Die Geschichte der Zukunft

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Statt Arbeiter-Mietskasernen neben der Großfabrik können sich die Beschäftigten ein Häuschen am Stadtrand leisten – und mit dem Auto zur Arbeit pendeln. Große Geschäfte und Lebensmitteldiscounter siedeln sich an den Ausfallstraßen an, wo sie mit dem Auto gut erreichbar sind. Mit dem Auto wird der Radius größer, eine Arbeitsstelle anzunehmen. Die Großfamilie zerfällt weiter, wenn Kinder und Enkel nicht mehr am Ort wohnen. Für den Jugendlichen des Jahres 1957 ist es eine Sensation, mit dem Motorroller über die Alpen zu tuckern.

Zwar hat schon der dritte Kondratieff die Massenproduktion ermöglicht, doch erst durch das Auto lassen sich diese schier endlosen Konsumgüterberge überhaupt zum Verbraucher bringen. Das ist der stärkste Wohlstandseffekt individueller Mobilität: Wer größere Mengen produziert, kann sie pro Stück billiger herstellen. Massentourismus wird in den 1960er/​70er Jahren selbstverständlich. Massenkonsum, Massenkultur und Sozialstaat entfalten sich (was jedoch nicht in gleichem Maße zu mehr Zufriedenheit führt).

Das Auto durchdringt die Gesellschaft nicht von heute auf morgen und nicht nach einem konstanten Trend, sondern wie jedes Produkt am Markt dynamisch: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellen Gas und Öl nur einen geringen Anteil des Energieverbrauchs. Die ersten Autos fahren mit Benzin- und Dieselmotoren, weil diese besonders energiereich sind. Und weil Ölprodukte nun schon mal in einem dünnen, aber flächendeckenden Netz der Apotheken vorhanden sind, nützt sie auch die Energiewirtschaft. Um 1960 überholen Gas und Öl die Kohle als Energiequelle und liefern in den 1980er Jahren über 60 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs. Doch der eigentliche Antrieb dafür ist das Auto.

Eine Gesellschaft am Fließband

Nikolaus Otto baut den ersten Benzinmotor schon 1861, Rudolf Diesel den nach ihm benannten Motor 1892. Bis es soweit ist, müssen aber erst einmal eine Reihe von Erfindungen gemacht werden: ein Antrieb, der energieeffizienter und leichter ist als eine Dampfmaschine; Lösungen dafür, wie Kraft vom Motor auf die Räder übertragen wird, wie das Gefährt zu lenken ist und wie die Räder zu federn sind. Schon Leonardo da Vinci bringt im frühen 16. Jahrhundert ein Dampfauto zu Papier. Die Idee, eine verkleinerte Dampfmaschine auf Räder zu stellen, liegt in der Luft, und so manchem Tüftler fliegen in den Jahrhunderten pulver- oder dampfgetriebene Gefährte um die Ohren, bis Nikolaus Otto (in Verbesserung eines mit Leuchtgas betriebenen Motors des Franzosen Lenoir) 1861 in Deutz bei Köln den ersten Benzinmotor baut, vor allem für kleine Handwerksbetriebe als Alternative zur Dampfmaschine. Sein technischer Direktor Gottfried Daimler und sein Leiter des Konstruktionsbüros, Wilhelm Maybach, sammeln damit viel Erfahrung und machen sich selbständig, um einen eigens konstruierten Motor in die Karosserie einer Pferdedroschke einzubauen. Als Daimler damit im Herbst 1886 eine Tour ins Stuttgarter Umland unternimmt, werfen die entsetzten Menschen mit Steinen und Eiern nach den Insassen. Ebenso ist es schon seinem Sohn Paul im Jahr zuvor ergangen, als der am 10. November 1885 mit einem Motorrad »ohne Pferd« und »schneller als ein Mensch laufen kann« von Bad Cannstatt nach Untertürkheim und wieder zurückknattert – die Passanten bedrohen den »reitenden Teufel« mit Fäusten, schreien ihm »Höllenmaschine« und »Stinkrad« hinterher. Gleichzeitig mit Otto, Daimler und Maybach (das bestätigt wieder Kondratieffs Theorie, dass die nötigen Erfindungen zeitgleich und unabhängig voneinander gemacht werden) tüftelt auch der Mannheimer Carl Benz (nach dem das Benzin benannt ist) an einem »richtigen« Auto, das er vom Motor bis zur Karosserie selbst konstruiert. Am 29. Januar 1886 wird Benz das Patent für sein Fahrzeug mit einem Verbrennungsmotor erteilt – das ist die offizielle Geburtsstunde des Autos. (Beide Firmen werden übrigens 1926 miteinander fusionieren, nachdem Ford mit seiner Fließbandproduktion nach Deutschland kommt.) Ein weiterer deutscher Auto-Pionier ist Rudolf Diesel, der den nach ihm benannten Motor 1892 als Patent anmeldet – er wird für Nutzfahrzeuge in der Landwirtschaft und im Transport wichtig werden.

Vor dem Ersten Weltkrieg gibt es Hunderte kleine Automobil-Garagenfirmen, die als Werkstätten Teile noch per Hand fertigen und zusammenbauen. Weil Standards fehlen, ist es schwer, Teile einfach einzukaufen – sie sind meist inkompatibel und lassen sich bei Reparaturen nicht einfach austauschen65. Henry Ford geht zwischen 1908 und 1914 dazu über, handgefertigte Teile durch andere zu ersetzen, die von Maschinen gestanzt, geschliffen oder gefertigt werden. Zuerst sind es die Arbeiter, die an einer Schlange von Auto-Torsen entlanggehen und dabei ihre Teile montieren oder Handgriffe ausführen, bevor das Fließband 1913 eingeführt wird, das die Autos an den Arbeitern vorbeitransportiert (siehe Charly Chaplins Film »Modern Times«).

Im Vergleich zur früheren Handarbeit senkt dieses Netz an organisatorischen, technischen und sozialen Innovationen die Kosten im Automobilbau um bis zu 88 Prozent. Das ist die betriebswirtschaftliche Revolution des vierten Kondratieffs. Der Arbeiter hat nur eine Aufgabe, nur einen Handgriff, eine Schraubendrehung zu tun – er bestellt keine Teile mehr, kümmert sich nicht um sein Werkzeug und muss auch nicht mehr verstehen, was andere machen oder wie die Handgriffe zusammenwirken. Was für ein Paradoxon, dass das Auto individuelle Bedürfnisse befriedigt, die neue Massenfertigung jedoch dafür vom Einzelnen fordert, sich der Maschine total zu unterwerfen. Die Entmündigung des Arbeiters ist perfekt. Er muss streng diszipliniert arbeiten, ist gehorsam und austauschbar, lässt sich leichter in den Krieg schicken und übernimmt religiöse Lehren unreflektierter als jene Informationsarbeiter im sechsten Kondratieff, die jede Sekunde in einer anderen beruflichen Situation neu prüfen und entscheiden müssen, was recht und richtig ist. Sogar die Wissenschaften bilden mit ihrer Überspezialisierung die Spezialisierung des Fabrikarbeiters ab (was das inzwischen anachronistische Wissenschaftssystem in manchen Fällen daran hindert, Probleme, die sich nun mal nicht an akademische Fachgrenzen halten, zu lösen).

Durch die Fließbandorganisation fällt der Preis des Fordmodells T von 850 Dollar im Jahr 1908 über 600 Dollar in 1913 auf 360 Dollar 1916. Während es vorher 12 Stunden und 28 Minuten gedauert hat, bis ein Auto zusammengebaut wird, sind es plötzlich im Schnitt nur noch 93 Minuten. Aus dem Spielzeug für reiche Leute wird ein Fortbewegungsmittel für die Masse. Das entscheidet den Wettlauf der Systeme: Das elektrische Auto, das 1913 rund 2800 Dollar kostet, verschwindet für ein Jahrhundert praktisch vom Markt. Das Modell T von Ford steigert seinen Marktanteil von 10 Prozent 1909 auf 60 Prozent im Jahr 1921.66 Die Löhne der Ford-Arbeiter sind hoch. Fließbandarbeit ist trotz der vielen Fehler immer noch so produktiv, dass sie sich trotz der Qualitätskontrollen und Nacharbeiten am Ende lohnt (zumindest, bis später im fünften Kondratieff die Japaner mit Hilfe von Roboterstraßen bessere Autos bauen als die mit menschlichen Fehlern behaftete Fließbandproduktion).

Die Marktdynamik des Autos

Je stürmischer sich die neue Basisinnovation entwickelt, um so stürmischer entwickelt sich die Wirtschaft. Die Dynamik des zusätzlichen gesellschaftlichen Nutzens spiegelt sich in der S-förmigen Kurve der weltweiten Autoproduktion wider: von 5,4 Millionen Stück 1929 und fast halbierten 3,1 Millionen Autos 1938 auf 8,2 Millionen in 1950. Die Zahl der jedes Jahr produzierten Autos steigt in den 50er Jahren um 58 Prozent auf 13 Millionen Stück 1960. In den 60er Jahren beschleunigt sich das Wachstum um 75 Prozent am stärksten auf 22,8 Millionen Stück, danach flacht das Wachstum auf nur noch 25 Prozent in einem Jahrzehnt ab auf 28,6 Millionen produzierte Autos im Jahr 1980. Als der Computer später hilft, Autos noch billiger und besser herzustellen, und sich die Schwellenländer der entwickelten Welt anschließen, schnellt die Autoproduktion auf 80 Millionen im Jahr 2011. Während 1950 gerade einmal 53 Millionen private Autos auf der Welt fahren, sind es beim Fall der Berliner Mauer 1989 gut 555 Millionen, im Jahr 2010 überschreitet sie die Milliardengrenze.

Auch der Weltrohölverbrauch folgt derselben S-Kurve (s. Grafik 114) und hat besonders zwischen 1960 (von 7,7 Milliarden Barrel) und 1973 (auf 20,4 Milliarden Barrel) den gewaltigsten Anstieg. Das erklärt, warum die Wirtschaft in den 50er und 60er Jahren so boomt, die frühe Beatles-Musik so schön sanft, sorglos und beschwingt aus dem Radio kommt und man als Junge die Haare ruhig ein bisschen länger wachsen lassen kann. Weitgehend parallel zum Autobestand und zur Rohölförderung verlaufen übrigens auch die S-Kurven von Staubsauger, Kühlschrank oder Waschmaschine. Der Grund: Sie werden oft von denselben Maschinen gefertigt, die auch in der Autobranche Elektrokomponenten fertigen oder kleine Bleche stanzen.

Damit hebt das technologische Netz des vierten Kondratieffs den Wohlstand auf ein neues Niveau. Der Aufschwung der Sowjetunion in den 1920er und 30er Jahren hängt eng zusammen mit der Motorisierung der Landwirtschaft. Die Kolchosen werden mit einem Netz von Traktoren und Reparaturwerkstätten überzogen. Während der beiden Fünfjahrespläne 1928 bis 1937 steigt die Stahlproduktion von 4 auf 17,7 Millionen Tonnen, die Elektrizitätserzeugung versiebenfacht sich, die Stückzahl der Werkzeugmaschinen verzwanzigfacht und die der Traktoren vervierzigfacht sich.67

In den USA arbeitet die Gesellschaft besonders früh an den Strukturen des neuen Kondratieffzyklus: Die Bevölkerung demonstriert für den Bau von Straßen (das wird am Ende des vierten Kondratieffs in Europa genau umgekehrt sein). Das Luxusgut Auto dringt in immer weitere Bevölkerungskreise ein – vor allem, weil Mitte der 20er Jahre 70 Prozent aller amerikanischen Autokäufe per Ratenkredit finanziert werden. Mitte der 30er Jahre besitzt schon jede zweite amerikanische Familie ein Auto. Der Ausstoß der Raffinerien wächst schneller als die Autoproduktion. Was in Autos investiert wird, ist verhältnismäßig gering im Vergleich zu den Investitionen, die das Auto auslöst: Straßen, Werkstätten, Ölraffinerien und vor allem neue Wohngebäude in immer entfernteren Vororten der Stadt. Weil die amerikanische Eisenbahn das Baumaterial für die neuen Luxus-Siedlungen in besonders bevorzugter Naturlage in Florida gar nicht mehr transportieren kann, verhängt sie im Herbst 1925 ein Transportembargo gegen weniger wichtige Güter.68 Die Transportkosten explodieren. Für einen breiten Aufschwung reicht das Marktvolumen trotzdem noch nicht.

 

Währenddessen haben Frankreich und Großbritannien ihre Wehretats gekürzt und können mit dem emporschießenden deutschen Industriepotenzial, das im Sturmschritt den vierten Kondratieff erschließt, nicht mithalten. Ihnen bleibt zunächst nur eine Appeasementpolitik, also Hitlers Expansion ins entmilitarisierte Rheinland, nach Österreich und in die Tschechoslowakei nachzugeben, um Zeit zu gewinnen, die eigene Rüstungsindustrie auf Touren zu bringen.

Doch selbst wenn für neue Panzerfabriken Geld da ist – England fehlt es dafür an Kompetenzen, an ausgebildetem technischen Personal, an Ingenieuren. Dort ist noch nicht genug in den nächsten Strukturzyklus investiert worden – im Gegensatz zu Deutschland.

Warum Hitler-Deutschland den Blitzkrieg gewinnt

Der Ökonom John Maynard Keynes lobt 1936 die Politik des Deutschen Reiches, das sich so schnell von der Weltwirtschaftskrise erholt. In seiner Theorie reicht es, Leute zu bezahlen, die Löcher mit Schaufel und Hacke ausgraben und abends wieder zuschütten – Hauptsache, es entsteht wieder Nachfrage.

In der Tat hat Hitler 1933 mit einem Trick künstlich Geld geschaffen und in die Wirtschaft gepumpt. Die »Metallurgische-Forschungs-GmbH« (Mefo) – dahinter stehen Rüstungsfirmen wie Krupp, Siemens, Rheinstahl, Gutehoffnungshütte – darf ihre Einkäufe mit Wechseln bezahlen, die nicht schon nach drei Monaten wieder eingelöst werden müssen. Die Reichsbank verpflichtet sich, den »Mefo«-Wechsel jederzeit in Bares umzutauschen und nach fünf Jahren mit vier Prozent zu verzinsen. Die Geldmenge wird aufgebläht, ohne dass es dafür eine Gegenleistung gibt. Bis 1938 erreicht der Mefo-Bestand 12 Milliarden Reichsmark, die Staatsverschuldung steigt von 12 Milliarden Reichsmark 1933 auf 42 Milliarden Reichsmark 1938.

Normalerweise führt das zur Inflation – wenn mehr Geld als Waren zirkuliert, dann muss pro Wareneinheit eben mehr Geld bezahlt werden. Doch Hitler stoppt 1934 die Löhne und setzt gleichzeitig die Preise fest. Wer überschüssige Reichsmark hat und sich nichts dafür kaufen kann, der hortet sie eben auf dem Konto – statt Inflation entsteht zwangsgespartes Geld. Die deutschen Fabriken für Wehrmachts-Lkws und Autobahnen werden gebaut mit einem Kredit auf den Wert der Währung. Nur wenigen, die in der Inflation vor der Währungsreform 1948 ihr Geld verlieren, ist klar, dass Hitler ihr Erspartes schon Jahre zuvor ausgegeben hat. Der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung steigt nach 1933 dennoch kaum – trotz der hohen Ausgaben. Was mehr produziert wird, geht fast ausschließlich in Infrastruktur und Rüstung. Gibt das Reich 1933 noch weniger als ein Prozent des Bruttosozialproduktes für die Wehrmacht aus, so fließt 1938 fast jede fünfte Mark der Volkswirtschaft in die Rüstung.

Alle Produktionsfaktoren werden so knapp, dass der Staat bestimmt, welche Fachkraft in welcher Firma eingesetzt wird. Wer an einer Baustelle mehr als zwei Tonnen Stahl verbauen will, braucht dafür eine amtliche Genehmigung. Selbst als die besetzten Gebiete Österreich, Tschechoslowakei und später Polen reichlich Arbeitskräfte und Rohstoffe liefern, verschlingt die Rüstung so viel, dass es immer nur gerade so ausreicht, um den nächsten der Blitzkriege zu führen, mit denen die Wehrmacht neue Ressourcen für den »richtigen« Krieg um Lebensraum im Osten erobert.

Wie später beim Computer auch wird die Basisinnovation des vierten Kondratieffs nicht allein aus den Marktkräften heraus erschlossen, sondern mit Hilfe staatlicher Ressourcen. Die NS-Regierung gibt der Industrie Ziele vor, die sie innerhalb marktwirtschaftlicher Regeln erfüllt – die Unternehmen verantworten selbst, wie und mit welchem Faktoreinsatz sie die Produktionsvorgaben erfüllen. Weil die Preise nicht mehr anzeigen, wie knapp etwas ist, setzt ein Reichskommissar die Preise fest. Der Industrie wird es dabei zunehmend unwohl: Sie kritisiert die wachsende Staatsverschuldung und das ineffiziente Wirtschaften, alles selbst herstellen zu wollen (um im Krieg vom Ausland unabhängig zu sein). Göring beruhigt sie, indem er ihr gigantische Rüstungsaufträge mit entsprechenden Verdienstmöglichkeiten verspricht; wer besonders »brav« ist, bekommt erbeuteten jüdischen Besitz.

Per »Diktat« an die Automobilindustrie befiehlt Hitler, einen »Volkswagen« herzustellen, der nicht mehr als 999 Mark kosten soll. Doch mit den fünf Mark, die Arbeiter wöchentlich für ihren Kraft-durch-Freude-Wagen sparen, bezahlen sie in Wirklichkeit den Krieg: Die Autos, die schließlich vom Band laufen, bekommt die Wehrmacht. Im Reichsarbeitsdienst beschäftigt der NS-Staat Hunderttausende bei Notstandsarbeiten – dem Bau von Straßen, Dämmen (die Straßen vor Flussüberschwemmungen schützen) und Kanälen (die Flächen entwässern, auf denen eine Straße gebaut wird). Bei anfangs sechs Millionen Arbeitslosen sind die 115.000, die 1935 Autobahnen bauen, eher wenige. Und doch ist dies entscheidend für den Aufschwung: Nicht wie bei Keynes das Geld, nicht die verdienten Löhne der Arbeiter kurbeln die Wirtschaft an. Der Bau der realen Infrastruktur macht den Autokondratieff rentabel. Auch in den USA sind es nicht die Gelder des »New Deal«, die Beschäftigung schaffen, sondern die Strom erzeugenden Stauseen oder die Auto-Highways, die ein ganzes Cluster neuer Nachfrage, Produkte und Beschäftigung nach sich ziehen.

Während die Investition in den nächsten Kondratieff den Wohlstand hebt, schwächt ihn die Regierung andererseits dadurch, dass sie die Marktgesetze außer Kraft setzt (die erst Ludwig Erhard wieder einsetzen wird). Deutschland soll sich autark mit Lebensmitteln versorgen können, die Propaganda malt das Schreckgespenst einer »Brotkrise« an die Wand. Die Landwirtschaft erhält den Auftrag, die »Nahrungsfreiheit des deutschen Volkes zu erkämpfen«, ohne dabei auf den Preis, also auf deren Knappheit von Ressourcen, zu achten. Das verteuert die Produktion, betreibt Raubbau an Material und Arbeitskraft: Zuckerrüben werden verstärkt angebaut, um von Zuckerimporten unabhängig zu werden, obwohl der Zucker auf dem Weltmarkt erheblich billiger ist als der aus dem eigenen Anbau. Bereits Ende 1933 kostet Weizen in Deutschland doppelt so viel wie auf dem Weltmarkt, Butter ist 1934 dreimal so teuer wie in Dänemark oder Holland. Ihr Ziel, sich selbst versorgen zu können, erreicht die NS-Regierung nicht: 1939 beträgt die »Fett- und Fleischlücke« noch 20 Prozent.

Die Menschen erinnern sich daran, wie sehr sie im Ersten Weltkrieg gehungert haben, und sehen Hitlers Forderung, »neuen Lebensraum« erobern zu müssen, für notwendig an. Hitlers Ideologie ist der Darwinismus des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts, eine Art Ersatz-Religion: Nicht ein gütiger Gott plant und entwickelt willentlich die Schöpfung, sondern der Ausleseprozess der Arten. Die Evolution ist das Ergebnis vieler Siege der Stärkeren über die Schwächeren. Die Nationalsozialisten ziehen daraus die logische Konsequenz: Dann sei die deutsche Rasse früher oder später, dafür aber unvermeidlich dazu gezwungen, andere Völker auszulöschen, zu versklaven und auf dem begrenzten Terrain der Erde deren Lebensraum einzunehmen. Politik ist Kampf der Völker gegeneinander, aus dem die Rasse hervorgeht, welche die höchste Qualität aufweist.

Das zu erreichen macht Hitler zu seiner persönlichen Lebensaufgabe, das meint sein Buchtitel: »Mein Kampf«. Zentrale Zukunftsaufgabe: Lebensraum im Osten zu erobern, in dem die slawische Bevölkerung als Arbeitssklaven dient. In dem neuen Siedlungsgebiet sollen »deutsche Bauerngeschlechter kraftvolle Söhne zeugen, in Randkolonien, deren Bewohner ausschließlich Träger höchster Rassenreinheit sind«. Während es der Bevölkerung vielleicht um Revanche gegen die ungerechte Behandlung nach dem Ersten Weltkrieg geht, haben die Nazis andere Pläne: Die Polen sollen sich mit dem großgermanischen Reich verbünden, die Franzosen sollen schnell geschlagen werden, damit sie sich nicht mehr einmischen, England bekommt die andere Hälfte der Welt zugesprochen und ist damit ein Verbündeter, und erst im eigentlichen Kampf um Lebensraum wird dann die Sowjetunion erobert.

Es kommt aber alles ganz anders: Die Polen wollen sich einfach nicht verbünden und müssen besiegt werden, damit man weiter in den Osten marschieren kann; England freut sich überhaupt nicht über das zugestandene Imperium und erklärt zusammen mit Frankreich Deutschland den Krieg (die Amerikaner wundern sich 1946 bei den Nürnberger Prozessen, mit welchen Einfaltspinseln sie es während des ganzen Krieges zu tun gehabt haben); paradox ist, dass Russland 1938/​39 nicht nur neutral bleibt, sondern auch noch Rohstoffe für den Krieg im Westen liefert. (Es hat sich selbst kampfunfähig gemacht, als es bei blutigen innenpolitischen Machtkämpfen einen Großteil seiner Offiziere erschossen hat. Diesen „Säuberungen“ fällt 1938 auch der Ökonom Nikolai Kondratieff zum Opfer.)

Dieser Krieg ist vor allem ein motorisierter Krieg. Die Deutschen haben die neue Basisinnovation mit Hochdruck vorangetrieben. Der Krieg mobilisiert schlagartig weitere Ressourcen, die Infrastruktur des vierten Kondratieffs noch schneller zu erschließen: Lastwagen, (PKW-) Kübelwagen und Schützenpanzer werden gebaut, Soldaten in Fahrschulen ausgebildet, Kriegsgefangene bauen Straßen. Vor allem aber passt sich das Deutsche Reich besser den neuen Erfolgsmustern an als seine Nachbarn. Zwar hat es 1939 weniger Panzer als Frankreich, dafür aber viel modernere, und es setzt sie eben nicht verteilt hinter der Infanterie ein, sondern massiert in eigenen Verbänden. Kurz: Die Wehrmacht setzt die Basisinnovation kompetenter ein.

Auch haben die Deutschen am Anfang mehr Divisionen, die mit Pferdewagen unterwegs sind und nicht mit Motorwagen, aber es sind die Panzer- und motorisierten Infanteriedivisionen, die im Blitzkrieg Polen und Frankreich in wenigen Wochen überfahren und im Dezember 1941 bis kurz vor Moskau vorstoßen. Militärhistoriker sehen die Panzerschlacht von Kursk im Sommer 1943 als die Entscheidungsschlacht des Krieges, weil die Russen nun in der Lage sind, eine große Masse an qualitativ ebenbürtigen Panzern aufzubieten. Und am Ende ist es die Übermacht an Flugzeugen und Panzern, die im Westen das Deutsche Reich niederkämpft. So wie der Erste Weltkrieg den dritten Kondratieffabschwung dadurch verschärft, indem er das technologische Netz der Elektrifizierung beschleunigt erschließt, so beschleunigt der Zweite Weltkrieg den vierten Kondratieffaufschwung, weil er die dafür nötige Infrastruktur und Produktionsmöglichkeiten schafft: Die US-Öl- und Gummiindustrie baut während des Krieges ihre großen Kapazitäten auf, die danach die Wohlstandsgesellschaft versorgen.

Den Krieg gewinnt das größere Industriepotenzial: Bereits 1942 bauen die Amerikaner schneller Schiffe, als die deutschen U-Boote sie versenken können. Im Februar 1944 zerstören die Alliierten große Teile der deutschen Flugzeugindustrie, im Mai die Hydrierwerke, die danach nur noch sechs Prozent der vorherigen Menge an Flugbenzin liefern können. Die deutsche Bevölkerung ist den alliierten Luftangriffen schutzlos ausgeliefert, die deutsche Industrieproduktion, die 1944 den höchsten Ausstoß erreicht, sinkt durch die Luftangriffe um mehr als ein Drittel. Bei der Landung in der Normandie stehen den 12.837 alliierten Flugzeugen dort nur noch 319 deutsche gegenüber. Insgesamt haben die Alliierten 20-mal soviel Panzer und 25-mal so viel Flugzeuge wie die Deutschen – da ist es erstaunlich, dass sich die Wehrmacht überhaupt so lange hält.

Auch Japan hat aus wirtschaftlicher Sicht keine Chance in diesem Krieg: Die USA produzieren selbst in einem schlechten Jahr wie 1938 siebenmal so viel Stahl wie Japan, fördern siebenmal so viel Kohle, haben die 17-fachen Staatseinnahmen und bauen 80-mal so viele motorisierte Fahrzeuge wie Japan. Am Ende des Krieges produzieren die Amerikaner mehr als die Hälfte der weltweiten Industriegüter und stehen damit auf dem relativen Gipfel ihrer Macht.

 

Warum im vierten Kondratieff die Schäfchen Schäfchen bleiben

Das ökonomische Paradigma des vierten Kondratieffs funktioniert zu Beginn gerade mit einer gesellschaftlichen Gruppenethik sehr gut – wie Nationalsozialismus, Kommunismus, japanischer Rassismus. Der Wehrmachtsgeneral, der einen Angriffskrieg plant, der japanische Pilot, der amerikanische Häfen angreift, weil die USA sein Land hindern, sich weiter auszudehnen – deren Rechtsbewusstsein ist auf ihre Gruppe beschränkt. Vielleicht folgt das logisch aus der Art, die Arbeit zu organisieren: Diese Zeit bringt ein Menschenbild hervor, in dem der Einzelne nur als Teil einer Maschinerie, einer größeren Einheit, etwas wert ist. Das NS-Prinzip von Führer und Gefolgschaft wird auch in den Betrieben durchgesetzt, die Mitspracherechte der Betriebsräte, die schon in den 20er Jahren beschnitten worden sind, werden faktisch ganz beseitigt. Bedingungslos gehorchende »Soldaten der Arbeit« werden zu Arbeitssklaven erniedrigt und später im Krieg durch Zwangsarbeiter ersetzt. Eine auf die Spitze getriebene Gruppenethik wie der Nationalsozialismus muss daher die Träger einer konkurrierenden Universalethik vernichten, die dem Einzelnen den höchsten Wert ebenso zumisst wie jedem anderen Menschen außerhalb der willkürlich definierten Gruppe. Der ehemalige Messdiener Hitler redet auch von Gott, aber von einem, der denen hilft, die sich mit der Macht des Stärkeren durchsetzen.

Das Christentum wird daher mit allen Mitteln bekämpft – von subtil bis offen gewalttätig: Der von Hitler ernannte Reichsbischof Ludwig Müller soll das evangelische Kirchenvolk an die Diktatur binden. Seine Synodalen kommen in NS-Uniform in das Kirchenparlament und schreien die nicht-deutsch-christliche Minderheit nieder. Die »Deutschen Christen« gewinnen aber keine breite Basis: Sie giften gegen die »offenbar entstellten und abergläubischen Berichte des Neuen Testamentes«, gegen die »Sündenbocks- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus« und fordern einen »heldischen Jesus«. Die »bekennende Kirche«, die wie Dietrich Bonhoeffer Hasstiraden, willkürliche Gewalt und Mord anklagt, ist eine kleine exponierte Minderheit. Die meisten Menschen in den Gemeinden bleiben neutral. Viele Pastoren beider großen Konfessionen danken 1939 in Predigten Gott für den Sieg über Polen. Die Menschen damals sind nicht frommer oder gottesfürchtiger, aber angepasster als heute – denn weder die Arbeitswelt noch das soziale Umfeld verlangen von einem Industriearbeiter des vierten Kondratieffs (und alle anderen gesellschaftlichen Institutionen von der Behörde bis zum Krankenhaus sind der Fabrik nachempfunden), eine Situation selbst zu beurteilen, kreativ eine Lösung zu initiieren und mit der eigenen Existenz zu verantworten.

In der katholischen Welt haben Laien, Pfarrer und Seelsorger seit 1924 die Weltanschauung der Nationalsozialisten als barbarisch zurückgewiesen. Nach Rücksprache mit seinem Mainzer Generalvikar predigt der Dorfpfarrer von Kirschhausen, Heinrich Weber, 1930: Katholiken dürfen kein Mitglied der NSDAP sein, Nazis keine Sakramente empfangen. Diese Position machen sich alle Bistümer zu eigen – abgemildert nur in Bayern von einer Einzelfallprüfung, ob einer nur Mitläufer ist oder sich wirklich für die Ziele der Partei einsetzt. Bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 bleibt die NSDAP in allen mehrheitlich katholischen Wahlkreisen deutlich unter Reichsdurchschnitt.69 Geringe Verluste der BVP in Bayern werden durch Gewinne des Zentrums mehr als ausgeglichen.

Nach 1933 ist das Konkordat zwischen Hitler und der katholischen Kirche das Papier nicht wert: Die Nazis schließen Bekenntnisschulen, christliche Tageszeitungen und zum Beispiel die theologische Fakultät in München. Kirchliche Verbände werden offen terrorisiert. In der Diözese Augsburg verfolgt der NS-Staat jeden zweiten Priester mit Hausdurchsuchungen, Verhören und schikanösen Anzeigen (in Einzelfällen bis zu 90 Strafanzeigen). Wer die Wahrheit so ungeschminkt nennt wie der Münchner Jesuitenpater Rupert Mayer, wird wie er misshandelt und ins Konzentrationslager Dachau gesperrt. Das ist der existenzielle Druck, unter dem die Bischöfe stehen.

Martin Bormann, Leiter der NSDAP-Parteikanzlei, schreibt den Parteigenossen, warum der Nationalsozialismus dem »ewig gestrigen Christentum« weltanschaulich überlegen sei: Er beruhe eben auf wissenschaftlichen Fundamenten, während das »Christentum unveränderliche Grundsätze hat, die vor fast 2000 Jahren gesetzt und immer mehr zu wirklichkeitsfremden Dogmen erstarrt sind«. Gleichzeitig verleumdet die gleich geschaltete Presse die Kirche: Mönche würden Bordelle betreiben, Barmherzige Brüder hätten Kranke zu Tode gefoltert, »wie sie es in der Inquisition gelernt haben«, usw. Von »Massenaustritten«, wie sie die Presse behauptet, kann bei einer Austrittsquote von 0,43 Prozent im Jahr 1937, dem Höhepunkt der Kirchenhetze, keine Rede sein – erst recht, wenn man bedenkt, dass der NS-Staat seine Beamten und Funktionäre zum Kirchenaustritt zwingt.

Bischöfe und Papst wehren sich, indem sie an der Gestapo vorbei ein Rundschreiben »Mit brennender Sorge« in die Pfarrgemeinden schleusen. Darin verurteilen sie die heidnische Helden-Götterverehrung und Rassenlehre, ermutigen die Gläubigen und stärken den Abwehrwillen. Doch wie weit sie mit dem Widerstand gehen sollen, darüber streiten sich die Bischöfe bis nahe an den offenen Bruch: Berlins Bischof Konrad Graf von Preysing will in der »Öffentlichkeit Massenreaktionen anregen«. Dagegen stellt sich der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, der 80-jährige Adolf Bertram aus Breslau. Er hat schon den Kulturkampf gegen Bismarck mitgemacht und sieht, die Nazis würden dann den letzten Rest der kirchlichen Handlungsmöglichkeit unterbinden. Bertram sagt, er wolle es nicht dazu kommen lassen, dass Gläubige wieder ohne Geistliche und ohne die Sakramente sterben müssen. In Briefen bitten die deutschen Bischöfe Pius XII., sich nicht öffentlich gegen Hitler zu äußern, weil er dann nur mit noch größerer Gewalttätigkeit gegen Juden und Katholiken vorgehen würde.70 Das Londoner Foreign Office veröffentlichte jüngst Dokumente über Verhandlungen zwischen der britischen Regierung und Wehrmachtsoffizieren des deutschen Widerstandes, die der Papst persönlich vermittelte.71 Aber ein Aufstand der Christen bleibt aus – es gibt in diesem sozioökonomischen Paradigma zu wenige, die aus ihrem eigenen Gewissen heraus entscheiden, und zu viele, die den faschistischen Kadavergehorsam mit dem christlichen Gehorsam verwechseln (zum Beispiel Benedikt von Nursia: »Aufeinander hinhören, was der Geist einem zu sagen hat.«). Und auch der Antisemitismus der Nazis (der seine Tradition hat) entspricht der Geisteshaltung selbst prominenter Kirchenvertreter – was zeigt, wie sehr Menschen unter der Spannung zwischen der Theorie des Glaubens und ihrem Zeitgeist stehen.

Wer heute deshalb mit dem Finger auf die Kirchen zeigt, gehört oft gerade zu den Kindern und Enkeln der Täter. Christen haben dort versagt, wo der Glaube nicht als Universalethik, sondern als Gruppenethik gelebt wird, die Juden und verfolgte atheistische Gruppen ausschließt. Die Evangelische Kirche hat im Oktober 1945 im Stuttgarter Schuldbekenntnis erklärt: »Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.« Damit lösen die Verfasser im Land der Täter einen Sturm der Entrüstung aus, denn die meisten bemitleiden sich vor allem selbst – als Opfer.

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