Buch lesen: «Wanderer»
Erik Schreiber
Sternenlicht 6
Wanderer
Saphir im Stahl
Bereits erschienen:
Horst Hoffmann - Insel im Nichts
Johannes Anders - Rücksturz nach Tyros
Johannes Anders - Storm
Peter R. Krüger - Der Fehler im System
Joachim Stahl - Parsifal
Erik Schreiber - Wanderer
Sternenlicht 6
e-book 096
Erste Auflage 01.08.2021
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
Titelbild: Thomas Budach
Lektorat: Joachim Stahl
Vertrieb: neobooks
Es gibt unzählige ferne Welten da draußen, Welten, die es zu finden gilt oder wieder zu entdecken. Die Forschungsschiffe der Sternenlicht Vereinigung sind unterwegs, diese Welten zu finden und zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen kennenzulernen. Mutig dorthin zu fliegen, wo vielleicht noch nie ein Mensch gewesen ist. Dies sind die Abenteuer des Forschungsraumschiffes VASCO DA GAMA und seiner schnellen Erkundungskreuzer. Einer sticht besonders hervor, die CHARON mit ihrer neunköpfigen Besatzung.
… zehn …
… neun …
… acht …
… sieben …
… sechs …
… fünnef …
… vier …
… drei …
… zwei …
… eins …
… null …
„Guten Flug, CHARON.“
Die Hangarschleuse 3 der VASCO DA GAMA hatte sich geöffnet und der Diskusraumer CHARON verließ das Forschungsschiff auf vorbestimmten Kurs. Hinter der CHARON blieb ihr Mutterschiff in der Schwärze des Weltalls zurück. Scheinbar regungslos verharrte sie im Leerraum zwischen den Sternen. Scheinbar, denn die Restgeschwindigkeit betrug immer noch 135.000 km/sek. Im Vergleich zur vorherigen Reisegeschwindigkeit jedoch quasi Null. Wie sollte man die Bewegung erkennen? Der nächste Stern, ein Roter Zwerg, ohne Planeten, wie es den Anschein hatte, befand sich in einer Entfernung von achtzehn Lichtjahren. Die Daten der Fernortung machten einen einzigen Begleiter aus, der von zwei Monden sowie Trümmern eines dritten Mondes oder eines anderen Planeten umkreist wurde. Zufälligerweise befand sich der Planet im äußeren Bereich der Lebenszone des Sonnensystems. Die Leitung des Forschungsschiffes spekulierte darauf, dass er besiedelt werden könnte. Vorausgesetzt, er hatte kein eigenes Leben entwickelt. Neben der Suche nach Zivilisationen, belebten Planeten und der hauptsächlichen Arbeit, physikalische Phänomene wie das Schwarze Loch im Leerraum zu erkunden, sollte auch nach verschollenen Raumschiffen und Kolonien gesucht werden. Bei den Raumschiffen hoffte man, den Industriekomplex GARNISH wieder zu finden. Die GARNISH war dafür ausgerüstet, in Asteroidengürteln Erze einzusammeln und zu produzieren. Oder aber, im Orbit eines Mondes zu kreisen, um von dort Erze aufzunehmen und zu verarbeiten. Als Unterstützung von neuen Kolonien, damit diese unabhängiger von den Muttersystemen werden konnten. Angeblich gekapert und entführt, fehlte seit einigen Jahrzehnten jeder Hinweis auf GARNISH. Aber sicherlich war die VASCO DA GAMA mit ihrem Forschungsauftrag nicht das Schiff, das den Industriekomplex finden würde.
Weit entfernt von der VASCO DA GAMA glitt der schnelle Erkundungskreuzer CHARON durch den Raum seinem einprogrammierten Ziel entgegen. Die Isotopen-Generatoren standen auf halbe Lichtgeschwindigkeit. Extra gedrosselt, da die Aufgabe nicht eilig war, sondern eher ein Raumspaziergang, wie Major Peer Dexter Hegen zu sagen pflegte. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und betrachtete zufrieden seine Mannschaft. Sein ruhiger Dienst wurde aber jäh unterbrochen.
„Wenn man keine bessere Aufgabe für uns hat, als Aufträge für Raumkadetten auszuführen, dann ist es wohl besser, ich gehe.“ Jeanette Eichler war sichtlich aufgebracht. Sie waren auf einem stinklangweiligen Patrouillenflug, wie sie mehrmals betonte, der wenig Abwechslung versprach. Die Bordingenieurin schnaubte. „Ich bin der Raumflotte beigetreten, um was zu erleben. Kommt zur Raumflotte, hieß es, hier gibt es Abenteuer, Sensationen, fremde Kulturen, all das wartet nur auf euch. Und jetzt hänge ich hier im All und soll Funkbojen aussetzen.“ Sie strich sich eine braune vorwitzige Locke, die ihr ins Gesicht gefallen war, zur Seite. enn sie sich aufregte, bekam sie immer rote Wangen.
„Das heißt, du willst deinen Dienst quittieren?“ Major Hegen, der Kommandant der CHARON, wandte den Blick vom Hologramm, welches den Leerraum und nur in großer Entfernung die Milchstraße zeigte, und sah seine Bordingenieurin an. Ihre roten Wangen bemerkte er und fand sie dadurch noch anziehender. Aber es ging jetzt nicht darum, die Weiblichkeit seiner Besatzung zu bewundern. Er wies auf das Schott zum Lift. „Ich denke aber, du kommst nicht weit. Es passt dir etwas nicht und schon läufst du davon.“
„Nein, ich laufe nicht davon. Aber ich bin nicht zur Raumflotte gegangen, um Funkbojen und Messsonden auszusetzen, Meteoritenstaub einzusammeln und Kontrollautomaten einzustellen.“
„Jetzt reiß dich mal zusammen, Jeanette. Du bist an Bord der CHARON, schneller Erkundungskreuzer des Forschungsraumers VASCO DA GAMA, und du hast den Zehn-Jahres-Vertrag selber unterschrieben. Wir müssen nun einmal, solange nichts Aufregendes passiert, die Funkbrücke ins Heimatsystem aufbauen.“
„Ja, aber …“ Sie trommelte wütend mit den Fingern auf dem Schaltpult herum. Auch so eine Eigenart von ihr, wenn sie aufgebracht war.
„Nein, kein Ja-Aber, jetzt geh und kümmere dich um die Sonde. In einer halben Stunde müssen wir sie an den Koordinaten aussetzen. Danach kannst du im Maschinenraum so lange schmollen, wie du willst.“
Jeanette ging zur Schleuse und ließ sich vom Lift in den Maschinenraum hinuntertragen. Der Transport dauerte nur einige Sekunden. Aus dem Lift kommend war ihr Ärger noch nicht verraucht. Ein Tritt gegen eine Konsole sorgte für Frustabbau. Was aber nichts an ihrer Aufgabe änderte. In ihrer Werkstatt angekommen, wandte sie sich der Funkboje zu. Ein paar Handgriffe und die Verkleidung lag auf der Seite und die Innereien der Sonde offen vor ihr. Die Bordingenieurin schaute grimmig in die Eingeweide der Funkboje. Sie überprüfte noch einmal alle Schaltungen, da sich beim letzten Test ein paar Aussetzer in der Übertragung gezeigt hatten. Der Fehler war schnell behoben. An der Funkboje, wie die Besatzung die Sonde nannte, war sonst alles in Ordnung, bis auf eine verschachtelte Baugruppe, die ihr nichts sagte. Sie würde sich später arum kümmern, bevor die nächste Boje ausgesetzt würde.
„Koordinaten vier eins fünf zu dreiunddreißig, siebenunddreißig”, las die Navigatorin Patricia Kress vom Kursanzeiger ab. Der Oberleutnant trug die langen brünetten Haare meist zu einem Dutt gebunden, was ihr einen besonders strengen Ausdruck verlieh. Das war ihr auch recht, denn so blieben die männlichen Besatzungsmitglieder der VASCO DA GAMA auf Abstand.
Peer Dexter Hegen beobachtete die Astroscheibe, deren zuschaltbarer Hologrammmodus ausgeschaltet war und von ihm strikt abgelehnt wurde. Er war da ein wenig altmodisch. Auch der kleine Bildschirm auf seinem Arbeitsplatz war extra für ihn nachgerüstet worden. Der Major war hochgewachsen, hatte ein kantiges Gesicht und klare blaue Augen. Seine Art, sich zu geben, war unbefangen, fast lässig. Er war es gewohnt zu kommandieren. Schon seit mehr als zehn Jahren war die Besatzung der CHARON unterwegs. Zuerst bei den schnellen Raumverbänden des Sonnensystems Jaimbaliz, dann abkommandiert zur VASCO DA GAMA. Nun waren sie in der Dunkelheit des Weltraums auf der Suche nach planetarischem Leben auf einem Gestirn, das dem Heimatplaneten Irrikon ähneln könnte, beziehungsweise nach anderen Zivilisationen, die den langen Krieg überstanden hatten. Die Hauptaufgabe, die die VASCO DA GAMA bewältigen sollte, war jedoch die Erkundung eines Schwarzen Lochs mitten in der sternenarmen Dunkelheit. Mit normalen hochauflösenden Teleskopen unsichtbar und nur anhand diverser Strahlungsanomalien errechenbar. Das Schwarze Loch war lediglich durch Zufall von einigen Wissenschaftler gefunden worden, denn längst hatte es alles verschluckt, was sich in seiner Umgebung befunden hatte. Damit erwies sich das Schwarze Loch als sehr alt und äußerst ungewöhnlich. In allen Unterlagen, neueren und älteren Datums fanden sich keine Hinweise darauf.
Die tägliche Routinearbeit lastete auf der Mannschaft. Aber sie musste getan werden, denn die Mission war noch nicht erfüllt, ja, sie stand erst am Anfang. Das Forschungsraumschiff VASCO DA GAMA steuerte noch keinen Heimatkurs.
„Kurt, du übernimmst bitte.“ Hegen sprach leise. Der Erste Offizier reagierte sofort und Peer hörte Jessans Zustimmung. Ein tüchtiger Mann, der immer zur Stelle war, wenn er gebraucht wurde, schon ergraut und etwas feingliedriger als Hegen, ein nüchterner Karriereoffizier. „Zuverlässig, wenn auch nicht überragend begabt”, stand in Jessans Personalakte. Aber man muss nicht alles glauben, was in Personalakten steht.
Major Hegen schlenderte langsam an der Astroscheibe vorüber und betrachtete sie nachdenklich. Die zurzeit ausgeschaltete Holografie-Darstellung war nicht das, was ihm behagte. So blieb er lieber bei dem altmodischen Bildschirm, der gleichzeitig an seinem Platz lief. Die weit entfernten Punkte, die das Licht der Sterne signalisierten, drückten auf seine Stimmung, und er wusste, dass auch die Mannschaft deprimiert war. Zehn Jahre waren eine lange Zeit. Die Mannschaft wollte in die Heimat zurück. Auch er selbst wollte endlich seine Mission zum Abschluss bringen. Aber die Befehle standen dem entgegen.
Hauptmann Kurt Jessan hielt sich auf seinem Kommandoposten auf, von dem aus er die Navigationsbeobachtung im Auge behalten konnte. Vor der Astroscheibe tat der Astrogator Björn Hartmann Dienst, um fortlaufend die Radar- und Fernsensorenbeobachtungen des Raumschiffes im Weltraum kontrollieren zu können. Seine braunen Augen huschten über die Bildschirme und Anzeigen hin und her. Das bläuliche Geflimmer des Bildschirms tauchte sein Gesicht in ein gespenstisches Licht. Die Anzeigen darauf änderten sich schnell und für einen entfernter stehenden Betrachter erschien das Bild flimmernd und unruhig. Ab und zu verstellte er mit seinen feingliedrigen Händen Einstellungen, worauf sich die Darstellung änderte. Teile auf der Scheibe wurden hervorgehoben, wechselten von Balkendiagrammen zu Zahlenkolonnen oder andere Darstellungsformen.
Alles war in bester Ordnung. Major Hegen wandte sich um und verließ schnell den Raum. Einige Augenpaare blickten ihm gespannt nach, selbst Hauptmann Jessan wandte seinen Kopf zum Schott. Hegen wusste, dass alle sehnlichst auf den Befehl zur Umkehr warteten. Daher bereitete er eine kurze Ansprache vor, um die kleine Mannschaft der CHARON zu motivieren.
In den letzten zwei Jahren hatte die VASCO DA GAMA auf dem Weg in die Leere zwischen den Sterneninseln zwar Planeten entdeckt, aber keiner von ihnen trug Leben. Manche waren für Lebensbedingungen geeignet; nirgends war jedoch eine Spur tierischen oder selbst pflanzlichen Lebens gefunden worden. Hegen war sich bewusst, dass seine neue Mission, Funkbojen und Sonden zu setzen, auch eine Arbeitstherapie war. Dennoch würde er gern einmal etwas Spannendes vorweisen können. Er goss sich einen Archers Tears ein und nippte daran, bequem in seinen Sessel zurückgelehnt. An der Kabinenwand hingen Fotos der Expeditionsergebnisse; leblose, dürre und unwirtschaftliche Planeten- und Mondlandschaften.
Links von ihm stand der in die Wand eingebaute Schreibtisch, auf dem sich weitere Fotos befanden: eine lächelnde junge Frau, Katharina, seine Ehefrau, sein Sohn Ferdinand als kleiner Junge; dahinter ein Haus aus Klinkersteinen. Alles so weit weg. Aber Hegen war an den Anblick dieser Bilder gewöhnt und schenkte ihnen keine große Beachtung. Seine Gedanken kreisten um die Mannschaft. Er wusste, dass die Leute immer unwilliger werden könnten, dass sie den Fehlschlag der Mission des Forschungsraumschiffes ahnten. Wie konnte er ihnen diese Einstellung verdenken?
Er stellte das Glas auf den Tisch. Er nutzte die Gelegenheit, sich ein Weilchen auszuruhen. Jessan hatte noch zwei Stunden das Kommando. Aus dem geplanten Ausruhen wurde ein kurzer Schlaf. Bis auf den Moment, da die Alarmsirene sich mit einem kurzen Schrillen meldete. Erschrocken fuhr er hoch …
Hegen griff im Laufen nach seiner Uniformjacke und stürzte zum Kommandostand.
Es schien, als würden die Sterne plötzlich aus dem Nichts auftauchen, als Patricia Kress die CHARON wieder in den normalen Weltraum zurückführte. Die Pilotin schaltete ihre Sensoren auf Maximum, da die meisten Sterne in weiter Entfernung standen. Auf den ersten Blick gaben ihre Instrumente nichts her. Den Rest würde Ben übernehmen. Er war für die Fernaufklärung zuständig. Patricia zuckte kurz darauf zusammen.
Die Alarmsirene schrillte. Überall tönte das durchdringende Signal.
Auf der Brücke standen sich Hauptmann Jessan, der ein finsteres Gesicht machte, und sein schlanker, dunkelhaariger junger Kollege, Leutnant Eigl, gegenüber.
„Was ist los?”, fuhr der Major die beiden an.
Jessan deutete mit dem Zeigefinger auf Eigl. „Leutnant Eigl“, obwohl sie alle Freunde waren, konnte er auch dienstlich werden, „hat den Alarmknopf gedrückt.“
Peer unterdrückte einen Zornesausbruch. Wenn dies wieder, wie schon so oft, ein falscher Alarm war, dann kam er zu einem unglücklichen Zeitpunkt. Doch Peer Dexter Hegen hatte sich schnell unter Kontrolle. Seinen Ärger sah man ihm nicht an. Sein Pokergesicht hatte er lang genug geübt.
„Also los, was gibt es so Wichtiges, dass es einen Alarm in dieser sternenarmen Gegend rechtfertigt?”, fragte er eisig. Er blickte Eigl nicht gerade freundlich an. Dessen Eskapaden kamen immer zur unrechten Zeit.
Der junge Eigl durchschaute die Stimmung seines Chefs, aber auch Hegen wusste, dass der Mann keine Scheu vor ihm hatte. Eigl war ganz bei der Sache; mit verbissenem Gesicht deutete er auf den Radarschirm, auf dessen Mittelpunkt ein winziger Lichtpunkt zu erkennen war. Ein winziger Punkt, aber weit entfernt!
„Ist das alles?”
Eigl blickte seinem Chef gerade in die Augen. „Ja, Major.“ Ein gutaussehender, intelligenter junger Mann, fuhr es Peer durch den Kopf. Wie konnte es auch anders sein; die Berufung als Offizier auf die CHARON setzte eine hohe Intelligenz voraus.
Major Hegen blieb kühl und sachlich: „Wir haben schon früher Sterne und anderes entdeckt, Leutnant Eigl. Also weiter.”
„Ich glaube, dies ist ein Planet. Sehen Sie sich den Glanz an.”
Hegen wandte sich dem Schirm zu und sah, dass die Helligkeitsbestimmung niedrig eingestellt war. Sie stand praktisch auf Null, und dennoch leuchtete der Planet - falls es überhaupt einer war - mit der Helligkeit einer Sonne. Allerdings ohne Sonne, woher kam also der Glanz? ie sollte ein Planet im Sonnenlicht glänzen, wenn es keine Sonne gab? Aufmerksam betrachtete er die Erscheinung. Auch sein kleiner Beobachtungsschirm war auf den Weltraum gerichtet, so wie die Astroscheibe, die die Mitte des Kontrollraums einnahm.
„Ja, ja,” sagte Hegen gedehnt. „Wie hoch ist die Massendichte?”
„Bisher sind nur vorläufige Messungen möglich”, meldete Eigl. „Sie deuten aber darauf hin, dass es kein Stern ist.”
Peer warf Kurt Jessan, der immer noch ein unbeteiligtes Gesicht machte, einen vielsagenden Blick zu.
Kurt Jessan begriff. „Unwahrscheinlich, dass es ein Planet ist, Peer.”
„Warum?”
„Peer ... “, unterbrach Eigl. Er sprach mit ruhiger, selbstsicherer Stimme. „Wir haben noch nie einen Planeten beobachtet, der so viel Licht reflektiert, dort draußen müsste ein Spiegel sein.”
„Du widersprichst dir“, sagte Jessan. Man war also wieder beim kameradschaftlichen Du angekommen.
Eigl schüttelte den Kopf. Er hantierte an Einstellungen herum, wischte über die Abstimmungen, um die Schärfe einzustellen, öffnete Fenster, die Zahlenkolonnen präsentierten. Hegen wandte sich ab. Kein Laut war zu hören. Die in der Nähe sitzende Armierungsoffizierin Leutnant Petra Müller und Leutnant Stein von der Kommunikation beobachteten gespannt die Szene.
„Schalt doch mal auf höchste Vergrößerung“, bat Peer seinen Offizier für die Raumüberwachung. „Sag mir, was du denkst.”
Eigl blickte ihn ernst an. „Ein künstliches Gebilde.”
„Künstlich!”, brummte Jessan verächtlich. „Wenn das künstlich ist, möchte ich die Energieerzeuger kennenlernen, die so viel Licht erzeugen.“
„Wir müssen die Beobachtungen fortsetzen”, meinte Eigl selbstbewusst. Er wischte sich mit der Hand durch sein dunkles Haar und verkniff sich ein Grinsen.
Hegen zuckte die Schultern. Die Untersuchungen hatten bereits begonnen. Der Astrogator war dabei, seine Instrumente auf das seltsame Objekt einzustellen. Die Ergebnisse wurden in den Hauptcomputer eingespeist. Schon bald war mit einem Bericht zu rechnen. Wieder einmal bedauerte die Mannschaft die defekte KI. Irgendein wichtiges Bauteil schien ausgefallen zu sein und man hatte sie noch nicht wieder reparieren können.
Hegen blickte Eigl an. „Mach weiter.“ Der Leutnant der Raumüberwachung entfernte sich und nahm seinen Platz wieder ein.
„Ein Hoffnungsschimmer”, sagte Jessan leise.
„Hoffnung gibt es immer, wenn sie auch unsinnig ist. Was sollen wir machen? Jedenfalls ist das sicher kein Stern!”
„Du glaubst nicht, dass es künstlich sein könnte?”
Hegen lächelte müde und warf einen Blick auf den jungen Eigl, der sich über einen Bildschirm gebeugt hatte. „Glaubst du etwa daran?”
„Kann ich mir nicht denken, und ich hoffe es auch nicht”, antwortete Jessan. Seine Stirn umwölkte sich, als er auf die Astroscheibe wies. „Ich habe das Gerät auf Fehler überprüfen lassen. Bisher keine Fehlerquelle festzustellen, aber das Gebilde scheint sehr groß zu sein.”
Peer nickte abwesend. Er starrte versonnen auf den Lichtimpuls. Diese Sichtung war wirklich ein verheißungsvolles Phänomen.
Leutnant Eigl saß an seinem Platz. Alle hatten von seiner Entdeckung gehört und machten ihre harmlosen Späße über „Eigls Planeten”.
„Gibt es auf deinem Planeten auch Mädchen, Ben?”
Das Gerät war inzwischen einer gründlichen Prüfung unterzogen worden; eine Fehlerquelle war ausgeschlossen. Was es auch immer sein mochte - das Objekt war klar und hell wie ein Vollmond zu erkennen, nur war das Licht mehr ein Silberschein, weitaus eindrucksvoller als das klarste Mondlicht, das man sich denken konnte.
Peer Dexter Hegen konnte jetzt mit der Stimmung seiner Leute zufrieden sein. Er hatte den Eindruck, dass sie seit Monaten nicht mehr so guten Mutes gewesen waren. Endlich etwas Abwechslung. Allerdings würde die Stimmung sofort wieder auf den Nullpunkt sinken, wenn es sich herausstellte, dass wieder einmal nur ein totes Gestirn gesichtet worden war. Jetzt hieß es abwarten. Er sah zu Leutnant Eigl hinüber, der konzentriert seinen Dienst versah.
Benjamin Eigl war ein Produkt seiner Zeit, vielleicht war er noch etwas gelassener als die meisten anderen; er blieb immer sachlich und gründete seine Meinung auf technische Tatsachen. Auf Menschen war nicht immer Verlass, aber dafür auf richtig funktionierende Geräte und Maschinen - das war seine Überzeugung. Eine schlecht arbeitende Maschine ließ sich überprüfen und korrigieren; das ließ sich aber bei Menschen nicht machen. Menschen sind undurchsichtig und heuchlerisch; Maschinen nicht. So sah er die Welt. Leutnant Benjamin Eigl war stolz darauf, selbstsicher, nüchtern. Eines Tages würde er auf einem unbekannten Planeten landen und auf maschinenähnliche Wesen stoßen. Dies hatte schon ein Wissenschaftler namens Shostak in seiner Heimatstadt veröffentlicht. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sein neuentdeckter Planet so beschaffen sein müsste. Benjamin war überzeugt, die ersten echten Vertreter einer extraterrestrischen Zivilisation würden einer Robotzivilisation angehören. Dabei vergaß er: Bereits seit Jahrzehnten fand man immer wieder mal Extraterrestrier, aber keine Robotkultur. Diese Fremden, so seine Meinung, würden sich im Laufe der Evolution selbst in Maschinen verwandeln. An einem bestimmten Punkt würden sie ihre organischen Körper gegen elektromechanische tauschen, um Hunger und Krankheiten zu entkommen. Dadurch würde es ihnen auch leichter als gewöhnlichen Sterblichen fallen, lange Raumflüge zu überstehen. Und überhaupt sei die Verwandlung in Maschinen der logische Schritt für jede entwickelte Zivilisation. Das Streben einer Zivilisation sei es, Wesen zu erschaffen, die in gewisser Hinsicht effektiver sind als ihre Erschaffer.
Dann würde er ein berühmter Mann sein, denn er hätte als Erster diesen Planeten, Eigls Planeten, entdeckt. Völlig vergessend, dass die Bewohner ihn bereits anders benannt hatten.
Er warf weiterhin einen Blick auf seinen Bildschirm, und aus einem Impuls heraus aktivierte er das Hologramm. Er sah auf dem Holoschirm, wie das unbekannte Objekt langsam größer wurde. Das Licht des Holotischs beleuchtete sein Gesicht von unten und ließ seinen Kopf noch schmaler und bleicher als sonst aussehen. Eigls Planet leuchtete wie ein Diamant in der Dunkelheit des Weltraums.
Mitten in die Stille des Kommandozentrale platzte der schrille Ton der Alarmglocke. Mit schnellen Schritten war Hegen auf seinem Kommandoposten. „Ben, hast du schon wieder den Alarm ausgelöst?“
„Der Computer ...“, antwortete Ben. „Er empfängt Signale, die aus der Nähe des unbekannten Planeten kommen.“ Dann, nach ein paar Minuten und mit beträchtlicher Signalverstärkung von den Rechnerprozessoren, wurde die Botschaft deutlich.
„Verdammt“, fluchte Ben, „sogar die Sprache kommt mir bekannt vor … Und es ist kein Planet. Zu meinem Bedauern muss ich eingestehen, die Daten falsch abgelesen zu haben. Die Entfernung ist weitaus geringer als die von mir angegebene.“
„Welche Art von Signalen?“ Peer ging nicht auf die Entschuldigung ein.
„Anscheinend genau solche, wie wir sie senden. Irgendetwas oder irgendjemand scheint unsere Signale nachzuahmen.“
Dr. Ludovic Schmird trat aus dem Lift und zum Kommandostand. Er ging zu Major Hegen, der vor dem kleinen Beobachtungsschirm stand, sich aber nun auf seinen Platz setzte, und sah sich die Daten auf die Astroscheibe genau an.
„Gut, dass du gekommen bist, Doktor.“
Ludovic murmelte etwas in sich hinein.
„Ein Signal wird übertragen, welches unsere imitiert“, gab Kurt Jessan eine erste Analyse ab. „Es ist kein Sprachsignal. Es klingt wie ein digitales Signal, so ähnlich wie die Verbindungen mit alten Kommunikationssatelliten, mit dem man sich früher planetare Verbindungen aufgebaut hat.“
„Kann dort ein lebendes Wesen sein oder ist es nur eine Reflexion?“, fragte der Kommandant. „Muss dort nicht Leben vorhanden sein, wenn Signale übertragen werden?“
„Nicht unbedingt. Auch ein Spiegel, der Licht reflektiert, könnte die Ursache der Übertragung sein.“
„Vielleicht ein Echo ...?“
Ludovic grinste übers ganze Gesicht. „Ich glaube kaum. Genaues lässt sich nicht sagen, aber ich bin hauptsächlich der Arzt an Bord. Du solltest dich an Rudolf wenden.“ Damit nickte er in Richtung des Leutnants, der an seinen Geräten arbeitete.
Peer beobachtete aufmerksam den Bildschirm, um dann den Kopf in Richtung Astroscheibe, die das Hologramm zugeschaltet hatte, zu wenden. Die Abbildung hatte einen helleren Schein angenommen und schien nähergerückt zu sein. Der Kurs der CHARON steuerte langsam das fremde Objekt an. „Rudolf, was ist das für ein Ding? Kannst du es deutlicher heranholen?“
Rudolf wischte mit seiner Hand über seinen Bildschirm und schon änderte sich das Bild im Hologramm. Anders als auf dem Bildschirm konnte man die Stellung der CHARON zum Zielobjekt wesentlich besser erkennen.
Die CHARON näherte sich von schräg oben dem Objekt. Nun wurde es deutlich: Der angebliche Planet war eine Halbkugel und künstlichen Ursprungs. Er glich einem an der Äquatorlinie durchgeschnittenen Planeten. Die scheibenförmige Oberfläche mit einem Durchmesser von fünfzig Kilometern und einer Dicke von sieben Kilometern wurde von einer halbkugelförmigen Biosphärenkuppel aus durchsichtigem Material geschützt, in dessen Zenit eine Kunstsonne schwebte. Auf der Oberfläche erstreckte sich eine natürliche Landschaft, hauptsächlich aus einem ausgedehnten Wald bestehend. Das Wetter schien durch technische Vorrichtungen simuliert zu werden.
„Das ist ein künstliches Objekt, das hier lautlos im Weltall seine Bahn zieht. Wie ein zielloser Wanderer. Es sollte mich nicht wundern, wenn es dort Leben gibt.“ Benjamin war einerseits enttäuscht, keinen Planeten vor sich zu haben, zugleich jedoch hoffnungsfroh, mit Leben rechnen zu können.
Ben lehnte sich ruhig in dem Stuhl zurück und betrachtete die Personen um sich herum. Peer, der Kommandant der CHARON, der immer ein Pokerface trug und den nichts aus der Ruhe zu bringen schien, und wenn doch, zeigte er es nicht. Er wirkte wie üblich als Herr der Lage. Leutnant Björn Hartmann starrte konzentriert auf den Holoschirm, so als ob er sich keine einzige Kleinigkeit entgehen lassen wollte. Rudolf, der immer gute Laune verbreitete und den Optimisten der Besatzung darstellte. Hauptmann Kurt Jessan, der Sicherheitsoffizier, dessen Zuverlässigkeit sprichwörtlich war, ein ruhender Pol in der CHARON, immer besonnen und korrekt.
„Erwartest du, dort - wie du das Objekt auch nennen willst - Leben anzutreffen?“, fragte ihn Hegen.
„Nicht in diesem Sinn“, sagte Ben zögernd.
Dr. Schmird und Petra Müller, die Armierungsoffizierin, nickten bestätigend fast synchron.
Hegen war von der Antwort enttäuscht. „Das sagt mir kaum etwas.“
Wie von Ben neu berechnet, war das Objekt ein Raumschiff oder besser eine Station. Als die CHARON näher herankam, wurden die Übertragungen deutlicher aufgefangen. Es handelte sich um verschiedenartige Ausdrucksweisen, die von einer elektromagnetischen Sprache herrührten und nichts anderes waren als das, was sie selbst gesendet hatten.
Ben wandte sich an Rudolf Stein. In seiner Eigenschaft als Kommunikationsoffizier war er für die Kontaktaufnahme zuständig. „Rudolf, kannst du etwas in Erfahrung bringen? Bekommst du Antworten?“
Leutnant Stein versuchte bereits Kontakt herzustellen, doch erhielt er keine Antworten. Alles, was die CHARON erreichte, waren seine zurückgeschickten Fragen. „Da gibt es wohl kein Leben in unserem Sinn. Höchstens, wenn überhaupt, nur elektromechanischer Art. Ein intelligentes Wesen hätte sicherlich bereits geantwortet. Und eine Künstliche Intelligenz ebenfalls.“
„Einigen wir uns erst einmal darauf, dass es kein Raumschiff ist, sondern nur eine Plattform“, meinte Hegen. „Und ich würde WANDERER als Namen durchaus übernehmen. Die Plattform scheint keinen eigenen Antrieb zu besitzen. Ihr wurde wahrscheinlich einmal ein ,Schubs‘ gegeben und seither driftet sie mit ungefähr 10.000 Kilometer pro Sekunde durchs Weltall. Ich bin dafür, dass wir der Plattform einen Besuch abstatten.“
Hegen gegenüber saß die Pilotin Patricia Kress. Sie war größer als die Armierungsoffizierin Petra Müller und hatte ein Gesicht, das so schön war, dass sie als erstklassiges Model hätte arbeiten können. Und während sich viele Modelle durch plastische Chirurgie „verbesserten“, war bei ihr alles natürlichen Ursprungs. Von der hohen Stirn mit den braunen Augen darunter bis hin zu ihren langen Beinen. Statt eine Modellkarriere zu beginnen, hatte sie an der Weltraumakademie studiert und als Beste ihres Jahrgangs die Ausbildung zur Pilotin bestanden.
Peer Dexter Hegen sah hinüber zu seiner Pilotin. Diese schien nur darauf zu warten, neue Befehle zu erhalten.
„Pat, umkreise WANDERER und dann bring uns in den Zenit, aber so, dass wir nicht in die künstliche Sonne schauen müssen. Ich will die Landschaft betrachten können.“
Sie wischte mit einer Hand über ihre Paneele und mit der anderen eine Strähne ihres brünetten Haares hinter das Ohr. Sekunden später nahm die CHARON gemächlich Fahrt auf und umrundete den einsamen WANDERER. Es schien so, als würde sich der Begriff für die Plattform endgültig einbürgern.
Der Diskus umrundete die Plattform wie ein Insekt ein riesiges Landsäugetier. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Hauptsächlich Wald. Drumherum ein künstlicher Fluss, der kein Anfang nahm und kein Ende fand. Stattdessen floss er hauptsächlich am Rand der Biosphärenkuppel entlang und mit einigen Windungen auch durch den Wald, durchquerte Wiesen, bildete ab und an Sandbänke aus, nur um wieder auf sich selbst zu treffen.
Die Besatzung der CHARON beobachtete von ihren Sitzen aus, wie ihr im Vergleich winziges Raumfahrzeug an der Biosphäre entlang flog. Ihre Schweigsamkeit, so kam es Björn vor, war dem Anlass angemessen tief und ehrfürchtig, selbst für Menschen.
Die Biosphärenkuppel war eine relativ flache künstlich angelegte Kreisfläche mit einer transparenten Kuppel mit einem Durchmesser von fünfzig Kilometern.
Es war schon eine komische Vorstellung, dass die CHARON hunderttausendfach darauf hätte Platz finden können; Björn versuchte sich vorzustellen, wie die CHARON in diesem großen Zylinder wie ein riesiges Modell in einer Vitrine schweben würde.
Plötzlich reagierte Björn Hartmann, der Astrogator der CHARON. „Da, eine offene Schleuse, groß genug, um die CHARON aufzunehmen.“
„Wir fliegen weiter“, meinte Peer Dexter Hegen. „Mit der CHARON werden wir bestimmt nicht einschleusen. Die Gefahr, durch einen dummen Fehler das Schiff zu verlieren, kann ich mir nicht leisten. Zu Fuß zur VASCO DA GAMA zurück geht nicht.“
Der Diskus flog weiter, immer an der künstlichen Welt entlang. Keine weiteren Auffälligkeiten. Außer den Messgeräten, Kommunikationsgeräten und Ähnlichem, die aus der Außenhülle herausragten. Sichtöffnungen, also Fenster, Bullaugen und Ähnliches, waren nicht zu erkennen. Das Raumschiff stand nun im Zenit der Kuppel, jedoch etwas tiefer, damit die künstliche Sonne die Beobachtung nicht störte. Der Ausblick war fantastisch. Die Ansicht füllte die ganze ein mal zwei Meter große Holographie. Jede Einzelheit erschien in dreidimensionaler Darstellung und warf den Schatten, wie es die Kunstsonne ermöglichte. Alle notwendigen Scans waren durchgeführt worden, sodass selbst kleine Einzelheiten zu erkennen waren. Fast alles Wald, dazwischen Wiesen in saftigem Grün, Hügel und ein paar Steinhaufen, die man jedoch nicht als Berge bezeichnen konnte. Überall blühte es und obwohl wild, machte die Oberfläche einen gepflegten Eindruck. Eben eine künstliche Welt, beeindruckend in der Dimension und der Kühnheit der Konstruktion. Eine Welt für sich, eine zwischen den Sternen driftende Biosphäre.