Swallow, mein wackerer Mustang

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Noch einmal wird an diesem Abend die Zellentür aufgeschlossen, der Katechet Kochta tritt ein, der katholische Hilfsgeistliche der Anstalt. May springt auf und meldet, die Zelle dreineunzehn sei belegt mit dem Züchtling vierhundertzwei.

Der Katechet weist auf den Schemel, er selbst setzt sich auf die Pritsche. »Sie waren im Karzer.« Kochta verschweigt, daß er beim Direktor vorstellig geworden ist und gebeten hat, May einen Teil der Strafe zu erlassen. Typhus, Cholera, Beinbruch, dafür kennen die Ärzte Symptome; aber was ist das mit May? Die Lüge, warum lügen wir? Aus Angst, oder weil wir einem anderen nicht weh tun wollen? Kochta mustert Mays Stirn, die Augen, die hin und her huschen, die Lippen sind breitgezogen zu einem wartenden, argwöhnischen Lächeln. »Sie müssen sich nicht ängstigen, May, Ihre Karzerstrafe ist verbüßt. Aber warum haben Sie Ihre Kameraden so belogen?«

»Ich habe eine Geschichte erzählt.«

Kochta horcht auf. »Eine Legende? Aber eine Legende muß einen edlen Kern haben. Sie muß den bessern, der sie hört.«

Das wartende, rückzugsbereite Lächeln ist aus Mays Gesicht gewichen. Kochta ist ein schwerknochiger Mann, nicht eigentlich alt, aber alles andere als jung, man meint, er habe vor zehn Jahren schon so ausgesehen und würde in zehn Jahren nicht anders wirken; immer habe er Anzüge getragen aus schwarzem Tuch, das an den Ellbogen seifig wurde und nie zerschliß. Von Kochta strahlt Ruhe aus, diesem Mann muß man nicht sofort antworten wie dem Vater, einem Polizisten, dem Zuchthausdirektor. »Nützen«, sagt May, »ich wollte so gern den Armen helfen. Ich wollte stehlen für sie.«

»Du täuschst dich. Du hast für dich gestohlen. Beim Krämer Reimann in Wiederau.« Mays Augen flackern wieder, Spannung kehrt in die Mundwinkel zurück. Beim Krämer Reimann, das wissen beide, hat sich May als Geheimpolizist Leutnant von Wolframsdorf ausgegeben, der nach Falschgeld fahndet. Einen Zehntalerschein hat May als gefälscht und eine Uhr als gestohlen bezeichnet und beschlagnahmt, den Krämer hat er ins Gasthaus geführt, wo ihn angeblich Gendarmen abholen und nach Rochlitz eskortieren sollten. Durch eine Hintertür ist May mit Geld und Uhr verschwunden. »Du wolltest mehr scheinen, als du bist. Warst hoffärtig und eitel.«

»Ich wollte …«

»Was wolltest du?«

»Ins Gebirge hinauf.« Wälder, kreisrunde Kessel mit Felsenrändern und einem schmalen Eingang, der von Gebüsch verwuchert war und den nur wenige Verschworene kannten. Im Kessel eine sanfte Wiese, ragende Bäume, ein Quell. Dort konnten Männer vom Pferd steigen und sich um ein Feuer scharen, Männer konnten ein Männergespräch führen. Keine Gefahr, daß Feinde lauschten.

»Ins Gebirge?«

May zieht den Blick hoch; Kochtas Augen warten. Da ist er wieder aufgetaucht, dieser Jugendtraum vom bewunderungswürdigen Bandit Bellini, gemischt mit der Phantasterei vom Ulanenoffizier in einem lothringischen Schloß inmitten von Wäldern.

»Sie sind zerstreut, May. Dabei haben Sie’s gut, soweit man’s im Zuchthaus gut haben kann. Sie liegen in einer Einzelzelle, zur Arbeit sind Sie mit anderen zusammen. Die Arbeit ist leicht, nicht wahr? Sie sollten die Zeit bei uns nützen, um zu sich zu kommen. Ihre verworrenen Träume – schütteln Sie sie ab! Lesen Sie! Ich werde beim Direktor für sie bitten.«

Eine Woche später hält May Bücher und Journale in den Händen. Von Mungo Park liest er, der den Lauf des Niger erforschen wollte, des unheimlichen schwarzen Flusses. Ein Besessener war Mungo Park, halb verrückt gewiß, als er auszog, arabisch verkleidet, sich mit Krankheiten herumschlug und den unsäglichen Strapazen eines Wüstenmarsches, der immerfort von Tod bedroht war und doch den Niger fand und ihm folgte über Stromschnellen hinunter, geschunden, ohne Aussicht auf Lohn. Hoffnung hat ihn getrieben, nicht auf Ruhm und Geld, sondern auf Lohn aus der eigenen Brust. In diesen Tagen sitzt May schweigsam über den Tabakblättern, die anderen fragen, hänseln, wollen Geschichten herauslocken. Aber er reitet und leidet mit Mungo Park, da kann er vergessen, was der Katechet Kochta zum Leben erweckt hat, die Dämonen Leutnant von Wolframsdorf und Plantagenbesitzer Albin Wadenbach und Doktor der Medizin Heilig. May fröstelt, während seine Hände Tabakblätter rollen, während er an der Seite von Park aus dem Uferdschungel des Niger zu einem Zeltlager der Tuaregs hinüberspäht. Sein Gefährte wird vom Fieber geschüttelt, Schweiß bricht ihm aus, während sie durch Sümpfe zurückschleichen. May rettet ihm das Leben, denn ein Krokodil schnellt aus dem Morast, will Mungo Park packen, aber May reißt die Büchse hoch und fällt das Tier durch einen Schuß ins Auge. Hätte er es um einen einzigen Zoll verfehlt, lebte Park nicht mehr.

»He, May!«

May fährt zusammen, die anderen lachen. Prott zählt May vor, wie wenig er in den letzten beiden Stunden geschafft habe. Wenn er krank sei, solle er sich zum Feldscher melden und die anderen nicht mit seinem Anteil belasten. Wenn er ihnen wenigstens eine Geschichte erzählte, eine dieser tollen Geschichten aus seinem Leben! May trinkt Wasser aus einem Krug und befeuchtet die Stirn. Es ist schwül, dumpfig im Arbeitsraum hinter den Mauern des Zuchthauses Waldheim. Er ist nicht in Afrika, nicht Mungo Park spricht mit ihm, er hat ihm nicht das Leben gerettet. Prott schmeißt einen frischen Ballen hin und befiehlt, die Blätter zu lösen, aber vorsichtig gefälligst! Und eine Geschichte, he! Wie ist das weitergegangen in Böhmen, hat er nun eine Räuberbande befehligt oder nicht?

May will alle Kraft in die Hände zwingen, damit das Hirn Ruhe hat vor dem Teufel Prott und seinen Hilfsteufeln, vor den Dämonen Doktor Heilig und Leutnant von Wolframsdorf, vor dem Dämon, der ihn getrieben hat, eine geborgte Uhr als Eigentum auszugeben. Der Vater steht auf seinem Feldherrnhügel über dem Städtchen Ernstthal, ist dem Webstuhl entronnen, befehligt die sächsische Armee in der Schlacht von Kesselsdorf, und Karl steht frierend in der dünnen Jacke mit den längst zu kurzen Ärmeln und preßt einen Knüppel an die Schulter, der ein Gewehr sein soll. In einer Höhle verbirgt sich Karl, wärmt sich an einem spärlichen Feuer, weiß, daß ihn die Gendarmen suchen, ihn, den Dieb, der ein Räuberhauptmann werden will. Die Dämonen dringen in die Höhle ein, aus beiden Pistolen feuert May.

Prott packt als erster zu, aber er kann den Fallenden nicht halten, die Hand rutscht von der Schulter ab, Mayschlägt halb an die Wand und halb auf den Ziegelboden. Prott zieht May hoch, ein anderer hilft, ihn zu stützen, ein dritter drückt ihm einen Becher an die Lippen. May schlägt die Augen halb auf und läßt die Lider sofort wieder sinken; da fassen sie ihn unter den Achseln und tragen ihn hinaus und den Gang entlang und legen ihn auf die Pritsche in seiner Zelle. Ein Wachtmeister beugt sich über den Züchtling 402, lauscht auf den gleichmäßigen Atem, fragt Prott: »Der arbeitet wohl nicht gern?«

Das ist es nicht. Der ist bißchen verrückt. Manchmal bildet er sich ein, er wäre in Böhmen.« Prott hat nicht das ausgedrückt, was er meint, er sucht nach genaueren Worten und fügt hinzu: »Der kann seine Gedanken wegschicken. Die sind wirklich in Böhmen oder sonstwo, und dabei sitzt er hier und wickelt Zigarren.«

Später steht Kochta vor Mays Pritsche und legt die Hand auf Mays Stirn. Fieber hat er, nicht beängstigend hoch, der Atem geht ruhig. Die Zigarrenmacher haben ihm berichtet, wie 402 stumm gesessen und auf keine Frage geantwortet hat. Fieber von der Seele her, vermutet Kochta, ob es das gibt? Es ist nur gut, daß niemand den Feldscher geholt hat, der hätte womöglich geglaubt, ein Wasserguß könne den vermeintlichen Simulanten am ehesten auf die Beine bringen. »May«, bittet Kochta, »nun hören Sie doch und sehen Sie mich an! Ich weiß, daß Sie mich hören! Sie flüchten vor mir, hab ich das verdient?«

Lider zucken, May schlägt die Augen auf, nimmt ein Lächeln wahr, sieht Lippen sich bewegen. Kochta befiehlt nicht, schreit nicht, er setzt sich auf den Rand der Pritsche zum Züchtling 402 und legt wieder die Hand auf dessen Stirn und mutmaßt, das Fieber komme von der Seele, vom Herzen her, vom Gehirn vielleicht, die Gedanken fiebern, nicht eigentlich der Körper. »Vielleicht tun Ihnen die Bücher nicht gut? Sie sollten in der Bibel lesen, die großartigen Gleichnisse vom Herrn. Oder ruhige, schöne Gedichte. Was haben Sie gelesen?«

»Über Mungo Park.«

»Wer ist das?«

May richtet sich halb auf, während er mit fahrigen Worten berichtet; der Katechet drückt ihn zurück und fragt: »Wem bringt er Gutes?«

»Er bringt Wissen.«

»Wissen über einen Fluß, über ein Stück der Erde. Der Herr will, daß der Mensch sich die Erde untertan mache. Deinem Park könnten Missionare folgen. Du hast recht, dich an ihm aufzurichten. Aber tust du es nicht auch wegen der Gefahr?« Die Gefahr, überlegt Kochta, vielleicht hat die Gefahr diesen Mann gelockt zu stehlen, vielleicht suchte er einen Feind, um sich selbst zu beweisen, daß er mutig war, und er sah keinen anderen Gegner als die Gendarmen? Ein Rätsel ist er, ein Mensch immerhin, der sucht, und wer sollte ihm finden helfen, wenn nicht der Herr? »May, ehe du schläfst, wollen wir beten.«

Der Wärter schließt hinter Kochta ab. May ist allein, Dunkelheit breitet sich in der Zelle aus, die letzten Geräusche im Haus ersterben. An ein Gespräch erinnert er sich, das sie vor Wochen während der Arbeit geführt haben: Kann man sich im Zuchthaus heimisch fühlen? Nach vier Jahren, haben manche gesagt, wenn du vergessen hast, was Frauen und Schnaps und ein durchsonnter Wald und der Geruch eines reifen Roggenfeldes für Glück sind. Zwei Jahre, sieben Monate und siebzehn Tage ist er gefangen. Erst in der Untersuchungshaft in Mittweida bis zum Prozeß, an einen Wärter gefesselt marschierte er über Ringethal und Hermsdorf, sah den Turm der Burg Kriebstein über der Zschopau im Mittagslicht, tauchte ein in die dämmrige Kühle des Zuchthauses Waldheim. Ein Heim im Wald, dieses Wort ist bitterster Hohn. Aber Ruhe findet er allmählich vor den Dämonen, er muß sie besiegen, bis er entlassen wird in einem Jahr, vier Monaten und dreizehn Tagen. Schreiben wollte er – ob er diese Dämonen aus sich herausschreiben kann? Vielleicht, wenn er sich in Waldheim geborgen fühlt. Vielleicht schon nach nicht einmal drei Jahren. Er sehnt sich nicht nach den Tagen, da er durch Sachsen und Böhmen streunte. Er sehnt sich nach Abenden wie diesem, wenn seine Gedanken nahe sind und nicht in lothringischen Wäldern, nicht durch afrikanische Wüsten irren.

 

Tags darauf ist das Fieber abgeklungen, May beugt sich blaß und stumm über seine Tabaksblätter. Von Politik ist die Rede, von Nationalliberalen und Konservativen und der Reichspartei und dem einen Mann der Sozialdemokraten im Reichstag. May hört kaum zu. So hat der Vater geredet, wenn er vom Bier nach Hause kam, so klug und so dumm und so aufgeregt und so eitel. Hoffnung braucht May, und Hoffnung kommt für ihn nicht aus der Bibel. Einmal, dessen entsinnt er sich, brach er in eine erträumte Ferne auf. Als die Not zu Hause am größten war, verschwand er eines Morgens und ließ einen Zettel zurück, auf dem stand, er sei unterwegs, um von spanischen Räubern Hilfe zu erbitten. Er kam nicht über Zwickau hinaus.

Am Abend bringt Kochta die Bibel, bringt auch Papier und Tinte und Feder. »Schreib deine Gedanken auf. Wenn du das vermagst, kannst du dich von bösen Vorstellungen befreien.« Für einen Augenblick wird Kochta von der Idee gestreift, dieses Papier den Flammen zu übergeben und so die Worte auszulöschen. Hexerei wäre das, er schiebt den Gedanken von sich.

May blättert, als er allein ist, in der Bibel, legt sie beiseite, nimmt einen Bogen und fährt mit der Hand glättend über ihn hin. Über einen Ritt durch die Prärie will er fabeln, in der Wildnis wird sein Bericht beginnen, auf einem Grashügel, mit einem Blick in die Unendlichkeit. Er schreibt diesen Satz: »Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren.« Er liest ihn wieder, richtet den Blick auf die Zellenwand, denkt an den nächsten Satz, schreibt ihn und streicht ihn durch. An diesem Abend füllt er zwei Bögen.

Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren – diesen Satz sagte er sich am nächsten Morgen immer wieder in Gedanken vor, er findet ihn träumerisch, hoffnungsvoll; Kraft fühlt er in ihm, die auf ihn zurückkommt. Denn er selbst ist es, der über Präriegras sprengt, er tröselt keine Fäden auf, mit denen Tabakblätter gebündelt sind. Swallow, mein wackerer Mustang.

»Na, May?« Prott hat durch einen Kalfaktor erfahren, daß Kochta mit Tinte und Papier zu 402 unterwegs war. May hat geschrieben – hat er seine Kameraden angeschwärzt, ist er unter die verdammten Spitzel gegangen? »Na, Karle, hast die Bibel abgeschrieben gestern?«

In dieser Woche bedeckt May zwanzig Bögen mit Wörtern. Aus den Prärien und Wüsten zwingt er seine Gedanken zu dem zurück, das er aus eigener Anschauung kennt, rasch gelingt ihm der Gedankensprung: Das da ist wirklich geschehen, ich habe es selbst erlebt. Eine Landschaft stellt sich vor wie von Ernstthal ins Gebirge hinauf; ein Waldbauer tyrannisiert die Armen des Ortes, den redlichen Grunert vor allem, der ihm einst ein Mädchen weggeschnappt hat, dessen Gehöft abbrannte, dessen Frau nun krank ist und der in einer Hütte haust, die dem Waldbauern gehört. Den Waldbauern läßt May denken: »Fühlen? Was das nur eigentlich für dummes Zeug ist! Wenn ich den Hund prügle, ja, so fühlt er die Schläge; aber etwas anderes? Albernheiten!« Durch seinen Schwager Ebert wird Grunert zum Wildern verleitet, aber der Waldbauer hat an der Eisenhöhle längst eine Falle gestellt. An die Höhle nördlich von Ernstthal denkt May beim Schreiben, in der er sich einst verbarg. Grunert und Ebert werden überwältigt, voller Rachegelüste kehrt Ebert zurück. Aber Grunert ist endgültig geläutert. Da brennt das Gut des Waldbauern ab – Versicherungsschwindel! Die Gendarmen schleppen den Waldbauern ins Gefängnis, aber Grunert hat seinen Schwager in der Nähe der Brandstelle gesehen! Seiner Frau bekennt er, daß er ihren Bruder anzeigen muß, »und wenn er zehntausendmal dein Bruder ist und wenn er uns zehntausendmal so viel Gutes getan hat; denn ich hätt’ den Waldbauern sonst auf dem Gewissen all’ mein Lebtag!« Auch beim Pfarrer hat sich Grunert Rat geholt, nun führt er eine atemberaubende Wende des Prozesses herbei. Kaum ist der Waldbauer entlastet, als auch der Pfarrer und Ebert auftreten, denn der Pfarrer hat indessen Ebert zu tätiger Reue bewogen. Erschüttert von so viel Edelsinn bricht endlich auch im Waldbauern die Kruste, er bekennt aus freien Stücken, daß er vor fünfzehn Jahren aus Rachegelüsten Grunerts Haus angezündet hat, nun soll ihn die gerechte Strafe endlich treffen. Der arme Grunert mit seiner Familie aber möge in dieser Zeit seine Güter verwalten.

Kochta liest. »Eine Legende aus unseren Tagen. Löblich. Ich werde sie dem Herrn Direktor zeigen. Er dürfte sehen, daß Sie sich auf gutem Weg befinden.«

»Und wird«, tastet May vor, »der Herr Direktor auch merken, wie ich zu der Strafe stehe, die über mich verhängt worden ist? Daß ich ihre nützliche Wirkung …«

Anderntags legt Kochta seinem Direktor die Erzählung auf den Tisch. Der Direktor zieht die Brauen hoch: Der schwächliche Schwätzer? Sieh an! Er drückt den Zwicker fest, liest und lacht. Einfältiger Schund ist das, entscheidet er nach zwei Seiten, aber natürlich ist es besser, wenn 402 seine abstruse Phantasie am Papier abreagiert, als daß er die übrigen Sträflinge rebellisch macht. »Und Sie versprechen sich etwas davon?«

»Beruhigung, Ausgleich, vielleicht Heilung.«

Das klingt dem Direktor nun ein wenig übertrieben, aber so kennt er seinen Katecheten, gütig bis zur Selbstaufopferung.

»Vielleicht müßte May sich gedruckt sehen.«

Der Direktor lacht, daß die Schnurrbartspitzen zittern. Das ist nun wieder sein Katechet, wie er leibt und lebt. Vielleicht wird er noch das Geschreibsel an einen Verleger vermitteln? Dies hier ist ein Zuchthaus, 402 ist ein Hochstapler, seine Arbeitsleistung läßt zu wünschen übrig, die Reden, die er führt, könnten sich ungünstig auf das Anstaltsklima auswirken. »Ein Hochstapler, Herr Kochta!«

»May schreibt das Schlechte aus sich heraus.«

Der Direktor entsinnt sich, daß er zu May gesagt hat: Dumm sind Sie nicht, aus Ihnen könnte noch etwas werden, Platz ist für jeden im Reich. An einen, der billige Geschichten schreibt, hat er dabei allerdings nicht gedacht. »Auf Ihre Verantwortung, Kochta! Bekommt er Besuch?«

»Seinen Vater.«

»Der Kerl kann ihm meinethalben sein Gestümper mitgeben.«

Ein Druckmittel gegen 402, sinnt der Direktor. Es ist immer gut, wenn ein Züchtling etwas besitzt, das man ihm wegnehmen kann.

3

May schreibt. »Vor allem Güte«, bittet Kochta. »Eine Geschichte muß Hoffnung geben, Trost. Sie muß den Leser fromm machen. Das Gute muß siegen.«

Das Gute – in den Märchen, die die Großmutter erzählte, wurde das Böse bestraft nach dem Grad seiner Bosheit. Eine Tracht Prügel für den Lügner, ein Monat Karzer für den Dieb, dem Mörder hackten am Galgen die Raben die Augen aus. Aber die schöne Unschuld wurde vom Königssohn auf den Thron gehoben.

Einmal wird May aus dem Arbeitsraum herausgerufen, ein Wärter ordnet an, daß der Züchtling 402 einen sauberen Kittel anzieht, der ohne Taschen ist. »Sie haben Besuch«, sagte der Wärter, »Sie wissen, daß Sie über nichts reden dürfen, was mit dem Zuchthaus zusammenhängt, nicht, mit wem Sie zusammen sind. Nur Persönliches!«

Die Haut über der Stirn brennt. Er wird einen Gang entlanggeführt, in einer Zelle sitzen Kochta und ein magerer, ergrauter Mann. May erschrickt, das ist sein Vater, der im letzten halben Jahr gealtert ist, als wären zehn Winter vergangen. Dieser Vater erschrickt über das Aussehen seines Sohnes; bleich, gedunsen ist Karl, sein Lächeln steht im Widerspruch zu der Furcht in den Augen. Der Katechet sagt: »Sie wissen, worüber Sie sprechen dürfen und worüber nicht. Bitte, machen Sie mir keine Ungelegenheiten.« Er läßt einen Satz folgen, der ihm Unbehagen bereitet, weil er eine Heuchelei enthält, die ihm sein Amt leichter macht: »Sie beide sind doch gebildete Männer.«

»Ich habe geschrieben, Vater!«

»Geschrieben?«

»Eine Erzählung, Vater!«

Freude zuckt im Weber May auf – Karl durfte schreiben, also hat er sich mit der Obrigkeit gut gestellt? Wird er amnestiert?

Vorsichtig schaltet sich Kochta ein und dämpft überschwengliche Hoffnung. Vielleicht gelingt es Herrn May, Fäden zu knüpfen? Kochta hat herumgehorcht, der Verleger Münchmeyer in Dresden ist ihm genannt worden, er gibt Journale und Kalender heraus. Der Vater merkt sich den Namen, Flecke treten auf seine Wangen, denn da breiten sich vor dem Sohn gewaltige Möglichkeiten aus, eröffnet sich ein Weg nach oben und für ihn selbst vielleicht auch: er, der Vater eines Schriftstellers, der mit Druckern verhandelt. Da werden die Leute in Ernstthals Wirtshäusern aufhorchen, an seinen Tisch werden sie rücken und ihm Branntwein spendieren, auf daß er wieder und wieder berichte, was ihm in Dresden im Hause eines Verlegers widerfahren sei. Was ist gezahlt worden, drei, zehn, hundert Taler?

»Nimm alles mit, Vater!«

Von den Geschwistern reden sie noch, vom Haus daheim, das ein neues Dach braucht, über den Preis für Schiefer. Der Katechet wirft ein, die Besuchszeit sei in fünf Minuten verstrichen. Da will Karl noch rasch erläutern, wie das Schreiben die Dämonen verdrängt, aber er findet die Worte nicht, von denen er sicher ist, daß Vater sie versteht. Beim Händedruck glühen wieder Flecke auf den Wangen des Vaters. »Bleib gesund, Karl! Und mach dem Herrn Katecheten keinen Verdruß!«

Am Abend sitzt May wieder in der Zelle. Einen Bogen hat er zweimal geschrieben, die Kopie behalten, den ersten Satz liest er abermals: Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren. Das stimmt ihn ein. Helligkeit über der Prärie, ein Punkt taucht am Horizont auf. Das Ich liegt im Gras, Swallow hat den schönen Kopf an seinen Schenkel gedrückt, sanft blähen sich die Nüstern. An den Vater denkt May und versucht, sich den Verleger Münchmeyer vorzustellen als einen Mann, der wie der Direktor gekleidet ist, eine goldene Uhrkette spannt über dem Bauch, die Manschettenknöpfe schimmern, eine Perle ziert die Krawattennadel. Mit sonorer Stimme spricht Münchmeyer. May sinkt ins Halbdämmern, Halbwachen zurück, Münchmeyer verwandelt sich in den Direktor, der Direktor fragt: »Und was dachten Sie, als Sie sich als Doktor ausgaben und sich Anzug und Mantel und Schuhe ergaunerten, in Penig war das wohl?« Da lacht May, Doktor Heilig ist besiegt wie der Polizeileutnant von Wolframsdorf, der Notenstecher Hermin. Denn Swallow, sein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren.

Zwei Monate später tritt Kochta in die Zelle, ein Kalfaktor hinter ihm trägt einen Topf mit Quark, ein Stück Rauchfleisch und ein Säckchen Zwiebeln. »Herr Münchmeyer hat Ihnen zwei Taler geschickt. Als Vorschuß.«

May steht starr, er fürchtet, zusammenzubrechen wie damals im Arbeitsraum.

»Ich habe für Sie eingekauft. Das restliche Geld ist beim Herrn Direktor für Sie deponiert.«

»Also wird gedruckt?«

»Eine Option. Sie dürfen Ihre Erzählung niemand anderem anbieten, solange sich Herr Münchmeyer nicht entschieden hat.«

May hat das Wort Option nie gehört, er wendet es hin und her. »Also ist Hoffnung.«

»Immer ist Hoffnung.«

»Und ich soll weiterschreiben!«

»Nicht zuviel. Regen Sie sich nicht auf dabei. Nicht mehr als fünf Seiten am Abend.«

An diesem Abend fabuliert May wieder: Das Ich reitet an der Seite des schönen Häuptlingssohns in ein kahles Gebirge hinein, eine Schlucht verengt sich von Süd nach Nord, steil ragen Felswände himmelwärts. Im Bach reiten die beiden weiter, dringen mühselig vor, warmer Wind weht ihnen entgegen. Unversehens breitet sich die Schlucht zu einem Kessel, ein Weiher blinkt in der Mitte, links davon ragt eine Zypresse, Gras wächst in den Spalten. Da reiten die Freunde Hand in Hand, am Weiher steigen sie von den Pferden und lächeln sich an. »Wir sind im Paradies, Bruder«, verkündet das Ich. May sucht einen Namen für den Talkessel und wählt diesen: das Loch Kulbub.

 

Neun Seiten schreibt er an diesem Abend, am Ende ist er schweißgebadet. Nachts stellt er sich quälend deutlich den Kessel Kulbub vor, die steilen Wände, die Zypresse. Da springt er auf, steht zitternd neben der Pritsche.

Einmal in jeder Woche besucht Kochta den Züchtling 402, teilt ihm seine Papierration zu und holt immer enger beschriebene Bogen ab. Manchmal überfliegt er die eine oder andere Passage. Konfus erscheint ihm vieles, weitschweifig, die Schrift ist schwach geneigt und pedantisch wie bei einem Kanzlisten. Nach Monaten trifft ein Brief aus Dresden ein, er ist an May gerichtet; der Direktor entscheidet, ihn nicht auszuhändigen, aber der Katechet darf ihn vorlesen: Der Verlag Heinrich Gotthold Münchmeyer stellt den Abdruck der Geschichte »Rache oder Das erwachte Gewissen« in dem Journal »Das Schwarze Buch« in Aussicht. Natürlich werde ein Redakteur ausbessern, Schwächen eines Anfängers seien nicht zu übersehen, aber May treffe in erfreulichem Maße den Publikumsgeschmack. May saugt die Luft ein, hält sie in der Brust so lange wie möglich, stößt sie stöhnend aus. Kochta registriert: So atmet jemand, der über einen Berg ist. Diesen Gedanken wendet der Katechet: Es sind krude Erfindungen, die May auftischt, doch offensichtlich erleichtern sie ihn. Sind selbst Lügen erlaubt, wenn man sich durch sie befreit und niemandem schadet? Oder bleibt Lüge immer und immer ein Teil des Bösen? Nichts ahnt Kochta von dem Abend, an dem May das Loch Kulbub ersann, und nichts von der Nacht danach.

Der Brodem der Zigarrenwicklerei drückt auf die Lungen, Tabak weicht auf der Diele, unter dem Tisch, um den Ofen herum, auf den Fensterbrettern. May nimmt Wickel von seinem Nebenmann, rollt sie in den Decker, dreht die Spitze an, klebt mit Kleister zu, der schwarz ist wie Teichschlamm, spuckt darauf und streicht glatt. Die nächste Zigarre, weiter. Wenn sie alle wüßten, wer ich bin, sinnt er, was in mir brennt, was sich Bahn brechen wird! Die Bösen zuckten zurück, Schweiß würde auf ihrer Stirn perlen, das Kinn töricht herunterklappen. Den Guten träte Glanz in die Augen, ein glückseliges Strahlen dränge von Innen heraus: Karl May ist da, der Starke, Gerechte, alles wird gut. Aber Prott schreit: »Nicht so viel Kleister, du Spinnkopp!«

Von Weibern reden sie wieder und wieder, die Kerle an den braungebeizten Tischen. May kann nicht mithalten, seine Erfahrungen sind beschämend gering. Ein Webermädchen aus Lugau für ein paar Abende, eine Bauerndirne in Böhmen, diese blamable Affäre im Grunde: Er hatte ihr Gedichte vorlesen wollen, sie hatte verdutzt, fahrig zugehört und war davongerannt. Mit ihren Freundinnen hatte sie in der Ferne gekreischt. Er stellt sich vor: Ein Zimmer mit Bordüren und schwellenden Teppichen, eine Frau liegt halb, lehnt halb auf einem Diwan, ihre vollen, weichen, weißen Arme sind bloß bis zur Schulter hinauf. Keineswegs blutjung ist sie, vielmehr reif, erfahren – verheiratet mit einem Rechtsanwalt? Ist Gräfin, die einen jungen Dichter zu sich geladen hat, der ihr seine Verse vorliest? Aber er wagt nicht, zu offenbaren, daß es eigene Gedichte sind, er gibt vor, er habe sie aus dem Orientalischen übersetzt. May nimmt sich vor: Wenn ich rauskomme …

»He, May, hau ran!«

Jaja, Prott. In acht Monaten und sieben Tagen. Eines Tages, wenn ich berühmt bin, werden mich elegante, kluge Frauen in ihre Salons laden, ich werde eine Mappe mit meinen Werken unter dem Arm tragen.

Klappern vieler Holzschuhpaare auf Korridoren und Treppen, Schlösser knallen, Riegel werden zurückgeworfen. Station drei – ablaufen! Station vier – ablaufen! Auf lehnenlosen Bänken drängen sich Züchtlinge in der Kirche, Tabak wird gegen Zucker getauscht, Feuerstein gegen Speck. Sensation auf Station fünf: Drei Häftlinge haben Brot in Wasser aufgesetzt, sie wollten Brotwein gären lassen. Die drei schmoren im Karzer. May hat die Arme an den Körper gepreßt, er tauscht nicht und hält sich heraus aus dem Gerüchtemarkt.

Ein Pult ist neben den Altar gestellt worden, der Direktor legt Manuskriptseiten darauf. Vor drei Jahren siegten Soldaten aller deutschen Stämme bei Sedan über das neidische Frankreich; Sachsen und Preußen, Badenser und Bayern fochten Schulter an Schulter. Der Aar warf den Hahn in den Staub, ein welscher Kaiser kapitulierte. Wieder ein Kaiser über Deutschland, ein Heldenkaiser nach Jahrhunderten der Ohnmacht! Zwickergläser blitzen, Worte blitzen. Blut und Eisen. Die Zuchtrute der Vergeltung fiel auf Frankreich, geboren war der eherne Held an Wollen und Können, gefunden hatte er den edlen Fürsten, der ihn walten ließ, erwählt hatten beide das zum Äußersten entschlossene Volk als Gefolge. Deutschland wurde in den Sattel gesetzt, reiten wird es schon können! Eine Pause im Vortrag, ein neues Blatt: Tüchtig, was ist das? Tüchtig ist auch ehrenhaft, redlich. Der Direktor läßt seinen Blick über die Reihen der ihm Anvertrauten streifen, der Diebe, Betrüger, Räuber, Schänder und Totschläger. Tüchtig in diesem neuen deutschen Leben, das heißt arbeitsam, ordentlich. Heißt kaisertreu, soldatisch. Schande über die, die im Einigungskrieg fochten und dennoch in diesem Haus Strafe verbüßen müssen – der Geist von Sedan wurde schmählich vertan. Aber immer bleibt Hoffnung, wo Reue ist – der Direktor gleitet in die Niederungen der Routine hinab, das kennen seine Züchtlinge nicht anders an ihm, der Alte kann beginnen, wo immer er will, er endet doch in händeringender Mahnung. May hat Pathos in sich aufgesogen, am stärksten hat ihn dieses Bild beeindruckt: Ein gefangener Kaiser auf einem Schloß, Posten wachen vor den Portalen, einsam schreitet der Besiegte durch hallende Säle. Ein Kammerdiener meldet: Wieder eine Stadt durch den Feind erobert, wieder eine Festung gefallen. Reue, tätige Reue, diese Rede kennt er. Prott hat ihn wieder wegen mangelnder Arbeitsleistung angeschwärzt.

Mittags schwimmt Speck auf der Suppe. Abends schreibt May an einer neuen Geschichte: Ein Mann taucht im Gebirge auf mit geheimnisvollen Kenntnissen über vergangene und gegenwärtige Schurkereien. Beim Förster mietet er sich ein und führt ihm vor, wie er in Windeseile sein Aussehen verändern kann: Er reißt eine Perücke herunter, färbt sich in Sekundenschnelle das Gesicht, klebt einen Bart an, läßt ihn in der Tasche verschwinden. Er trägt einen Rock mit vier Ärmeln, den man wenden kann, rot ist er auf einer Seite, blau auf der anderen. Gebückt schleicht dieser Mann durchs Zimmer und schreitet gleich darauf kerzengerade. Dukaten streut er unter die Armen, Fleißigen, die so friedfertig sind. Allen Haß häuft May auf die, die seine Kindheit vergällt haben, die Mieteintreiber, Hausbesitzer, Fabrikanten, Zwischenhändler. Salz wird gebräunt, damit es den fauligen Geschmack der Kartoffeln überdecke. Vor Jahren hat er im Zuchthaus Zwickau über das Sonnenland Dschinnistan gelesen, der Gegenpol hieß Ardistan, die Hölle, das Schwarze. In jedem Menschen liegen Dschinnistan und Ardistan nebeneinander, man muß Dschinnistan wecken, ihm aufhelfen durch edle Schriften. Ein anderer Gedanke aus Zwickau wird lebendig: Da ein Häftling für eine Woche nur ein Buch bekommt, das dann für viele Stunden ausreichen muß, sollte es lediglich vielseitenstarke Bücher geben. Und am Ende weiß der Leser: Da liegt Dschinnistan, ich muß es erringen, am anderen Pol dämmert Ardistan, ich muß es bekämpfen in mir und außerhalb von mir. Ein heiliges Lebensziel, sinnt er am nächsten Morgen, während seine Hände wie von selbst Wickel heranziehen und in die Decker schlagen, den Kleisterpinsel fassen. Ein Schwindelgefühl packt ihn, er zwingt sich hoch und drückt das Gesicht an die Luftklappe. Über dem Steilhang der Zschopau wölben sich Baumwipfel. In acht Monaten, weiß May, am zweiten Mai 1874 bin ich frei!