms zu erhalten. Das ist die wahre Schönheit unserer natürlichen inneren Prozesse der Problemlösung und der Geist-Körper-Heilung.

Feedback ist ein zirkulärer Prozess, in dem der emergente Output eines Systems zusätzlich zu äußeren Einflüssen als »neuer« Input wieder in das System zurückgeleitet wird.

Der Geist ist nicht nur das Gehirn

Man kann sich die mentale Aktivität eines Klienten ähnlich vorstellen wie die vielen Vögel, die zusammen einen Starenschwarm bilden. Der Geist jedoch ist etwas anderes. Er ähnelt eher jenem ätherischen, ständig seine Form verändernden Muster, das die selbst organisierte emergente Eigenschaft der Vögel ist. Die Formation der Stare ist nicht nur eine emergente Eigenschaft der Aktivität dieser Vögel. Dabei sind noch wesentlich mehr Elemente im Spiel. Das System schließt die Habichte und Falken, die Windrichtung und feste Objekte wie Bäume, Gebäude und Gelände ein. Wird eine dieser Komponenten verändert, verändern sich auch die magischen Bewegungen des Starenflugs. Viele beschreiben den Geist als eine emergente Eigenschaft des Gehirns; logischer ist es jedoch, sich den Geist als emergente Eigenschaft nicht nur unserer Neurobiologie, sondern auch unserer Biologie, der unmittelbaren Umgebung und des Einflusses anderer Menschen und ihres Geistes, vorzustellen.

Ebenso wie die Bewegungen der Stare ist der Geist eine emergente Eigenschaft, die ihrerseits auf das System einwirkt, aus dem sie hervorgegangen ist. Für unser rationales Denken mag es eine schwere Prüfung sein, aber in einem komplexen, sich selbst organisierenden System kreiert sich der Geist in jedem Augenblick aktiv selbst. Dieses anspruchsvolle Konzept, das Daniel Siegel in seinem Buch Mind (2017) gründlich untersucht hat, werden wir hier nicht ausführlicher beschreiben; es verhilft uns aber zu einigen Erkenntnissen darüber, wie Geist-Körper-Heilung vor sich geht. Diesem weiter gefassten Konzept des Geistes zufolge wird der Therapeut einfach durch seine Präsenz zu einem Element im Geist des Klienten. Er braucht dem Gehirn des Klienten nichts offen aufzuzwingen, er muss es nicht lenken, muss nicht intervenieren oder versuchen, es seiner Kontrolle zu unterwerfen. Vielmehr kann er effektiv das Engagement hinsichtlich des Geist-Körper-Prozesses fördern, indem er auf den Klienten eingehenden positiven Input in das therapeutische Erleben einbezieht. Der Mirroring-Hands-Ansatz verhindert, dass der Therapeut das Erleben des Klienten dominiert oder dass er dem Prozess etwas hinzufügt, das dem Klienten die Kontrolle über das Geschehen entzieht.

Was ein Therapeut dem »System des Klienten« hinzufügt, ist sehr wichtig. Nach unserer Auffassung kann der Klient umso stärker darin gestört werden, zu seinen eigenen Problemlösungs- und Geist-Körper-Heilungsfähigkeiten – also zu seinen eigenen naturgemäßen Selbstorganisationsprozessen – in Kontakt zu treten, je mehr der Therapeut ihm Anweisungen aufzwingt. Eine förderliche Balance zu finden kann sehr schwierig sein, und der Therapeut muss bei seinen Bemühungen vorsichtig vorgehen und den Klienten aufmerksam beobachten. Mit der Kunst der sensiblen Beobachtung werden wir uns in Kapitel 7 eingehender beschäftigen; im Moment mag es ausreichen festzustellen, dass es Situationen gibt, in denen es angezeigt ist, den Klienten zu halten und mit ihm zusammen still zu sein, weiterhin Situationen, in denen man ihm helfen sollte, in einen therapeutischen Bewusstseinszustand einzutreten, und schließlich Situationen, in denen man auf eine leichte Weise beim Klienten präsent sein und lediglich seinen Prozess und seine Bemühungen um Geist-Körper-Heilung fördern sollte.

Rückblick

Das Konzept der komplexen nichtlinearen Systeme, die sich selbst organisieren und Problemlösungs- und Geist-Körper-Heilungsaktivitäten entwickeln, ohne einer offenkundigen Anleitung oder Kontrolle zu unterliegen, mag unsere bisherige Sicht therapeutischer Aktivität und der Welt infrage stellen. Wir hoffen jedoch, dass es auch ein Gefühl der Verwunderung angesichts der Welt hervorruft. Schon sehr früh bringt man uns allen bei, logisch zu denken, mit der Folge, dass wir die Welt im Sinne von linearen, schrittweisen Vorgängen sehen – dies führt zu jenem, das zum Nächsten usw. Man bringt uns bei, dass wir nur über das richtige Wissen zu verfügen brauchen, um zuverlässig Resultate voraussagen und hinsichtlich der Zukunft ein Gefühl der Sicherheit entwickeln zu können. Leider eignen sich komplexe Systeme nicht dazu, Voraussagen über sie zu machen und sie zu kontrollieren; vielmehr bewegen sie sich auf eine Ordnung zu, die dem Einfluss von Organisationsprinzipien, Attraktoren, Disruptoren und anderen systemischen Faktoren unterliegt. Die Fähigkeit, diese Regulatoren zu beeinflussen, ermöglicht es Klienten, Phasenübergänge zu bewältigen, um wieder in einen harmonischen Zustand des Wohlbefindens zurückzukehren.

Sobald ein Klient den Behandlungsraum betritt, werden Therapeut und Klient zu Teilen eines komplexen therapeutischen Systems. Was der Therapeut sagt und tut, wird eine Wirkung entfalten. Unsere Präsenz verändert die Anfangsbedingungen des Systems des Klienten, und nur dies kann überraschende Resultate hervorrufen. Was Therapeut und Klient durch ihre Beziehung dem System hinzufügen, wirkt sich auf ihre Selbstorganisationsprozesse aus und fördert die Aktivierung der inneren Heilungsfähigkeit des Klienten.

Wir haben in diesem Kapitel Begriffe und Definitionen erforscht und sie, wo möglich, in den therapeutischen Kontext einbezogen. Das Thema wurde keineswegs erschöpfend abgehandelt. Wir hoffen deshalb, Leser zu weiterführenden Untersuchungen angeregt zu haben. Nachdem wir Ihren Geist nun darauf vorbereitet haben, im System zu denken, wenden wir uns dem nächsten Schritt zu – der Vorbereitung des Klienten auf ein Mirroring-Hands-Erlebnis.

11Ein Video, das einen solchen Schwarm von Staren zeigt, finden Sie unter: https://www.youtube.com/watch?v=eakKfY5aHmY [22.12.2020].

12Die folgenden Bücher enthalten ausgezeichnete Definitionen von Komplexität in Beziehung zur Psychotherapie: Rossi (1996); Marks-Tarlow (2008); Siegel (2016).

13Der folgende Link führt Sie zum Originaltext des Vortrags am MIT im Jahre 1972: http://eaps4.mit.edu/research/Lorenz/Butterfly_1972.pdf [22.12.2020].

14Dr. House (2004–2012) wurde von David Shore für das Fox-Netzwerk kreiert.