Buch lesen: «Original Linzer Tortur»

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Erich Wimmer:

Original Linzer Tortur

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Salomon, Wien

www.salomon-verlag.at

Cover: JaeHee Lee

Coverfoto: Hongwei Tang

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-90320-010-4

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

PROLOG

»Ssheiiiszhauuh!«, fauchte Herr Wagner in den straffen Knebel, der wie eine feuchte Stoffwurst zwischen seinen Kiefern klemmte. Seit er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, sah er die gewohnte Umgebung aus dem ungewohnten Blickwinkel einer aufgedunsenen Made. Eingehüllt in ein eierlikörgelbes Leintuch und gefesselt mit einem blaurot karierten Bergsteigerseil saß er schräg und verkrampft auf seinem Wohnzimmersofa und versuchte vergeblich, sich zu bewegen.

Warum fühlte sich dieser Alptraum so verflucht wirklich an? Wieso hatte es ausgerechnet ihn erwischt? Er war doch der Wirtschaftsmann. An ihm hing das Wohl aller. Aber wie, bitteschön, sollte er denn diesem Wohl dienen, wenn er sich nicht rühren konnte? Er war doch der mit Abstand vitalste Hecht im trüben Teich der österreichischen Wirtschaft. Außer ihm grundelte dort nichts Nennenswertes herum, abgesehen von ein paar alten Karpfen mit Moos am Rücken und ein paar blinden Karauschen. Nur ihm alleine, Ingenieur Ernst August Wagner, verdankte der österreichische Höhlenmensch den Schritt vom Pleistozän ins einundzwanzigste Jahrhundert. Er alleine hatte die Schöpfung vollendet, indem er den Arbeitsplatz erschaffen hatte. Und der Arbeitsplatz war das lebensrettende Schutzhäuschen am Gipfel einer bis dahin komplett unfertigen, schroffen und trostlosen Welt. Dank ihm hatte Gottes weitgehend sinnlose Vorarbeit eine sinnreiche Vollendung erfahren. Und dann, man stelle sich das vor, kommt irgendwer von irgendwo her und bindet ihn hier fest! In seiner eigenen Villa!

»Hosmochn! Chshofurt!«, röchelte Herr Wagner in die Stoffklemme, bevor ihm endlich ein plausibler Verdacht durch die Synapsen zitterte: die Vogeldoktoren der Jauregg-Klinik! Den Psychogockeln war alles zuzutrauen. Von diesen Traumtänzern wusste kein einziger, wo bei einer Schaufel hinten und vorne war. Herumsülzen und Mist verzapfen, bei sowas waren die Weltmeister – und natürlich bei der totalen Fehleinschätzung ihrer hirnamputierten Patienten. Wahrscheinlich war einer der abnormen Schwerverbrecher einfach bei der Krankenhaustüre rausmarschiert und auf den Linzer Froschberg gelaufen, um hier die Villen auszurauben. Diesem Perversen machte es offensichtlich einen ganz besonderen Spaß, hochangesehene, mit dem goldenen Verdienstkreuz ausgezeichnete Wirtschaftsmänner zu fesseln und zu erniedrigen.

Der Kontrollverlust über seinen Körper schmerzte Herrn Wagner noch mehr als die Vorstellung, dass dieser rohe Rüpel garantiert noch nie einen Arbeitsplatz erschaffen hatte. Der Verlust von irgendwelchem Klimbim war im Grunde genommen noch verkraftbar. Aber dass sich der Spielraum seiner Zunge nur im Millimeterbereich bewegte und sich seine Finger und Zehen anfühlten wie halbseitig gelähmte Würmer, das war die eigentliche Sauerei. Die Riesensauerei. Der einzige Teil an ihm, der nach wie vor die übliche Freiheit genoss, war sein Gaumenzapfen. Der hing frei und fidel über dem Schlund, als wäre nichts geschehen. Dass Herr Wagner einmal seinen eigenen Gaumenzapfen um dessen Freiheit beneiden würde, diese Vorstellung vernichtete seinen ohnehin bescheidenen Vorrat an halbwegs vernünftigen Gedanken. Herr Wagner spuckte weißliche Schaumbläschen, begleitet von Zisch- und Grunzgeräuschen: »Shaiiisau, hu hoide hchregsauhauhau! Hos hachn!«

Durch den straffen Knebel war seine Zunge klumpig gestaucht und verhunzte die Modulation sämtlicher Kraftausdrücke, die er so gerne klar und deutlich losgeworden wäre. Wegen seiner eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten blickte Herr Wagner notgedrungen auf die Wohnzimmerwand, die seinem Gesicht gegenüberlag. Der ausgestopfte Bisonschädel, das Herzstück seiner Jagdtrophäen, sah ihm direkt in die Augen und hatte nicht das geringste Mitleid mit ihm. Oder spielte da sogar ein Grinsen um die Bisonlefzen? Aber sicher. Das Drecksvieh lachte ihn aus. Und nach und nach fingen auch die anderen Schädel damit an. Jedes einzelne dieser hirnlosen Fellgesichter flappte mit seinen Lippen, zeigte ihm die Zunge und amüsierte sich köstlich über die Hilflosigkeit des großen Jägers. Am liebsten hätte Herr Wagner diesen Pelzzombies in die selbstgefälligen Gesichter gespuckt und ihnen seine Faust in die Schnauzen gerammt. Aber die Knoten der Stricke saßen so fest, als wäre nicht ein dürrer Pensionist, sondern ein wildes Raubtier in diesem Wohnzimmer gebändigt worden.

»Hohoarshcch sdrcksgfrhyyys«, wurde Herr Wagner nicht müde, in seiner Knebelsprache zu üben, während aus dem Nebenraum leise Geräusche drangen. Da ein Scharren, dort ein Klimpern und dazwischen das Geraschel frisch gestärkter Stoffe. Und mitten durch dieses Potpourri aus unbeseelten Lauten wehte ein Singsang, der Klang einer unbekümmert vorgetragenen Musik. Als die Melodie Herrn Wagners Trommelfell erreichte, verdickten sich seine dünnen Verdachtsmomente zur ersten Strophe von La Paloma. Er kannte dieses Lied. Er kannte es ebenso gut, wie er die ausgeleierten Stimmbänder kannte und die vertrocknete Maulfalte, aus der dieser Rotz heraussickerte. Aber er würde den Namen dieser Bestie, die im Nachbarzimmer so süffisant vor sich hin pfiff, weder denken noch aussprechen. Stattdessen würde er die Trägerin dieses Namens zermalmen, zerstampfen und in der Luft zerreißen. Aber dafür musste er zuerst diese Fesseln loswerden. Noch einmal bot er all seine Kräfte auf und versuchte, das Seil zu sprengen.

»Schhhitz … tzusau!«

Aussichtslos. Gegen die Macht der Stricke war ihm kein Muskel gewachsen. Hilflos und unbeweglich blieb er in seiner Roulade aus Knoten, Stricken und Wut gefangen.

Die Geräusche aus dem Nebenraum verebbten. Im Türrahmen zum Wohnzimmer erschien eine menschliche Silhouette. Eine alte Frau, kaum größer als ein fünfzehnjähriges Mädchen, sah prüfend auf ein Honigglas in ihren Händen und versuchte, es zu öffnen. Erst nach ein paar vergeblichen Drehbewegungen gelang es ihr, den Deckel vom Glas zu schrauben. Mit dem Behälter in der Hand marschierte sie auf den Gefesselten zu und goss ihm den zähflüssigen Inhalt über den Kopf. Herr Wagner wirkte erstaunlich gefasst, während die alte Dame darauf achtete, dass nichts von dem goldbraunen Honigstrom in seine Augen sickerte. Noch während der Honig gleichmäßig über Hinterkopf, Nacken und Schultern strömte und sich Haut und Stoff in eine Art Fliegenstreifen verwandelten, stellte sie das leere Glas auf eine von einer nackten Marmorsklavin getragene, gläserne Tischplatte und verschwand wieder im angrenzenden Raum.

In Herrn Wagners Nasenflügel entstand ein Beben, die Ausläufer eines Sturmes, dessen Epizentrum in seinem Kleinhirn tobte. Als die alte Frau den Raum erneut betrat, hielt sie ein Album in den Händen. Beim Anblick des teuren Ledereinbandes steigerte sich das Beben der Altmännernase zu einem Zucken des ganzen Körpers, als würden Herrn Wagners nackte, feuchte Hoden gegen einen stromführenden Kuhdraht pendeln. Unbekümmert von diesen Signalen öffnete die alte Frau das Album, strich mit der flachen Hand über die Seiten und wischte eine Briefmarke nach der anderen aus ihrem Falz, bis sie das Album weitgehend geleert hatte. Mit dem zarten Gestus sterbender Schmetterlinge, die nach ihrem Hochzeitsflug zur Erde taumeln, hefteten sich die Marken an Herrn Wagners mit Honig glasierten Körper.

»Sie hat dich gehonigt und gebriefmarkt«, fasste der Bisonschädel die Handlungen der letzten Minuten pointiert zusammen. Auf einer Frequenz, die Herr Wagner nur in diesem Moment seines Lebens wahrnehmen konnte, musste er den zynischen Kommentar des Bisons über sich ergehen lassen und dieses viehische Lachen ertragen, das sich immer wieder neu entzündete an dem Bild eines grotesken Gnoms, das er gerade abgab.

Die alte Frau kehrte zurück in den Nebenraum, schlüpfte in die Träger eines bis an den Rand gefüllten Rucksacks und ergriff eine vollbepackte Reisetasche. Damit marschierte sie vorbei an dem Gefesselten, blieb aber in der geöffneten Tür stehen, um die Tasche noch einmal abzusetzen.

»Weißt du, Ernst«, sagte sie mit einem Ton, der zugleich entschlossen und wehmütig klang, »dein Lebtag lang hast du alles andere lieber mögen als mich. Deine Waffen, die Jagd und diese … Briefmarken. Drum war es höchste Zeit, dass ihr einmal heiratet, du und deine Marken … und noch was, Ernst … schau endlich einmal Richtung Gott. Wird nicht mehr lange dauern und du stehst vor ihm. Dann wirst du dich vor ihm verantworten müssen … und er wird dich nicht fragen, warum du unschuldige Viecher aus dem Hinterhalt abgeknallt hast. Er wird dich was ganz anderes fragen: Warum hast du in deinem ganzen Leben kein einziges gutes Wort für einen anderen Menschen gehabt? Das wird er dich fragen. Und an deiner Stelle würde ich mir die Antwort gut überlegen. Weil die Ausrede, dass du selber eine schwere Jugend gehabt hast, die kannst du vergessen. Die gilt nicht vor Gott. Er hat dir ein langes Leben gegeben und dich reich beschenkt. Aber statt es ihm zu danken, hast du den anderen immer ins Gesicht gespuckt. Und ich war blöd genug, dass ich so lange zugeschaut hab … aber jetzt ist Schluss.«

Ruhig und zielstrebig nahm sie die Tasche wieder auf und verließ die Wohnung.

»Thudhu Shräggshau dhuhoihoide hohoarshshau«, krakeelte Herr Wagner, bevor seine allerletzten Kraftreserven verpufften. Völlig erschöpft sackte er in sich zusammen. Ihm blieb nur noch eine einzige konkrete Hoffnung: das Putzschwein. Dieser Trampel hatte sich sein schönes Geld noch nie entgehen lassen. Das würde sie auch heute nicht tun, dieses Rindvieh! Wenigstens einmal in ihrem nichtsnutzigen Leben konnte auch sie zu etwas nütze sein und ihm diese verfluchten Stricke vom Körper schneiden. Und dann würde er aufstehen, zu seinem Waffenschrank gehen, die Elefantenbüchse herausnehmen, sie mit dem größten Kaliber laden und seiner von Gott verdammten und vom Teufel zum Abschuss freigegebenen Gattin nachlaufen und ihr zeigen, was er von ihrem Abgang hielt.

Dass sie irgendwann abgehen würde wie ein entzündeter Nierenstein, das hatte er im hintersten Hirnwinkel vielleicht für möglich gehalten, besonders in letzter Zeit, seit sie gar nicht mehr aus der Kirche herausgekommen war und sich immer wieder bei diesen verfluchten Priestern wichtig gemacht hatte. Aber diese hinterfotzige Art und Weise ihres Abgangs hatte er so nicht auf der Rechnung gehabt. Damit hatte sie ihn kalt erwischt. So viel musste er der Wahrheit halber zugeben. Ein derartiges Spektakel hätte er ihr nicht zugetraut, diesem verlotterten Luder, dieser pfaffenhörigen Frömmlerin, dieser dreckigen Mistsau.

Die Vorstellung, wie ihr kleiner Körper durch die Wucht des schweren Kalibers abhebt und durch die Luft fliegt, quer durch das Wohnzimmer, bevor er schließlich auf den nadelspitzen Gazellenhörnern landet, der imaginäre Anblick seiner zwischen den Tierschädeln von der Wand hängenden Gattin, das Bild ihres mit Blei vollgepumpten, blutleeren, schlaffen Kadavers, den er den Geiern vorwerfen wird, damit die ihn bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln, diese Vision verschaffte Herrn Wagner eine Welle der Genugtuung, die sich zu einem breiten, inneren Grinsen auswuchs. Ein Gefühl, das er dringend brauchen konnte, um die Wartezeit bis zu seiner Befreiung zu überbrücken.

1. Teil Großraum Linz

1

Ein mongolisches Zelt am Eingang zum Fegefeuer, bewohnt von drei diabolischen Hexenmeistern, die unlösbare Knoten in seinen mausgrauen Schicksalsfaden knüpften …

Mit diesem Bild nahm Pius Korab seine allernächste Zukunft vorweg. Und das Schlimmste dabei war, dass er keine Wahl hatte. Er würde diesen Ort in Kürze erreichen und dann eintreten müssen in diesen mirakelschwangeren Kultraum. Kein Wunder, dass sein innerer Angsthase panisch an einem Fluchtplan feilte, während er seinem Freund Isonzo und dessen Hund Mooser scheinbar unbekümmert folgte. Die beiden marschierten zielsicher durch die Traunau, obwohl die Pfade kaum zu erkennen waren. Der beginnende Frühling hatte seine Bärlauchteppiche bis in die letzten Auecken gebreitet. Frischer Knoblauchduft hing wie eine unsichtbare Wolke zwischen den Pappeln.

»Keine Angst, Pius«, sagte Isonzo, »du belangst den Falschen mit irgendwelchen Sorgen. Spätestens morgen sind deine Skrupel Sterngeschnupel. Du hörst dir einfach sein Angebot an. Und wenn es dir zu steil wird oder zu geil klirrt oder zu wenig wohlfeil schwirrt – dann sagst du ganz einfach Nein.«

»Nichts ist komplizierter als ein einfaches Nein«, entgegnete Korab hilflos, »warum sagst du mir nicht ganz einfach Näheres über dieses … Angebot?«

Isonzo breitete pathetisch die Arme aus, als wäre er der Heilige Franz von Assisi, der einem verwirrten Nagetier die drei Hauptaspekte der Frettchenfrage erklärt.

»Weil es dir der Krake höchstpersönlich unterbreiten möchte. Vom Grund seiner Seele, durch Schlund und Mundhöhle will er dich alleine sprechen, ohne frechen Störfunk von irgendeinem Skunk.«

Nach dieser Antwort verstummte Korab, als hätte man ihm den Mund mit Schaumrollenschaum ausgespachtelt. In seiner magischen Innenwelt war mit dem Aussprechen bestimmter Worte und Namen Unheil verknüpft. Und der Krake war ohne Zweifel der Inbegriff eines solchen Namens. Dahinter stand eine Persönlichkeit, die laut Isonzos Definition zur Speerspitze der global agierenden AntiKa-Bewegung gehörte. Dieser lose über sämtliche Kontinente verstreute Bund diverser Kapitalismuskritiker war effizient vernetzt und hatte es sich zum Ziel gesetzt, den geldgeilen Moloch mit seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen. Man wollte nicht die alten Fehler wiederholen und alles mit allen teilen, wie das Kommunisten, Hippies und sonstige rührige Spinner versucht hatten. Die humane Gleichheit war eine Illusion, die nur für Paragraphen in schwülstigen Verfassungen reichte, aber in der Praxis immer an den unterschiedlichen Charakteren und Mentalitäten der Menschen scheitern musste. Die AntiKa wollte dieser Diversität Rechnung tragen und gleichzeitig auf eine solidarische Weise jene ökonomischen Grenzen definieren und als verbindlich einfordern, an denen das Kapital kontraproduktiv wurde. Geld sollte weiterhin benutzt werden, aber wieder als Mittel zum Zweck und nicht als Zweck an sich, der sich immer wieder zu einer unkontrollierbaren Instanz auswuchs, die den überwiegenden Teil der Menschheit versklavte. Diesem Programm hatten sich der Krake und seine Mitstreiter mit einer Vehemenz verschrieben, die einem Teufelspakt in nichts nachstand. Aus der absoluten Illegalität diverser Großvermögen, die einzelne oder Konzerne besaßen, leitete die AntiKa das absolute Recht ab, bei ihrem Kampf um ökonomische Gerechtigkeit ebenso auf illegale Mittel zurückzugreifen. Dazu gehörte unter anderem das Fälschen von Geld und Dokumenten – und genau hier lag das Quellgebiet von Korabs nicht geringer Sorge.

Auf Vermittlung Isonzos, der zusammen mit dem Kraken Biologie studiert hatte und seither einer seiner engsten Freunde war, fälschte die AntiKa für Korab seit Jahren diverse Ausweise und ersparte ihm damit eine Menge Ausgaben. Wenn Korab ins Kalkül zog, dass er als freischaffender Privatdetektiv, diplomierter Kunstvermittler und selbst ernannter Fishing Guide gerade einmal genug verdiente, um die Standgebühr für seinen Wohnwagen zu bezahlen und sich halbwegs passabel zu ernähren, dann war die Geldmenge, die er sich ersparte, weil er jedes Jahr eine kostenlose Karte für die öffentlichen Verkehrsmittel in Linz bekam, geradezu zu einem Grundpfeiler seiner Existenz geworden. Ganz zu schweigen von den Fischereilizenzen und den diversen Ausweisen, mit denen er seine Identität je nach Bedarf wechseln konnte. Dass er immer wieder glaubhaft als Polizist, Tierarzt oder Universitätsprofessor für Kunstgeschichte auftreten konnte, hatte er ausschließlich dem Kraken und der fälschungstechnischen Brillanz seiner Truppe zu verdanken. Theoretisch konnte Korab eine Bitte des Kraken ablehnen, aber in der Praxis stand er soweit in seiner Schuld, dass er deutlich spürte, wie das Wort Nein langsam aus seinem Wortschatz verdunstete.

»Der Krake ist bei weitem nicht so arg wie der Sarg, in den ihn deine Gespenstermaler stecken«, verteidigte Isonzo seinen Kumpel erneut, weil es nicht schwer war, das ungewöhnlich lange Schweigen Korabs richtig zu interpretieren.

»Nein, nur noch ärger.«

»Pius, du rostiger Schibus«, seufzte Isonzo theatralisch und blieb stehen. Er legte seine Hand auf Korabs Schulter und improvisierte eine kleine Familienaufstellung. Mooser stand an der Stelle der milchreichen Mutter, während Isonzo den väterlichen Freund, den netten Onkel sowie das milde Auge des Gottes Saturn repräsentierte.

»Ich hab viele Semester lang mit dem Kraken Biologie studiert«, begann Isonzo. »Der gebiert Wunderzunder, eminent vehement. Aber seinen Freunden gibt er immer mehr Energie, als er abzapft. Er ist ein sturmgepeitschtes Meer, aber gleichzeitig auch ein äußerst großzügiges bed of roses, verstehst du? Und er rechnet nie mit einem Energieausgleich. Aber manchmal, in ganz seltenen und speziellen Fällen, beim Herandräuen von Schicksalsdellen, braucht sogar ein Titanenmann wie er eine Klitzekleinigkeit an Unterstützung. Und nur darum geht’s. Um kleine Zuarbeiten, um konsensuale Momente. Hast du gewusst, dass der Krake neben seinem Studium als Grabredner und Mediator gewerkelt hat? Außerdem war er der wuchtig-geniale Schlagzeuger bei den Fetten Föten, damals eine absolute Kultband. Und er war auf allen diesen Gebieten ziemlich erfolgreich.«

»Das ist mir neu«, gab Korab zu.

»Siehst du«, sagte Isonzo, »und jetzt beruhigen wir uns wieder, atmen tief den Bärlauchmief und geben ihr unsere mildeste Segnung, der nahenden Begegnung. Glaub mir, Pius, der Krake freut sich auf euer Treffen. Bis jetzt kennt er dich nur von Passfotos. Und seien wir ehrlich. Auf Fotos wirkst du so unscheinbar wie eine Nennformgruppe in einem engen Schacht in einer dunklen Nacht.«

»Dafür hältst du mich?«, fragte Korab.

»Ja, und nicht nur ich«, bestätigte Isonzo, »sogar der Krake hat mich gefragt, ob das wirklich Haare sind, die da auf deinem Kopf liegen, oder gebleichte Salatblätter, die du gepresst hast, um eine Glatze zu verdecken.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Weder Haare noch Salatblätter«, gab Isonzo zu, »sondern ein speziell präparierter Pappendeckel, den du zuerst in einer Lauge einweichst, dann im Toaster trocknest und mit einer hautverträglichen Salbe auf deine Kopfhaut klebst.«

»Ihr seid bloß neidisch auf meinen Seitenscheitel«, sagte Korab.

»Ja, und nicht nur auf den«, gestand Isonzo, »wir hätten auch gerne so eine fantastische Beulen-Jacke wie du. Ich habe dem Kraken und seinen Begleitern erzählt, dass du sie sogar in der Sauna trägst und neben den Ausweisen, die sie dir gemacht haben, noch jede Menge anderes Equipment reinstopfst: Notfischerausrüstung, Handschellen, Schreckschusspistole, Messer, Signalspray und Müsliriegel. Und nicht zu vergessen: deine extraverknitterten, sich aber teilweise selbstentfaltenden Plastiksackerl. Deine Jacke ist eine Legende, eine tragbare Gemischtwarenhandlung, die gleichzeitig in drei verschiedenen Grüntönen schimmelt.«

»Du meinst schimmert«, verbesserte Korab.

»Nein, Pius«, sagte Isonzo, »ich meine schimmeln im guten Sinn des Wortes. Jeder Grasfleck und jeder einzelne Pilz auf deiner Jacke zeugt von deiner Naturnähe und beweist, dass du evolutionär schon auf der nächsten Stufe stehst. Du bist einer der ersten Menschen, die sich nach einer langen Periode der Entfremdung wieder mit der Natur versöhnen.«

In Korabs Mundwinkeln sammelten sich kleine, säuerliche Grinser. Isonzo sprach unbeirrt weiter.

»Im Prinzip wirkst du so epochal wie die erste Kaulquappe, die ihren Kopf aus dem Wasser gestreckt und das Land erobert hat, nur umgekehrt. Angeführt von Vorpreschern wie dir kehrt die Menschheit zurück in den Schoß der Mutter Natur. Was glaubst du denn, wie diese Einschätzung dem Kraken und seiner Truppe imponiert hat?«

»Ich hör euch jetzt noch wiehern und nach Luft schnappen«, sagte Korab. Isonzo überging diese Anmerkung und legte noch eins drauf.

»Außerdem habe ich ihnen von deinen drei Berufen erzählt. Sie wissen jetzt, dass du als Kunstvermittler arbeitest und die Museumsbesucher mit deinen Metaphern in den Orbit ihrer eigenen Begeisterung katapultierst. Und wie ich dem Kraken dann noch auseinandergesetzt habe, dass du als Fliegenfischer-Guide schon Stammkunden hast, die extra aus Amerika einfliegen, nur um einen Tag mit dir an der Gmundner Traun zu fischen, und du in deinem dritten Nebenjob als Ein-Mann-Detektei weniger Detektiv bist als vielmehr ein South African Ridgeback, also ein Löwenjagdhund, der sich so lange und so tief in einen Fall verbeißt, bis er seinen Klienten ihren kleinen Notgroschen wieder zurückgebracht hat, da sind dem Kraken und seinen Begleitern vor lauter Hochachtung und Rührung endgültig die Nasenrammel geschmolzen und als Vorboten einer freundschaftlichen Zuneigung aus der Nase geträufelt.«

»Ich habe einen einzigen amerikanischen Kunden«, schränkte Korab ein, »und der war bisher zwei Mal mit mir fliegenfischen.«

»Pius, wer wird denn so pingelig sein«, sagte Isonzo. »Ich habe dein Licht nicht über den Scheffel gestellt, sondern nur dein Wesen erhellt. Äußerlich erscheinst du als Motte, aber innerlich bist du eine Flugzeugträgerflotte, ein starkstromdurchzucktes Bündel aus Feuerkobolden und ungeheuer holden Rittern, die in Gewittern gegen Blitze kämpfen. So ein seltenes Phänomen bedarf schon einer näheren Erläuterung. Das ist nicht so wie bei uns Durchschnittsbürgern, wo Schein und Sein zusammenfallen.«

Korab lachte laut auf.

»Du hast mit einem Durchschnittsbürger so viel gemeinsam wie eine Kernfusion mit einem Karpfenrülpser. Im Mittelalter hätten sie dich mit deiner Lästerzunge schon längst an ein Burgtor genagelt.«

»Mein lieber Specht«, sagte Isonzo, »da hast du recht. Ich würde aber glatt auf den Burgtorfichten weiterdichten. Mit Blut und Tränen und Hyänenhumor. Schließlich ist jeder noch so schlechte Reim heiß und ein Paradiesbeweis. Wenn sich Worte aufeinander reimen, dann können wir Menschen das auch. Wir müssen die Reime nur melken und ausloten. Sie sind die Vorboten einer blühenden Harmonie, wie Käsekeime im Brie, wie Erbse und Schote, wie Boote und Ruder, wie Lack und Luder.«

»Und außerdem«, überging Korab den lyrischen Lobgesang seines Freundes, »Ein-Mann-Detektei stimmt auch nicht. Wäre ich Sherlock Holmes, dann wäre Anita mein Dr. Watson. Manchmal glaube ich sogar, dass sie nur pro forma an der Museumskassa sitzt. Den Großteil ihrer Arbeitszeit verbringt sie im Internet und recherchiert für mich. Ohne ihre Hilfe wäre ich hilflos.«

»Und wie geht’s ihr, wenn sie nicht für dich recherchiert?«, erkundigte sich Isonzo. »Hat sie sich schon wieder halbwegs erholt von dem … Schreck?«

»Schreck?«, wiederholte Korab, als hätte er sich verhört. »Das war der Schock ihres Lebens. Keine Ahnung, ob man so ein Trauma überhaupt verdauen kann.«

Obwohl er damals nicht unmittelbar dabei gewesen war, sondern nach einer schweren Unterkühlung im Krankenhaus gelegen hatte, wurde Korab sofort von den Bildern umlagert, die Isonzos Frage heraufbeschwor. Korab sah den gläsernen Behälter mit der Batteriesäure, das Gesicht des krankhaft rachsüchtigen Mesners, der sich an ihm revanchieren wollte, indem er seine beste Freundin verunstaltete, und Isonzo, wie er seine Gummischleuder spannte und dem wahnsinnigen Typen eine hartgepresste Karpfenfutterkugel an die Stirn knallte.

»Ich bin kein Psychologe«, fuhr Korab fort, »aber seit ihr das passiert ist, verändert sie sich.«

»Inwiefern?«

»Sie ist konsequenter geworden«, sagte Korab. »Gleich nach dem Schock hat sie die Scheidung eingereicht und sich damit das nächste Problem eingefangen. Ihr Ex, ein gewisser Krainer, hat der Scheidung nicht zugestimmt. Stattdessen stalkt er sie. Momentan verschickt er Nacktfotos von ihr. Nicht nur im Netz, sondern auch als Ausdrucke, denen er noch abartige Informationen beifügt. Anita ist natürlich verzweifelt. Sie versteht einfach nicht, woher er als Notstandsbezieher das Geld hat für so viel Porto, und wie er diese irre Konsequenz aufbringt, wo er doch sonst das faulste Schwein ist, das man sich vorstellen kann.«

»Verdammte Vampire«, fluchte Isonzo. »Es ist immer das Gleiche. Sie saugen dir Zeit und Chi aus deinem Körper. Und wenn du sie zurückweist, bevor sie dich leergesoffen haben, dann explodiert ihre Wut. Sie wollen dich dafür töten, dass du dich ihrer Willkür entziehst und dein Blut womöglich jemand anderem schenkst. Gedenk dieser Worte: Es gibt nur die eine und die andere Menschensorte: Sauger und Ausgesaugte.«

»Und zu welcher Gruppe gehören wir?«, fragte Korab.

Isonzo lächelte breit. »Wir sind Forellen in Wellen und Wirbel. Aber vorher, du Zwirbel, treffen wir noch den lieben Kraken und quaken mit ihm und seinem Assistententeam.«

»Was heißt Assistenten?«, fragte Korab. »Wer sind die überhaupt?«

»Leute, harmlose, liebe, wie scheue Sonnenstrahldiebe«, blieb der Angesprochene auf der lyrischen Welle, bevor er wieder eine Spur sachlicher wurde. »Seinfreund ist ein Computergenie und ein begnadeter Didgeridoo-Spieler, Molly Müller ist Anthropologin. Sie kommt gerade aus Neuguinea. Hat dort ihre Dissertation geschrieben über ein Pygmäenvolk, bei dem sie ein paar Jahre gelebt hat.«

»Was macht eine Anthropologin in der Krakentruppe?«

»Frag sie«, sagte Isonzo, »der Krake rekrutiert ständig neue Leute. Gestern am Grillenweg hab ich Molly Müller zum ersten Mal gesehen.«

»Das heißt«, schlussfolgerte Korab, »die drei sind in deiner Stadtwohnung abgestiegen?«

»Genau«, bestätigte Isonzo, »aber treffen wollten sie dich hier draußen in der Jurte. Ist gemütlicher.«

»Und anonymer«, sagte Korab so leise, dass Isonzo es unmöglich hören konnte.

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