Die Geschichte der Zukunft

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Bei diesem Wohlstand, so Paul Kennedy, sei es kaum überraschend, dass die Briten in den 1860er und 1870er Jahren davon überzeugt sind, dass sie »mit der Anwendung der Prinzipien der klassischen Nationalökonomie das Geheimnis entdeckt« haben, das sowohl »zunehmende Prosperität als auch den Frieden in der Welt«20 garantiert – das meinen übrigens die Ökonomen im langen Aufschwung immer.

Nach diesem Kondratieffzyklus, um 1880, stellt das Land mit 22,9 Prozent fast ein Viertel der Weltindustrieproduktion her – natürlich kann es sich ein gut ausgerüstetes Heer, eine große Flotte und ein Kolonialreich leisten. Aber noch mal: Die Engländer sind damals nicht deswegen reich und mächtig, weil ihre Löhne niedriger sind, oder die Notenbank die Zinsen gesenkt oder die Geldmenge erhöht hat, sondern weil sie die Strukturen des neuen Kondratieffzyklus und seiner Basisinnovation als Erste und mit Vorsprung erschlossen haben.

Deswegen sind sie in dieser Zeit auch der weltweit führende Hersteller von Lokomotiven – die sind ebenso ein Exportschlager wie Schienen und sonstige Bahnausrüstungen. Großbritannien exportiert um 1850 jedes Jahr Waren im Wert von etwa 30 Millionen Pfund ins Ausland, um 1870 etwa 75 Millionen Pfund. Nie sind die englischen Exporte so stark gewachsen wie in den sieben Jahren von 1850 bis 1857 – jedes einzelne davon ist stärker als jedes andere Jahr davor oder danach in der Geschichte des Landes.21 Die Zinsen und Dividenden, die meist gleich wieder im Ausland investiert werden, summieren sich auf etwa 50 Millionen Pfund im Jahr.22

Damit schwappt der Strukturzyklus auch in andere Länder: Die amerikanischen Eisenbahnen werden mit dem Geld gebaut, das zuvor in England verdient wurde. Die Reise von New York nach Chicago verkürzt sich von drei Wochen auf drei Tage.23 Das US-Netz wächst in den 1850ern und 1860ern um durchschnittlich 2000 Meilen jedes Jahr, in den frühen 1870ern sogar noch um 5000 Meilen.

Deutschland krempelt seine Gesellschaft um

Dagegen Deutschland: Vor der bürgerlichen Revolution von 1848 kommt der Eisenbahn-Kondratieff nur langsam ins Rollen. Noch fehlen der Wille und die Freiheit, die Basisinnovation anzunehmen. Der Schwung der ersten Industriepioniere wird vor allem von einer monarchischen Regierungselite gebremst, die alle dafür nötigen gesellschaftlichen Innovationen verhindert: ein funktionierendes Kreditwesen, Schienennetze über Fürstentumsgrenzen hinaus, einen Staat, der einem das Produzieren nicht ständig verbietet. Ingenieure der königlichen Bergämter im Ruhrgebiet überwachen noch immer die Bergwerke in allen Angelegenheiten, selbst den Preis setzen die Behörden fest. (Erst nach der eingeschlafenen Revolution mischt sich der Staat nicht mehr in die Preisgestaltung ein und nimmt sich zurück, bis er 1865 nur noch die Sicherheit überprüft.)

Auch in der Bevölkerung regt sich Widerstand gegen das neue technologische System. Die schlesischen Weber in Peterswaldau protestieren im Hungerjahr 1844 weniger gegen ihre miserable Bezahlung. Sie haben vor allem Angst, ihre dürftige Einkommensquelle ganz zu verlieren, wenn die dampfgetriebenen Webstühle sie vollends arbeitslos machen. Sie können sich nicht vorstellen, dass eine boomende Textilindustrie viele zusätzliche Arbeitsplätze schafft – in der Infrastruktur, dem Transport von Tuch und Kohle, dass die Hallen und Maschinen gewartet werden müssen. Zugegeben: Bis dahin werden sie wohl verhungert sein, wenn ihnen beim Übergang von einem Strukturzyklus in den nächsten nichts und niemand hilft. Jedoch bessert es die eigene Lage nicht, Maschinen zu stürmen oder weiterhin für Hungerlöhne zu arbeiten. Der einzige Weg aus der Not ist damals wie heute, alles daranzusetzen, das nächste technologische Netz (hier das Netz der dampfgetriebenen Webstühle) so schnell wie nur irgend möglich zu erschließen.

Doch niemand kann einem zu dieser Zeit genug Geld vorschießen, um längere Eisenbahnstrecken zu bauen. Nachdem den Christen im Mittelalter das Nehmen von Zinsen verboten war, fehlt es an Banken und Bankern. Anfang des 19. Jahrhunderts arbeiten vor allem Juden im Kreditwesen, weil ihnen seit dem Mittelalter die Zünfte (also nicht die gesichtslose Institution, sondern die Menschen dieser Handwerkszusammenschlüsse) die Mitarbeit in Handel und Gewerbe verweigert haben. 1846 sind in ganz Preußen nur 1100 Menschen in 442 Banken damit beschäftigt, Geld zu verleihen – in der Regel je ein Bankier und ein Gehilfe24. (Bis zur Jahrhundertwende steigt die Zahl auf 18.000 Beschäftigte an – sie verfünfzehnfacht sich, während die Bevölkerung nur um die Hälfte zunimmt.)

Bis neue Aktienbanken mit immer ausgedehnteren Filialnetzen die Groschen der kleinen Leute für die Industrialisierung einsammeln, die zuvor nutzlos in Sparstrümpfen versteckt gewesen sind, muss der Widerstand des Staates überwunden werden. Im Vormärz25 versucht der preußische Finanzminister Christian von Rother mit allen Mitteln, Bank-AGs zu verhindern. Denn die paar persönlich haftenden Privatbankiers hat die Regierung bisher leicht unter Druck setzen können. Aber zahlreiche anonyme Aktiengroßbanken? Dazu kommt: Der Berliner Finanzbürokratie ist das liberale Rheinland, das sich mit der Industrialisierung so stürmisch entwickelt, immer suspekt gewesen. Das alte Preußen mit seinen konservativen ostelbischen Rittergutsbesitzern fürchtet zu Recht, die Industriellen könnten innenpolitisch die stärkere Kraft werden.

Dafür geht es wenigstens im innerdeutschen Handel voran: 1834 tritt der Zollverein zwischen Preußen, Hessen-Darmstadt, Bayern und Württemberg in Kraft, dem sich in den nächsten Jahren die anderen Staaten anschließen – Bremen und Hamburg erst lange nach der 1871er-Reichsgründung 1888. Dass sie sich wirtschaftlich annähern, bedeutet nicht, dass sie sich gleichzeitig auch politisch angleichen: Der Zollverein hindert die deutschen Kleinstaaten nicht daran, 1866 an der Seite Österreichs gegen Preußen Krieg zu führen (ein Grund, heute die Europäische Union nach der wirtschaftlichen Einheit auch politisch weiter zu vertiefen).

Technologisch bemühen sich die Deutschen zunächst vergeblich, eine eigene Lokomotive auf die Schiene zu bringen: Der Prototyp des Konstrukteurs Friedrich Kriegar in der Königlichen Eisengießerei in Berlin taugt 1815 nur dazu, ein bisschen auf dem Fabrikgelände herumzufahren, zu schwach und unzuverlässig ist er für den kommerziellen Eisenbahnverkehr26. Auch die von L. C. Althans konstruierte Lok benimmt sich bei der öffentlichen Erprobung 1822 nach zeitgenössischen Berichten »wie ein bockiges Pferd« und wird schließlich verschrottet. Für Deutschland heißt das: Ob es auf lange Zeit ein zurückgebliebenes Entwicklungsland ist oder bald wieder im Konzert der Mächte mitspielen kann, hängt von einer Schlüsseltechnologie aus dem Ausland ab. Für die erste Strecke von Nürnberg nach Fürth importiert man die Lokomotive samt Lokführer aus England.

Jede Basisinnovation stößt zu ihrer Zeit auf Unverständnis und Widerstand: Grauen erfasst viele Deutsche beim Anblick des dampffauchenden Ungetüms mit seiner Wahnsinnsgeschwindigkeit von 35 Kilometern in der Stunde: »Die schnelle Bewegung muss bei den Reisenden unfehlbar eine Hirnkrankheit, eine besondere Art des Delirium Furiosum erzeugen«, soll das bayerische Obermedizinalkollegium angeblich in einem Gutachten gewarnt haben. Und wenn sich aber dennoch jemand in eine so »grässliche Gefahr« begeben wolle, dann müsse der Staat wenigstens die Zuschauer schützen, die schon vom Hinsehen dieselben Gehirnkrankheiten bekommen können – und zwar mit einem hohen Bretterzaun auf beiden Seiten. Prediger verteufeln die Bahn, weil, wenn Gott gewollt hätte, dass sich der Mensch auf Rädern fortbewege, dann hätte er ihm auch welche gegeben.

Im ersten Jahrzehnt bis 1845 werden nur 2294 Kilometer gebaut – kaum genug, um eine Branche anhaltend zu beschäftigen, und selbst die Investitionen scheinen sich zunächst nicht genug zu rentieren, weil es zu wenig Gewerbe gibt, das die Eisenbahn nutzen kann. Die Krisenjahre in den 1840ern erklären Wirtschaftswissenschaftler mit »Überinvestition«. Die Kondratiefftheorie präzisiert, dass sich die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme zwar parallel, aber nicht gleich schnell entwickeln und deswegen im Ungleichgewicht sind. Viele neu gegründete Betriebe sind in einer kritischen Lage, das Geschäft stagniert, das Geld ist knapp, es gibt wieder mehr Arbeitslose. Selbst der Lokomotivfabrikant Borsig muss in Berlin 400 Arbeiter entlassen. Kapital ist zwar billig, aber Prognosen für deutsche Verhältnisse zu optimistisch. Der Bau der Eisenbahn ist risikoreich (der Deutschen Bahn ergeht es beim Neubau der ICE-Strecken heute nicht anders): Niemand weiß vorher, wie teuer der Kauf der benötigten Flächen wird, da die Grundstückspreise explodieren, wenn durchsickert, wo die Trasse verlaufen wird. Auch die Bauarbeiten sind kaum zu kalkulieren, weil die Beschaffenheit des Geländes die Ingenieure immer wieder überrascht. Noch schwerer lässt sich abschätzen, wie viele Menschen später mit dieser Bahn fahren werden.

Und dennoch setzen die fertiggestellten Eisenbahnen die gesellschaftlichen Strukturen europaweit unter Druck: Allein in Deutschland werden 1847 mehr als 1000 Kilometer Schienenstrecke neu fertiggestellt, ohne dass sich die wirtschaftlichen Gängeleien lockern. Der Revolution, die seit 1848 von Paris kommend auf ganz Europa übergreift, geht es daher vor allem um bürgerlich-wirtschaftliche Rechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, ja sogar um eine demokratische Staatsverfassung – also darum, seine Wirtschaftsinteressen in Lobbyverbänden vertreten zu dürfen, sich aus der Zeitung zuverlässig über ökonomische Vorgänge zu informieren und am Ende im Parlament darüber mitentscheiden zu können, wie Steuergelder für den Bau von Infrastruktur ausgegeben werden.

 

Wie schon 1789 in Frankreich geht es nicht um Arbeiterinteressen wie »Mehr Lohn« oder dass Unternehmer in bessere Arbeitsbedingungen investieren sollen – dafür gibt es in Deutschland noch viel zu wenig Arbeiter. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erlaubt zwar eine unabhängige Justiz, die Pressefreiheit und ein Vereinsrecht, doch er weigert sich, seine Truppen aus Berlin abzuziehen. Es kommt zu Barrikadenkämpfen mit 183 Toten. Der König gibt nach, entblößt die Hauptstadt von Truppen und verneigt sich vor den Märzgefallenen. Die bürgerliche Revolution scheint ihre Ziele erreicht zu haben – indem sie die Arbeiterschaft für sich instrumentalisiert, die noch gar nicht weiß, dass sie eigentlich noch ein paar ganz andere Interessen hat als ein Fabrikant, Professor oder Handwerksmeister.

Am Ende gibt es zwar das erste demokratisch gewählte deutsche Parlament, aber keine Staatsgewalt, die seine Beschlüsse umsetzt – der preußische König lehnt die angebotene Kaiserkrone aus der Hand des pöbeligen Volkes ab. Das Parlament zerläuft sich, weil die Großbürger vor den immer radikaleren Forderungen der Arbeiter Angst bekommen. Als der Kaiser nicht kommt, gehen sie eben wieder brav nach Hause und vereinbaren mit ihren jeweiligen Monarchen einen unausgesprochenen Kuhhandel: keine Revolution mehr, dafür ab jetzt so richtig Bahn frei für exzessives Wirtschaften. Mit jedem weiteren Eisenbahnkilometer, der ab jetzt schnell gebaut wird, wachsen die Möglichkeiten, Waren zu kaufen, zu verarbeiten und zu verkaufen, entwickelt sich die Wirtschaft stürmisch. Bis 1855 werden in Deutschland weitere 6000 Kilometer Schienen gebaut, bis 1865 nochmals 6400 Kilometer. Und bis 1875 zum Höhepunkt des zweiten Kondratieffs kommen 13270 Kilometer hinzu.27

Neue Märkte verschieben das Machtgleichgewicht

Weil verschiedene Gesellschaften die Strukturen des neuen Kondratieffs unterschiedlich gut umsetzen, sind Länder wie Deutschland plötzlich zwei- bis dreimal so stark wie andere. Nach dem Wiener Kongress 1814/​15 waren die Karten zwischen den Ländern erst einmal verteilt gewesen. Der erste Kondratieffabschwung hat das »Konzert der Mächte« stabilisiert. Doch mit dem nächsten langen Kondratieffaufschwung verschieben sich die Gewichte – darin sieht Nikolai Kondratieff28 die Ursache von bewaffneten Auseinandersetzungen. In den Aufschwungjahren des zweiten Kondratieffs kommt es zu Kriegen, bei denen jene Länder militärisch geschlagen werden, die den neuen Strukturzyklus nur zögerlich erschließen: Ihnen fehlen bessere Stahlgeschütze, Nachrichtenverbindungen entlang der Bahn sowie Kapazitäten an Transport und an Fabriken, um Nachschub zu produzieren, Truppen auszurüsten und zu versorgen.


Beispiel Krimkrieg 1853 – 1856: Die Russen fordern vom Osmanischen Reich, den orthodoxen Christen in Palästina Schutzrechte zuzugestehen; die Türken lehnen ab. Russland besetzt die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, daraufhin erklärt die Türkei Russland den Krieg, den der »Kranke Mann am Bosporus« bald verlieren würde. Weil die Engländer nicht wollen, dass Russland so stark wird, schicken sie eine Expeditionsarmee – sie können sich das leisten. Die Franzosen träumen wieder davon, »Grande Nation« zu werden, und schließen sich den Briten ebenso an wie 15 000 Soldaten aus dem norditalienischen Staat Piemont-Sardinien, dem es weniger um die Türken geht als um seine eigene internationale Anerkennung.

Der Ausgang der Kämpfe ist von vornherein klar: Während England im frühen 19. Jahrhundert seine Eisenproduktion verdreiunddreißigfacht, kann zum Beispiel Russland seine Eisenproduktion in dieser Zeit nur verdoppeln.29 Da aber die meisten Russen nach wie vor in der Landwirtschaft arbeiten, wird das, was sie herstellen – Agrarprodukte –, meist sofort verbraucht. Sie erwirtschaften kaum einen bleibenden Mehrwert, der investiert oder in militärische Kraft umgesetzt werden kann. Die russischen Holzschiffe sind den mit Schrapnellkanonen bewaffneten Dampf-Kriegsschiffen der Engländer hoffnungslos unterlegen.

Vor allen Dingen haben die Engländer die Industriekapazität, schnell ein paar neue Kanonenboote zu bauen. Und die altmodischen Steinschlossmusketen der Russen, mit denen man vielleicht 80 Meter weit treffen kann, sind den zuverlässigeren Stahlgewehren der Alliierten unterlegen. 480.000 schlecht ausgebildete russische Bauernsöhne fallen. Der Krieg findet statt, weil ihn sich die Franzosen und Engländer im langen Aufschwung leisten können; aber wer ausgerechnet in der Hochphase der Konjunktur Kriegsanleihen ausgibt wie die französische Regierung, der konkurriert mit den Eisenbahnfirmen um Kapital und heizt die Preisspirale an. In Frankreich kommt es wegen der Inflation zu Volksaufständen.

Der amerikanische Bürgerkrieg 1861 - 1865 ist ein Krieg zwischen zwei Wirtschaftsgebieten, deren Strukturen sich nicht mischen lassen und die unterschiedlich schnell wachsen: Im Norden produzieren 1860 schon 110.000 Fabriken, im plantagenbewirtschafteten Süden dagegen nur 18.000. Die gesamten Konföderierten stellen nur 36700 Tonnen Roheisen her – das ist eine winzige Menge im Vergleich zu Nordstaaten wie Pennsylvania, das alleine 580.000 Tonnen im Jahr produziert.30 Die Nordstaaten gewinnen – wegen ihres größeren industriellen Potenzials. Dänemark denkt, seine Staatskasse sei gefüllt genug, das von ihm regierte Schleswig-Holstein 1863 ganz zu annektieren – Preußen und Österreich besiegen die Dänen 1864 in einem kurzen Krieg. Den Machtkampf zwischen Österreich und Preußen im deutsch-deutschen Krieg 1866 hätte keine Seite in wirtschaftlicher Krisenzeit vom Zaun gebrochen.

Die deutschen Staaten schlagen Frankreich 1870/​71, weil sie – das ist in diesem Strukturzyklus entscheidend – längere Bahnstrecken haben, die vor allem in Preußen nach militärischen Gesichtspunkten angelegt worden sind. Deutschlands Eisen- und Stahlproduktion überholt gerade die Frankreichs, seine Kohleförderung ist zweieinhalbmal so groß, sein Energieverbrauch ist um die Hälfte höher. Moltkes Strategie und die Kruppschen Stahlkanonen geben den entscheidenden Ausschlag. Danach bricht erst einmal für ein Vierteljahrhundert ein durch wirtschaftliche Erschöpfung erzwungener Friede aus.

Gefragt sind neue Kompetenzen

Der Sieg über Frankreich verdeutlicht, dass ein Kondratieffzyklus keine Aggregation makroökonomischer Daten, sondern ein Kompetenzzyklus ist. Das militärische System ist nicht von der Gesamtgesellschaft abgekoppelt: Das hohe Niveau der Grundschulbildung in Deutschland bringt mehr Facharbeiter, kompetente Unteroffiziere und ausreichend Schreibstubenkräfte hervor. Als Sieger der Schlacht bei Sedan gilt der preußische Schulmeister. Die Franzosen sind durch die Niederlage gezwungen, große Bereiche ihrer Gesellschaft – Erziehung, Verwaltung, Wirtschaft – zu überprüfen und zu reformieren. Nach 1871 schicken sie ihre besten Studenten nach Deutschland, um an den Universitäten des Feindes zu lernen.

Jede Basisinnovation stellt eben neue Anforderungen an Menschen, wie Arbeit zu organisieren ist. Jeder Strukturzyklus hat daher seine eigenen betriebswirtschaftlichen Erfolgsmuster: Im zweiten Kondratieff lernen Manager, eine Großorganisation wie die Eisenbahn zu verwalten – mit gigantischer Kostenrechnung, Unterhalt von Bahnhöfen, Reparaturwerkstätten und Gleisanlagen. Sie lernen, Personal auf mehreren Kompetenzniveaus auszubilden, Investitionen langfristig abzuschreiben und unterschiedlichste Faktoren auf weite Sicht und pünktlich zu planen. Die Eisenbahn-Aktiengesellschaften sind die betriebswirtschaftliche Spielwiese für die Massenproduktion des dritten Kondratieffs. Entlang der Eisenbahnlinien verbreitet sich der elektrische Telegraf. Damit wird die Bahn nicht nur zum Transportmittel von Waren und Menschen, sondern auch von Informationen.

Das beste Beispiel, ökonometrische Modelle ad absurdum zu führen, die einem weismachen wollen, die Wirtschaft würde wachsen, wenn man Geld oder Investitionen quer Beet über die gesamte Volkswirtschaft gießt, ist der steile Aufstieg von Unternehmern und Unternehmen der Branchen, die den neuen Kondratieffzyklus ermöglichen. Alfred Krupp hält schon 1832 überhaupt nichts von der Vorstellung, der Markt würde sich irgendwie zufällig entwickeln und sei völlig unvorhersehbar. Schon als Zwanzigjähriger ist er sich sicher, dass dem Gussstahl die Zukunft gehört und dass ihm niemand seinen Vorsprung wegnehmen kann, wenn er nur immer besser und schneller ist als die Konkurrenz.31 Menschen in sicheren Positionen dagegen ändern nicht gerne etwas. Als Alfred Krupp dem preußischen Kriegsministerium (einen Kondratieffzyklus zu früh) Gewehrläufe aus Gussstahl schickt und ihm anbietet, nach demselben Verfahren auch Geschütze zu gießen, erklären ihm die Beamten, dass das Vorhandene allen Anforderungen entspräche und kaum etwas zu wünschen übrig lasse.

Mit dem Deutschen Zollverein vervielfacht sich das potenzielle Absatzgebiet. Krupp kommt von seiner zweiten großen Auftragstour durch Süddeutschland mit Aufträgen für zwei Jahre heim. Seine acht Arbeiter können das gar nicht bewältigen, erst recht nicht in Abhängigkeit von dem launigen Flüsschen Berne, das sein Hammerwerk meistens stillstehen lässt. Für eine Dampfmaschine fehlt das Geld. Und dem wenig solventen Unternehmer der damaligen New Economy geben die Banken keinen Kredit. Die Gutehoffnungshütte nimmt den Auftrag zum Bau einer 20PS-Dampfmaschine erst an, als Krupp die persönliche Bürgschaft eines stillen Teilhabers vorlegen kann. Die funktioniert dann zwar nur mäßig und mit höchstens zehn Pferdestärken, aber der Betrieb kann nun endlich ununterbrochen produzieren.

Sein Stahl ist in dieser Zeit noch kein Massenprodukt wie im dritten Kondratieff, aber dennoch wichtig für Maschinen und Lokomotiven, die besonders festes Material benötigen. Daher spiegelt sich in der Zahl der bei Krupp Beschäftigten auch der Verlauf des zweiten Kondratieffs wider (von wegen, es gäbe so etwas wie einen »natürlichen Wachstumspfad«, der die Wirtschaft jedes Jahr statistisch anderthalb Prozent wachsen lasse): Die Essener Stahlschmiede von Krupp beschäftigt während der Revolution 1848 gerade mal 100 Arbeiter. 1857 sind es 1000, 1865 dann 8000, und ihre Zahl verdoppelt sich weiter bis 1873. Die Kondratiefftheorie widerspricht damit der etablierten Wirtschaftswissenschaft vehement: Die Wirtschaft wächst vor allem deswegen, weil massiv in das neue technologische Kompetenznetz eines neuen Kondratieffzyklus investiert wird – in Ausbildung, Infrastruktur und Verhaltensweisen. Nicht mit Zeitreihen makroökonomischer Daten allein, sondern nur mit dem Blick auf soziale Veränderungen ist Wirtschaft zu verstehen.

Wieso früher die Zeiten weder besser, noch die Menschen christlicher waren

Zu den Opfern des neuen Strukturzyklus gehören die Handwerkszünfte und der von einer Familie bestellte Bauernhof. Die neue Wirtschaftseinheit – das sind jetzt der Einzelne und die Fabrik. Die Eltern verlieren die ökonomische Basis für ihre Autorität und moralische Funktion. Anstatt erst dann wirtschaftlich selbständig zu werden, wenn der Meister stirbt oder der Bauer aufs Altenteil geht, ist der Teenager der beginnenden Industriegesellschaft vom ersten selbst verdienten Geld an unabhängig. Bisher hat die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Moralkodex der Eltern und der Dorfgemeinschaft frühe Ehen verhindert – und damit auch mehr Geburten, als die Agrargesellschaft ernähren kann. »Die industrielle Gesellschaft gerät in ein amoralisches Interregnum zwischen einem Moralkodex, der auseinander bricht, und einem neuen, der noch keine Gestalt angenommen hat.«32

Wieder ist das freie Wirtschaften, ist der Liberalismus eine Emanzipationsbewegung, die zu Beginn destruktiv ist und erst 100 Jahre später durch die soziale Marktwirtschaft domestiziert wird. Viele Fabrikanten geben ihren Arbeitern kein Geld auf die Hand, sondern Gutscheine, mit denen sie zu überhöhten Preisen in dem unternehmereigenen Geschäft einkaufen müssen. Der saarländische Berg- und Hüttenwerksbesitzer Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg verkündet lauthals seine mittelalterliche Auffassung vom Herrschen und Gehorchen.33 Eine Fabrik sei ein Gebilde, das militärisch, nicht parlamentarisch zu organisieren sei. Er ist der Herr-im-Haus: Sogar die Erlaubnis, ob jemand heiraten darf, maßt er sich an, oder ob ein Untergebener gegen einen anderen Betriebsangehörigen vor Gericht ziehen darf oder nicht. Arbeiter, die auch nur in ein Wirtshaus gehen, in dem sozialdemokratische Versammlungen stattfinden, werden entlassen. Er lässt seine Arbeiter bespitzeln, belohnt Denunzianten, bestraft jeden, der seiner Meinung nach vom rechten Weg abgekommen ist. Sie haben – zumindest was er darunter versteht – gottesfürchtig, gehorsam und dankbar zu sein. Und die meisten sind es auch, oder tun zumindest so.

 

In den Erzgruben Oberschlesiens herrschen Mitte des 19. Jahrhunderts Zustände wie bei der mittelalterlichen Leibeigenschaft: Wer nicht spurt, wird davongejagt, und wenn die Arbeiter aufmucken, bringt das Militär die Bergarbeiter unter die Erde – so oder so. Schließlich kommen genug Arbeitshungrige aus dem Osten nach. Die Magnaten sehen ihren Reichtum als gottgegeben an und unternehmen nichts, um die Zukunft der Region abzusichern, wenn das Erz abgebaut ist – so wie heute manche Ölscheichs. Ihre Renommierschlösser bauen sie in Sichtweite der Arbeitersiedlungen, in denen Zehntausende zusammengepfercht am Existenzminimum dahinvegetieren, während die »Herrschaft« von goldenen Tellern speist.

Trotz harter und fast ständiger Arbeit bleibt den einfachen Menschen zunächst wenig übrig: Unseren Vorfahren vor sechs Generationen werden nicht nur die Ressourcen für die aktuellen Investitionen in Eisenbahn und Infrastruktur (die wir heute noch nutzen) vom Munde abgespart, sondern auch noch die Mittel für die industrielle Aufholjagd des rückständigen Landes. Wir sollten Denkmäler für die errichten, die unter erzwungenem Konsumverzicht und um den Preis vieler Lebensjahre Gleisdämme geschaufelt und Brückenpfeiler vermörtelt haben.

Denn auf dem Höhepunkt des zweiten Kondratieffs wird ein Berliner Maurer im Durchschnitt 45 Jahre alt, ein Fabrikarbeiter 43,5 und ein Weber nur 32 Jahre. Häufigste Todesursache ist Tuberkulose.34 90 Stunden pro Woche beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit für Erwachsene zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung, Frauen und Kinder schuften unter Tage. Kinderarbeit wird dann aber (leider) nicht deswegen gemildert, weil sich jemand der Kinder erbarmt. Wer sich als Erster dagegen wirkungsvoll wehrt, ist die preußische Armee, die mit den ausgemergelten, krummen Achtzehnjährigen nichts anfangen kann. Der preußische Kriegsminister von Horn macht sich große Sorgen darüber, dass das »Rekrutenmaterial« von Jahr zu Jahr schlechter werde.

Kein Wunder, liest man Briefe von Friedrich Engels, die er im März 1839 aus Wuppertal schreibt: »In Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kind gibt.« Selbst Kinder unter neun Jahren müssen bis zu 14 Stunden am Tag schwerstarbeiten. Ein amtlicher Bericht beschreibt die schweren Schäden an den minderjährigen Arbeitskräften: »Bleiche Gesichter, matte und entzündete Augen, geschwollene Leiber, aufgedunsene Backen, geschwollene Lippen und Nasenflügel, Drüsenschwellungen am Hals, böse Hautausschläge und asthmatische Zustände …, die sie in gesundheitlicher Beziehung von anderen Kindern derselben Volksklasse, welche nicht in Fabriken arbeiten, unterscheiden.« Auf Druck der Armee schreitet das »königlich preußische Fabrikregulativ« am 9. März 1839 dagegen ein: Kinder unter neun Jahren dürfen nicht mehr in Fabriken beschäftigt werden, Jugendliche bis 16 Jahre nicht mehr als zehn Stunden. Mit den Dorfstrukturen und den Familienbanden hat sich auch das Geschlechtsleben gelockert – von wegen, die 1970er Jahre wären die Zeit der sexuellen »Befreiung« gewesen.

Je rücksichtsloser die Industriegesellschaft voranschreitet, umso größer wird vor allem die Not der Frauen, die aus den verarmten Bauernhöfen oder lohnabhängigen Großgütern in die Städte strömen. Während ledige Mütter in Preußen nach dem »Allgemeinen Landrecht« von 1794 vom Vater des Kindes Alimente verlangen konnten, befreit 1854 ein neues Gesetz die unehelichen Väter von allen finanziellen Verpflichtungen. Unter den 17- bis 45-jährigen Frauen in Berlin geht 1846 etwa jede achte der Prostitution nach35, die allesamt der ärmeren hilflosen Klasse angehören.

Die unglücklichen Bürgertöchter, die seit ihrem 17. Lebensjahr zu Hause herumsitzen und darauf warten müssen, dass sie geheiratet werden, reagieren mit Prüderie bis Leibfeindlichkeit, auch um sich von der Unterschicht abzugrenzen. Das züchtig Zugeknöpfte, in Wirklichkeit ein Statussymbol des aufkommenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts, übertrifft die bis dahin vorhandene religiös motivierte Vorsicht im Umgang mit Sexualität – man denke nur an die prallen Abbildungen in früheren Barockkirchen und daran, dass der eheliche Geschlechtsakt in der katholischen Kirche sogar mit einem Sakrament geheiligt ist.

Zwischen der neuen Arbeiterschicht und den Kirchen herrscht anfangs Sprachlosigkeit. Die einen leben aus der Sicht der anderen in ziemlich viel Sünde, auf die anderen jedoch verwettet Anfang des 19. Jahrhunderts niemand mehr einen Pfennig, denn die Institution Kirche ist nach der Säkularisierung erst einmal kraftlos. Es dauert, bis zahlreiche Laien die Ärmel hochkrempeln und etwas auf die Beine stellen. Kein Wunder, dass in dieser Zeit so viele Klöster oder Diakonissen-Schwesternschaften gegründet werden – sie sind eine Reaktion auf die soziale und daher vor allem auch seelische Not. Sie sind Initiativen von unten, bedrängt von ihrem Bischof oder ihrer Landeskirchenleitung, sich doch bitte endlich Statuten zu geben und sich um die kirchenrechtlich formale Einordnung zu kümmern. Dass heute kein Mensch mehr die Namen der damaligen Bischöfe, dafür eine Reihe von Ordensgründerinnen und einfachen Priestern kennt, legt den Verdacht nahe, auch heute die entscheidenden Initiativen nicht nur von den Bischöfen zu erwarten.

Es dauert auch im 19. Jahrhundert, bis eine Generation heranwächst, welche die neuen sozialen Verhältnisse und den Glauben zusammenführt. Adolf Kolping, 1813 in Kerpen bei Köln geboren, lernt als Schuhmachergeselle die Not der stellungslosen Handwerkergehilfen kennen, bevor er Priester wird. Er gründet jene Gesellenvereine, aus denen das bis heute lebendige Kolpingwerk der katholischen Kirche hervorgeht. Eine Ausnahme im Adel ist Freiherr Wilhelm Emanuel Ketteler: Als unvereinbar mit dem christlichen Glauben sieht er, Arbeiter ungerecht zu bezahlen und unzureichend zu versorgen. Bei der Beerdigung der bei den Volksaufständen 1848 ermordeten Abgeordneten General Hans Adolf von Auerswald und Fürst Felix von Lichnowsky trägt er in seiner Grabrede zum ersten Mal seine Gedanken zur christlichen Soziallehre vor. Zwei Jahre später wird er Bischof von Mainz und nimmt sich in diesem Amt der sozialen Frage an.

Das proletarische Bewusstsein, das sozialistische Theoretiker propagieren, will aber nicht so richtig aufkommen – trotz der Not von Frauen, Kindern und dem harten Arbeitsleben, trotz der Ausbeutung. Vom obdachlosen Tagelöhner bis zum unermesslich reichen Industriemagnaten: Die Industrialisierung hat die Gesellschaft so stark diversifiziert, so viele neue Rangstufen geschaffen, dass nun jeder danach trachtet, wenigstens bis zur nächsthöheren Schicht aufzusteigen. Statt einfach als Bauer, Handwerker oder Adeliger zugeordnet werden zu können, hat sich das öffentliche Leben zu einem Kastenwesen entwickelt, in dem jeder die Möglichkeit bekommt, sich als ein höheres Wesen zu fühlen. Selbst der Tagelöhner erster Klasse kann noch auf den Tagelöhner zweiter Klasse herunterschauen. Das ist so wie heute in Südafrika, wo zwar jeder in eine Kirche geht, dafür aber gerade unter Schwarzen ganz genau registriert wird, wie schwarz, wie weiß, also in welchem Maße gemischt jemand ist – davon hängt dann das gesellschaftliche Prestige ab.