Sommergewitter

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Bremsspuren

1

Gestank drang beißender als am Vortag über die Bahngleise, da hatte der Wind auch aus dieser Richtung geweht; vielleicht war es wärmer geworden. Ammoniak dominierte, gefolgt von Chlor, etwas wie verfaultes Weißkraut war eingemischt; Erbsen schienen auf glühender Herdplatte zu schwelen. Noch tränten die Augen nicht, das würde im hohen Sommer kommen. Niemand wußte, aus welcher Mistbude das Giftzeug herantrieb, wahrscheinlich nicht einmal der große Genosse, der kürzlich daheim im Garten gesessen hatte, Vaters neuer alter Freund.

Clara Brücken war wie immer zehn Minuten vor Schichtwechsel im Büro; Hemsberger hielt es genauso. Es war besser, den Dienst mit ein paar erklärenden Worten zu übergeben, als die Kladden kalt über den Tisch zu schieben. Sechs Waggons mit Zement galten als überfällig, berichtete der Kollege, den Papieren nach müßten sie auf der Strecke sein. Ziel: Rummelsburg, Nachschub für die berühmte Stalinallee. Keine Auskunft von irgendwoher. Die Forderung der Bezirksdirektion, verstärkt Schwerlastzüge zusammenzustellen, ginge ihm allmählich auf den Senkel. Wieder ’ne Neuerung, für die einer fette Prämien einsacken wollte, im Grunde Stuß. Da blähten sie aus einem Verkehrsministerium drei, den großen Chefs wurde angekreidet, sie zeigten zu wenig Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse. »Zeitung gelesen?«

Woher nahm Hemsberger nach einer langen Nacht die Kraft zu solchem Palaver? Wahrscheinlich aus seiner Wut. Clara zuckte die Schultern.

»Jetzt diese Fahrpreiserhöhung. Heute morgen gab’s an den Schaltern den ersten Krach.«

Clara Brücken fragte sich, was in Hemsberger überwiegen mochte, Mitleid mit Schichtarbeitern und Schülern, deren Dauerkarten teurer werden sollten, oder die Häme, daß wieder etwas in der DDR nicht klappte oder sich verschlechterte. Hemsberger war im Krieg Oberleutnant gewesen, sie wunderte sich seit langem, daß er nicht nach dem Westen abhaute. »Bißchen viel auf einmal.« Was sollte sie sonst sagen.

»Kommt alles von den Russen.« Seine Kollegin tat ihm fast leid. Astreine Arbeiterfamilie, die Hübsche nicht in der SED, das hielt er für eine Frage der Zeit. Ein wenig hinterhältige Agitation, die Verlockung, auf der Rangleiter eine Sprosse nach oben zu steigen, und sie unterschrieb. Marschierte auf Lehrgang, zog an ihm vorbei. »Viel Feind, viel Ehr.« Was brachte das, es gab keinen Grund, sie zu ärgern, und er sollte sich nicht dauernd aus dem Fenster lehnen. Der Ratschlag in Westberlin neulich war bedenkenswert gewesen, in die Nationaldemokratische Partei einzutreten, den Reuigen zu mimen, der am Aufbau teilhaben wollte: Nie wieder faschistischer Raubkrieg! Also zurück zur Praxis: Die Zementwaggons waren vielleicht wie letztens in Dessau hängengeblieben. Ende. Er habe ein paar Tage frei und denke nicht daran, irgendwelchen Frust mitzuschleppen. »Ich fahr hoch zu meinem Bruder. Haben Sie mal Nutriafleisch gegessen? Hochfein!«

»Viel Spaß, Kollege.«

»Danke.« Hemsberger schaute noch zwei Minuten aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Hofes wurde ein Haufen immer niedriger: Jeder der Helden vom Gleisbau nahm nach der Schicht vier oder sechs Briketts mit, ehe sie hier zu Grus zerfielen. Dieser Spruch war neu und großartig: Wer nicht stiehlt, bestiehlt seine Familie.

Hemsberger ließ sich eine Dienstfahrkarte bis Oranienburg ausstellen, über Berlin hinaus also. Vor der Elbbrücke bei Wittenberg zockelte der Zug so langsam, daß es möglich war, auf dem Kasernengelände der Sowjets die Zahl der abgestellten Pontons, Lastautos aus amerikanischer und eigener Produktion, Jeeps und Schützenpanzer zu schätzen. Mehr Schrottplatz als militärisches Objekt. Aber den Krieg hatten die Russen schließlich gewonnen.

Hinter Wittenberg wurde er von Transportpolizisten kontrolliert, er zeigte Personal- und Reichsbahnausweis vor. Er habe drei Tage frei und besuche seinen Bruder; mal sehen, ob er bißchen was zu essen ergattern könne. Er erhielt seine Papiere wortlos zurück. Eine junge Frau gab an, sie wolle zu ihrem Verlobten. Wo der wohne, wie er heiße, wo er arbeite, und ob sie das irgendwie nachweisen könne. Sie wurde patzig: Natürlich nicht! Hemsberger beherrschte sich, bis die Debatte vorbei war – still sein, ganz still. Wichtig war, sich einzuprägen: Etwa dreißig Pontons, zwanzig Lkw, sechs Jeeps und an die zehn Schützenpanzer. Brückenbauteile massenhaft.

An den Krieg und die Gefangenschaft dachte er jeden Tag. Vor zehn Jahren hatte er auf der Krim gelegen, alle Flugfelder waren erfreulich fester als in den Schlammzonen des Mittelabschnitts. Sie flogen über die Halbinsel Kertsch und den Kubanbrückenkopf und griffen Nachschubeinrichtungen an, die kurz zuvor noch in eigener Hand gewesen waren und nun nach wütenden Zerstörungen beim Rückzug vom Iwan ausgebaut wurden; erstaunlich, was der an Material nachzog. Die He 111 war genau die richtige Maschine über mittlere Entfernungen gegen Punktziele. Perfekt aufeinander eingespielte Besatzungen, die Verluste minimal. Ehe der Gegner seine Jäger herangeführt hatte, waren sie schon wieder fort. Das sollte sich wenig später über Kursk dramatisch ändern. Jeden dritten Tag ein Einsatz, mehr Bomben waren nicht da. Großartige Verpflegung für jemanden, der Hammelfleisch mochte. Krimwein, Nachrichtenmäuschen, Frühlingssonne. Stalingrad ein ins Vergessen abgedrängtes Gespenst.

Solche Besuche waren einfacher gewesen, als der Zug noch durch den amerikanischen Sektor zum Anhalter Bahnhof gerollt war. Jetzt bog er auf dem neu gebauten Ring um den Südostzipfel der Stadt zum Ostbahnhof. Von dort brauchte Hemsberger eine halbe Stunde mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Im Bahnhof Friedrichstraße war eine erneute Kontrolle zu befürchten; diesmal blieb sie aus. Bei einem Straßenhändler vor der Gedächtniskirche tauschte er zwanzig Ostmark zu einem erträglichen Kurs gegen Westmünzen, von einer Telefonzelle aus rief er die Nummer an, die er sich beim letzten Treff eingeprägt hatte. Nach dem fünfzehnten Rufzeichen wurde abgenommen, niemand meldete sich, er sagte vereinbarungsgemäß »Fünfzehn Mal, Donnerwetter« und hörte: »Soso, Sie sind ja zäh.« Erst jetzt nannte er seinen Decknamen: Harry Postberg, und fügte hinzu, von wo er anrief. Wieviel Zeit er habe, so, gut. Genau in einer Stunde an der Ecke Kudamm/Fasanenstraße. »Ich geh an Ihnen vorbei, Sie folgen mir.« Sofort wurde aufgelegt.

Schnell in eine Seitenstraße. An einem Zeitungsstand las er Schlagzeilen: »Ost-CDU gegen Junge Gemeinde. Generalsekretär Goetting unterstützt Drangsalierung junger Christen.« Darunter: »In einer Studentenversammlung der Ostberliner Humboldt-Universität trat der Vorsitzende der CDU-Fakultätsgruppe der Mediziner als gefährlichster Scharfmacher hervor. Er forderte die Exmatrikulation aller Studenten, die sich weiterhin zur Jungen Gemeinde bekennen. Auch die LDP beteiligt sich am Kesseltreiben. So verlangt die ›Verdiente Lehrerin des Volkes‹ Gertrud Sasse die radikale Säuberung der Oberschulen von allen reaktionären Elementen. Mitglieder der Jungen Gemeinde hätten Stalin-Gedächtnis-Feiern gestört.«

Das Licht auf den weißen Fassaden stach ihm in die Augen. Er wechselte in den Schatten und überlegte, wie er sich herauswinden könnte, wenn er beobachtet würde. Denn Spitzel der Stasi, hieß es, fotografierten vor Wechselstuben, Bahnhöfen und Grenzkinos. Er würde noch am Abend bei seinem Bruder sein, doch wenn es hart auf hart kommen sollte, dürfte es schwerfallen, die drei Stunden im Amisektor zu erklären. Jedenfalls: Immer abstreiten, kommen lassen!

Westberlin, West-ber-lin klang für Hemsberger wie Sekt, wie ein achtzehnjähriges Mädchen mit samtener Haut und straffen Pobacken, erträumt vom dreckigen Bitterfeld aus und nun Wirklichkeit. Ein Text: »Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm, ich hab so Heimweh nach meinem Berlin.« Es war keinesfalls sein Berlin, es gehörte Belger und dem Boxer Bubi Scholz und den Amis. Sie verlassen den demokratischen Sektor! Vorsicht Menschenfalle! TAGESSPIEGEL und »Wir Insulaner verliern die Ruhe nicht«. Wenn er vor zwei Jahren dieser Verlockung widerstanden hätte! Er konnte in keinem Flüchtlingslager unterschlüpfen, ohne daß sie ihn wütend befragten: Unsere Abmachung, unser Kästchen, weißt du nicht, was das Ding kostet, dreitausend Dollar, die zahlst du, und was passiert, wenn es der Russe auf deinem Dachboden findet? Was andere konnten, war ihm versperrt: Ausfliegen nach der Pfalz, nach Köln, ein wirklich neues Leben anfangen. Abends Sinalco auf dem Balkon. Oder in Westberlin bleiben als Insulaner, der die Ruhe nicht verlor. Der nun anderen befahl: An jedem ersten Dienstag im Monat melden Sie sich pünktlich um 23 Uhr 15. Die berühmte Zahl fünfzehn. Mehr geschieht nicht bis zum Ernstfall, den erfahren Sie durch das Blinken des Lämpchens ebenfalls um 23 Uhr 15. Jeden Abend nachschauen. Aber Sie merken ja selber, wenn’s kracht.

Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit fühlte er zum Kurfürstendamm vor. Der Mann, den er Belger nennen sollte, bog um die Ecke, war untersetzt mit halber Glatze und trug eine hüftlange graue Jacke, eine die Knöchel freilassende Hose und Sandalen, auf denen er federte. Er schlenderte die Fasanenstraße entlang über zwei Querstraßen hinweg, ohne zur Seite zu schauen und in immer gleichem mäßigen Tempo. Hemsberger folgte ihm und heftete seinen Blick an den ausrasierten Nacken mit einer Narbe, als habe ihn dort ein Granatsplitter erwischt. An einer Kreuzung blieb der Mann stehen, wendete sich nach rechts, strich am ersten Lokal vorbei, las vor dem zweiten die Speisekarte, blickte wie zufällig in Hemsbergers Richtung und trat ein.

Sich Zeit lassen. Am ersten Lokal die Speisekarte mustern. Hemsberger empfand den Gastraum als wohltuend kühl, er brauchte zehn Sekunden, ehe er sich ans Halbdunkel gewöhnt hatte. In den Nischen hing Reklame aus der Vorkriegszeit neben Fotos von Sport- und Gesangvereinen, Pokale und Urkunden. Auch aufgefächerte Skatkarten unter Glas, nachweisend die berühmten Grand ouverts. Aus den Wänden dünstete der Teer von Millionen Zigaretten und Zigarren, gequarzt seit der Jahrhundertwende, seitdem war hier nicht vorgerichtet worden. Der Wirt nickte wortlos. Im zweiten Raum zündete sich sein Kontaktmann gerade eine Zigarette an. Er hielt Hemsberger die Schachtel hin und schaute fragend hoch. Hemsberger nahm eine Zigarette und sagte: »Guten Tag fünfzehn Mal.«

 

Der Wirt trat heran, Potschinski bestellte zwei Cola. Als sie wieder allein waren, sagte Hemsberger: »Womit anfangen. Allgemeine Nervosität. Steckt mich nicht an. Oder nicht sehr.«

»Quatschen Sie sich ruhig aus.«

»Möchte ich noch nicht mal. Sondern bloß was fragen. Ich wüßte gerne – mal anders rum, wir haben nie über meinen Schlußpunkt geredet. Das ist wie in alle Ewigkeit. Ich möchte aber unser Geschäft beenden und abhauen. Mir stinkt’s.«

In der einen Hand hielt der Geheimdienstler die Zigarette, mit der anderen hob er einen Bierdeckel an und ließ ihn fallen, wieder und wieder. Sein Gesicht war faltiger, als Hemsberger es in Erinnerung hatte, unter dem offenen Hemd kräuselte sich graues Haar. Solche Typen kannte er von der Pferderennbahn und aus Wettbüros, Zocker, ehemalige Jockeys. Der Kerl hatte einmal erwähnt, er habe beim Zirkus gearbeitet und sei als Fallschirmjäger auf Kreta dabei gewesen. Sudabucht, die Flak-Hölle. Als Hemsberger nachhakte, Fallschirmjäger damals seien zwanzig gewesen und nicht vierzig, war die Antwort prompt und unwiderlegbar gekommen: Einsatz als Lastenseglerpilot, später Ausbilder in Gardelegen – in der Luftwaffe kannte er sich aus. »Zwei Jahre sind für meine Nerven eine unendliche Zeit. Es sind sogar fast zweieinhalb.«

»Monatlich vier Sekunden Arbeit.« Das klang verärgert. »Dafür fünfhundert Westpiepen auf die hohe Kante. So leicht möchte ich’s auch mal haben, Herr Postberg.«

»Das ist nicht der Punkt.«

»Was dann?«

»Das Risiko.«

»Nun hörn Sie mal gut zu, Postberg. Das alles haben Sie von Anfang an gewußt. Und solange Sie nicht wirklich zu arbeiten beginnen, ist das Risiko nicht größer als das, in dem Colaglas hier zu ersaufen.« Ein Mann ging vorbei zur Toilette, Potschinski verstummte.

Kein Berliner, vermutete Hemsberger, vielleicht aus dem Ruhrgebiet, Dortmund, Duisburg. Einer seiner Bordfunker stammte von dort. »Ich will ja nicht sofort aufhörn.«

»Da würden allerhand Leute sehr, aber schon sehr böse werden. Ohne Ersatzmann geht sowieso nichts. Und den besorgen nicht Sie. Wie sieht’s sonst aus?«

»Sie lesen ja Zeitung. In Halle haben sie einen Taxifahrer zu achtzehn Monaten verurteilt, weil er einem Fahrgast erzählt hat, Ulbricht würde wie einer reden, dem sie die Eier abgeschnitten haben.«

»Unsere Hauptsache?«

»Keine auffälligen Bewegungen um die Kasernen. Keine stärkeren Transporte durch den Bahnhof. Nichts, was ich wirklich melden sollte. Wollen Sie wissen, was alles bei Wittenberg rumsteht?«

»Das melden andere.« Der Mann kam von der Toilette zurück; als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, fuhr Potschinski fort, er würde natürlich Herrn Postbergs beschissenen Wunsch weitermelden, wundere sich allerdings erheblich. Wundere sich geradezu irre. So was von irre! Ein wasserdichter Job, vom Sofa aus zu erledigen, er hätte Herrn Postberg mutiger eingeschätzt. Plötzlich lächelte er und zeigte eine breite Zahnlücke im Oberkiefer. »Sie sind damals zu uns gekommen und nicht wir zu Ihnen. Ich hab Ihnen das Wunderkästchen gebracht. Und wir haben unseren schönen Vertrag.«

»Mündlich.«

»Von Ehrenmann zu Ehrenmann. Noch ’ne Cola? Wir wollen hier keine Wurzeln schlagen. Bißchen Handgeld kann ich Ihnen geben, hundert, der große Batzen bleibt in der Sparbüchse. Ihre Lebensversicherung. Na, besser fünfzig.« Er hätte sowieso nicht das letzte Wort und könnte nichts versprechen. Unter einem halben Jahr ginge mit dem Ausstieg nichts, absolut keine Chance. Wenn sie den geschätzten, lieben Herrn Postberg abschalten wollten, käme ein Spruch. Oder besser ein Kurier. »Jemand wird sagen: ›Ich wollte Sie schon fünfzehn Mal besuchen.‹ Und Sie antworten: ›Sie sind ja zäh wie fünfzehn alte Hirsche.‹«

Hemsberger wollte seinen Führungsmann keinesfalls reizen, nicht er saß am längeren Hebel. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich mir diesen Schritt nicht hundertmal überlegt hätte. Aber in Bitterfeld spielen sie verrückt, als ob ihnen das Wasser bis zum Hals stünde. Steht es ja wahrscheinlich auch. Einmal sollen wir nach der Anzahl von Stückgütern bezahlt werden, dann nach Tonnenkilometern im Kollektiv. Immer neue Einfälle, um unser Gehalt zu drücken. Mit Normen geht es bei der Eisenbahn schlecht, soll aber auf Biegen und Brechen. Diese ewigen Selbstverpflichtungen – ich dreh noch durch.«

»Sie drehen überhaupt nicht durch. Sie schlucken alles wie bisher. Vielleicht machen Sie mal ’nen hübschen Verbesserungsvorschlag. Am Schwarzen Brett: Zu Ehren des großen Stalin …« Die Schultern wippten wie in mühsam unterdrückter Heiterkeit. »Was erzählen Sie Ihrem Bruder?«

»Ich bettle ihn um was zu fressen an wie jedes Mal.«

Der Wirt schaltete das Radio ein: »Lieber Gott, laß die Sonne wieder scheinen.« Die kleine Cornelia nebst Sängerknaben. Potschinski fragte, ob Herr Postberg vielleicht doch etwas essen wolle oder was Besseres trinken als Cola. Viel Zeit bleibe allerdings nicht mehr. Hier stünde doch allerhand Leckeres auf der Speisekarte, nicht solcher Mampf wie in Bitterfeld. Zum Beispiel Dorschleber, na?

In Hemsberger stieg Wut hoch. »Ihr wißt gar nicht, was ihr für Schwein habt. Genießt das Leben und dirigiert vom Schreibtisch aus.«

»Eines Tages«, es klang gelangweilt, »fliegen Sie nach Kanada oder Texas und kaufen sich von Ihrem Batzen Geld ’ne Farm oder ’ne Tankstelle. Unter geändertem Namen, wenn Sie das wünschen. Und das nicht eines fernen Tages, sondern nächstes Jahr. Das alte Grabenschwein Belger hat vorher das Schatzkästlein bei Ihnen abgeholt und zu Ihrem Nachfolger gebracht, der die Hosen nicht so voll hat wie Sie. Dabei oder beim nächsten Mal schnappen sie mich. Oder die Stasi organisiert einen hübschen perfiden Menschenraub, Gift im Kaffee und in der Zigarette, während ich eine bescheuerte Nachricht von der Verlegung einer Garde-Kompanie der siegreichen Fußlappenarmee von Thüringen in die kalte Heimat entgegennehme. Oder ’ne scharfe Biene lockt mich in die Federn, und ihr Lude haut mir ’nen Sandsack übern Kopp. Sie rollen mich in ’nen Teppich – alles schon da gewesen. Drüben wache ich im U-Boot auf. Drei mal fünfundzwanzig und ab nach Workuta.«

Im Radio: »Bella bella Donna.« Peter Alexander.

»Ach was«, höhnte Hemsberger, »Sie bleiben munter und fidel und gucken sich im Olympiastadion Hertha gegen TeBe an oder Bully Buhlan im Sportpalast.«

»Wissen Sie was, ich geb Ihnen die fünfzig Piepen doch nicht. Sie werden an der Grenze gefilzt, und was sagen Sie dann?«

Du mieses kleines Schwein; Hemsberger ließ grelle Wut zu. Ihr seid alle Lumpen, Zwischenhändler, Absahner, Abzocker. Ihr verkauft unsere Nachrichten an Amis oder Franzosen oder den alten Fuchs Gehlen in Pullach gleichzeitig, und daß du wirklich von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit bist, hat mir bisher keiner schwarz auf weiß bewiesen.

»Sie haben eine Rechnung mit dem Iwan offen, haben Sie mir erzählt. Glaub ich Ihnen. Vielleicht müssen wir Sie bald aktivieren, dann können Sie Ihre Rache in Butter gebraten genießen. Ich zahle jetzt vorn an der Theke für Sie mit und schwirre ab. In Ihrer Sache sehe ich, was ich machen kann.«

»Schmutzler und Kollmannsberger sind die besten Stürmer, die Tennis-Borussia jemals hatte, meinen Sie nicht auch?«

»Spielen Sie nicht den Blödmann, Hemsberger.«

2

Hartmut Brücken rollte die Jacke zusammen und schob sie sich unter den Nacken. Mit einem Mutterschlüssel klopfte er das Rohr ab und horchte – es schien zentimeterdick verstopft zu sein mit Ruß und Rost. »Müssen wir abmontiern.«

»Kriegen wir nie wieder ran.«

»Wenn wir das Knie wegschmeißen.« Das mußte er entscheiden, dazu war er Meister. Vor einem Vierteljahr hätte er seinen Senf dazugegeben und stur auf Anweisung gewartet. Schöne Zeit als Arbeiter. Lennert grinste sich eins.

»Raus und in den Schrott. Hartmut, die Reparatur bezahlt mir keiner.«

Mit Lennert durfte er es nicht verderben. In einer Viertelstunde mußte er von dieser Murkserei umschalten auf das Lästigste, die Normen. »Ich schreib dir zwei Stunden, du knallst das Ding weg und brauchst nicht zur Besprechung anzutanzen.«

»Hervorragend, mein Alter.«

Lennert war zwei Jahre jünger als Brücken. In der Sitzung dann riß er womöglich das Maul auf. Das war nicht mehr wie bei der Infanterie: Wer moserte, schleppte als Schütze III Munition, bis ihm das Wasser im Arsch kochte. Einen wie Lennert mußte er mit Handschuhen anfassen. Also fort und Unterlagen aus dem Büro geholt.

Der Instrukteur begrüßte ihn freundlichst. Vor zwei Wochen habe er mit Schwiegervater Mannschatz an einem Tisch gesessen, ja, an dem Abend, an dem der Genosse Stalin gestorben war. Brücken beschloß: Keine Silbe von krustigem Schweinebraten und Sonderbier. Sie trafen sich in einer zugigen Hallenecke voll Gerümpel und verdreckten Bänken. Zwei Drittel der Brigade hockten da, die anderen waren unabkömmlich wie Lennert. Sie lümmelten herum, die Rücken gegeneinander gelehnt, den Blick zu den blinden Fenstern mit Spinnwebgardinen oder dem uralten Gerüst einer Transmission, Zigaretten drehend oder die Augen geschlossen. In das Gemurmel hinein begann der Instrukteur aufgesetzt forsch, beim Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR habe eine neue, entscheidende Phase begonnen. Der Klassenfeind wehre sich verzweifelt; wieder seien zwei Ingenieure republikflüchtig geworden. Noch werde untersucht, ob sie Pläne mitgenommen hätten, um sie drüben gegen Westmark zu verscheuern, als Eintrittsgeld in den Kapitalismus sozusagen. »Kollegen, mit eurem Meister habe ich schon über die Regulierung überholter Normen gesprochen. Wenn du uns mal den Stand erklären willst, Kollege Brücken?«

Das stimmte halb und halb: Neulich waren ihm ein paar Agitationsblätter in die Hand gedrückt worden. Aufpassen! »Ich verstehe das Ganze so, daß wir begründete und nicht generell erhöhte Normen anstreben.«

»Manche Normen sind jahrelang stehengeblieben, vor allem aufm Bau. Da liegen ungeheure Reserven, Kollegen!«

Schupp, der beste Schweißer, auf einer U-Boot-Werft an der Atlantikküste in Form geblieben, lag breitbeinig auf einem Bretterstapel. »Aber die Marmelade wird teurer.«

Man möge nicht kleinlich argumentieren, so der Instrukteur. Zuwenig Saatgut für Zuckerrüben, Untersuchungen seien im Gange. Im Hintergrund murmelte Meier: »Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein.« Brücken blickte Meier mit hochgezogenen Brauen an. Sein Einwand: »Wir haben eine Rohrbrücke zu neunzig Prozent fertig und kommen nicht weiter, weil wir keine Elektroden kriegen. Also auch keine Prämie.«

»In einem halben Jahr sieht alles anders aus. Deshalb müssen die Normen …«

Brücken ließ nicht locker: »Wir sind nicht gegen begründete neue Normen. Aber bei einer Reparaturbrigade ist jeder Auftrag anders. Meist wissen wir nicht, was wir zunächst an Schrott wegräumen müssen. So war’s immer.«

Jetzt wollte der Instrukteur sichtlich Oberwasser gewinnen, seine Stimme nahm einen ironischen Klang an. »Das war schon immer so – was ist das, Kollegen? Blanker Sozialdemokratismus, ’tschuldige. Wir gestalten aber einen revolutionären Umbruch. Viele Brigaden haben sich zur freiwilligen Erhöhung der Normen um zehn oder sogar fünfzehn Prozent bereit erklärt. Zum Beispiel in Hettstedt. Was meinst du, Kollege Brücken?«

»In ’nem anständigen Brigadevertrag muß drinstehen, daß die Bereitstellung von Material vorausgesetzt ist. Und da sehe ich schwarz.«

Aus dem Hintergrund: »Schwarz wie ’n Neger um Mitternacht.«

»Albert nicht rum. Wir kriegen seit einer Woche kein Gramm Lötzinn.«

»Aber jede Menge Blödsinn.«

»Du sollst den Quatsch lassen, Harry! Also gut. Ich gehe mit ein paar Kollegen noch einmal alle Positionen durch.«

Der Instrukteur setzte wieder an, ein Erfahrungsaustausch mit ähnlich gelagerten Brigaden in Halle könne zu einer Klärung führen, aber Meier und Schupp fragten Brücken, was er unternommen hätte, damit im Waschraum nicht nur aus einer Brause warmes Wasser fließe und das gerade bei Schichtende nur tropfenweise. Also endlich Feierabend, es war schon zehn Minuten über die Zeit. Aber da begann Schupp noch einmal über die Normen zu reden, pomadig klang das am Anfang, und alle dachten: Was soll der Quark noch? Schupp konnte sich allerhand leisten, und es klang nahezu freundschaftlich, als er dem Instrukteur riet: »Du, paß mal auf und erzähl das oben weiter, möglichst weit oben: Ich hab gehört, in Hettstedt hätten die Kumpels ’nen kleinen Sitzstreik eingefädelt, bloß ’ne Stunde auf beiden Backen, vielleicht war’s noch nich mal ’n Streik, sie verstanden was nich und haben gefragt, und die Zeit verging, und der Instrukteur begann zu schwitzen, und am Ende gab er zu: Neenee, alles ’n Mißverständnis, und die Normen blieben, und langsam kamen die Kumpel wieder in die Gänge. Verstehst du?«

 

Der Instrukteur hielt es wohl für das beste zu lachen, Schupp lachte nicht, und Brücken fand, das eben sei eine hübsche kleine handfeste Drohung nach Arbeiterart gewesen fürs nächste Mal.

Brücken fuhr nicht gleich nach Hause, sondern in die Nähe des Marktes, dort war ihm ein Kinderfahrrad versprochen worden, na, versprochen war ein zu klares Wort. Eine Verkäuferin hatte Lieferungen erwähnt, die Mitte des Monats kommen müßten, kommen sollten, wenigstens Rahmen für Kinderräder wären dabei, ein Vorderrad kriegte er von Gärtners, Gepäckträger und Sattel besaß er schon, bis zum Geburtstag von Thomas blieben sechs Wochen. Die Verkäuferin sprach mit einer Kundin, schüttelte zu ihm hin den Kopf. Da hätte er gleich abschwirren können, wartete aber, entsann sich, daß der Instrukteur von Sozialdemokratismus getönt hatte, das geschah immer öfter auch dann, wenn jemand ganz sachlich einige Fakten zueinander in Beziehung setzte, logisch blieb, nicht auf die Pauke haute. Das ging Alfred auf den Geist, er selber hätte fragen sollen: Was ist das genau, Sozialdemokratismus, bin ich vielleicht ein Sozialdemokratist – seltsam, dieses Wort bildete keiner –, wenn ich meinem Jungen zum Geburtstag ein Fahrrad schenken will und mir die Hacken ablaufe, statt frohgemut zu erklären: Erst der Weltfriede und neue Hochöfen an der Oder im Geiste des großen weisen Stalin? Kinderfahrräder irgendwann, erst Karabiner für kasernierte Polizisten.

Nein, sagte die Verkäuferin, nichts sei geliefert worden außer elektrischen Tischnähmaschinen aus der Tschechoslowakei, leider seeehr teuer, fast sechshundert Mark, und sie habe gehört, die seien nicht besonders stabil. Brücken überlegte kaum ernstlich, wer eine Nähmaschine gebrauchen könnte, Clara und die Oma nicht. Danke, er komme wieder, irgendwann werde es schon klappen.

Sein Schwiegervater stand am Zaun. Am liebsten würde er alle Farbreste abkratzen und mit Karbolineum streichen, aber woher nehmen? Brücken wiegte den Kopf – die Kaninchen-Ställe hätten Farbe nötiger. Ein Instrukteur wollte sie belabern, der habe beim großen Fressen in Halle mit Alfred am Tisch gesessen, hübsche Grübchen. Ach der, entsann sich Mannschatz, der habe rechtzeitig Brot und Wurst verstaut und beim Fleisch und den Kartoffeln reingehauen, einer mit Übersicht. Und? Natürlich die Normen, natürlich das übliche Hickhack.

Beim Waschen merkte Brücken, wie müde er war. Wenn er sich jetzt hinlegte, schlief er zwei Stunden und war für den Rest des Tages nicht mehr zu gebrauchen. Er hatte gerade seinen Trainingsanzug angezogen, als Clara mit Thomas und dem Bienchen eintrat. Bienchen wollte sofort hochgenommen werden und drückte ihre Wange an seine und schnurrte, sie sei ein guter Wolf, ein ganz kleiner Wolf, und er brauche keine Angst vor ihr zu haben. Da riß Brücken die Augen auf, waaas, ein Wolf, und eben noch habe er gedacht, sein liebes Bienchen sei in die Küche gekommen, nun sei er baff, baff, baffbaffbaff. Da strampelte Bienchen sich los, der Spaß war vorbei, jetzt wollte sie Milchmilchmilch. Gut, mein Mädchen, gut.

Noch ein Tag und noch einer mit Südwestwind und sanftem Regen, der die Luft wusch und den Pflanzen gut tat, mit Grummeln in der Brigade, mit Trommeln in der Zeitung und im Rundfunk, daß überall die Normen freudig erhöht würden, auf den Werften, der Stalinallee und in den Kohlegruben. Böhlen ganz vorne! Präsident Wilhelm Pieck zur Kur auf der Krim. Hier ginge unterdessen alles drunter und drüber, redeten sie während der Mittagspause. Zum dritten Mal hintereinander Nudeln. Brücken sah seine Schwiegermutter hinter einem Schalter, sie türmte Pfannen hohlscheppernd übereinander.

Er hatte massenhaft Überstunden gut, zwei strich er ab und radelte eher als sonst nach Hause. Alfred Mannschatz hockte mürrisch unter dem Vordach des Schuppens und versuchte, verklumpten Maschendraht zu entzerren. Wahrscheinlich warf er nach einer Viertelstunde das Dreckzeug weg. Na? Wieso na? Erst ’ne Sonderschicht durchgedrückt, dann kein Material, aber die Ausfallzeit wurde bezahlt. Alle feixten. Knausern überall, und plötzlich schmissen sie ihnen das Geld hinterher.

»Tag Papi!« Thomas hatte sich angeschlichen.

»Wie war’s in der Schule?«

»Wie immer.«

»Es ist nie wie immer. Und bei dir, Bienchen?«

»Mir ham gemalt.«

Clara kam um die Ecke, Beutel an beiden Händen. Manchmal die strahlende werdende Mutter, dann abgeschlafft. Brücken nahm ihr die Last ab, Clara ließ sich auf einen Stuhl fallen, Thomas streifte den Ranzen von der Schulter. »Papi, wann krieg ich ein Pferd?«

Clara erstaunt: »Wie denn das?«

»Papi sagt, in Meckburg krieg ich ein Pferd.«

»Ich hab gesagt, daß du dort vielleicht reiten kannst. Wenn du größer bist. Und besser im Rechnen.«

Clara dämpfte die Stimme. »Erst einmal heißt das Mecklenburg. Wahrscheinlich kommen wir da nie hin. Dort ist nämlich alles ziemlich mies. Hartmut, setz du dem Jungen keine Flausen in den Kopf.«

Abdampfen lassen, Reizbarkeit gehörte zur Schwangerschaft.

»Mutti, ich brauch was zum Zuschrauben. Aus ’nem Einmachglas krabbeln die Kartoffelkäfer immer raus.«

»Kann ich denn nicht mal fünf Minuten …«

Abends hörten sie im Radio, der nächste Tag sei der »Tag der Pflugfurche«. Im Bett kam Clara auf das Gekabbel am Nachmittag zurück. »Hartmut, ich find es nicht schön, wenn du Thomas gegen mich ausspielst. Machst ihn verrückt mit Pferd und Reiten.«

»Aber das geht doch nicht gegen dich.«

»Ich will immer weniger fort. ›Tag der Pflugfurche‹ – da oben herrscht noch wildere Hektik als bei uns. Und mit der Partei …«

»Ich gehe unter keinen Umständen rein!«

»Großes Pionier-Ehrenwort? Dann darfst du auch zu mir rüber.«

Unter ihre Decke und tasten und streicheln. Wenn Clara lag, fühlte sich ihr Bauch kaum anders an als sonst, jedenfalls hinderte er nicht, das würde noch kommen. Er kniff, Clara prustete: Er teste wohl ihre Speckpölsterchen? An den Hüften bildeten sie sich als Nahrungsreserven fürs Kerlchen. Er widersprach: Keine Spur von! Ob in ihr wohl jetzt der Verdacht keimte, er könnte sie bald nicht mehr reizvoll finden, könnte fremdgehen, wie sie geargwöhnt hatte, als das Bienchen unterwegs gewesen war – den Verdacht war sie wohl immer noch nicht los, damals hätte sich etwas zwischen ihm und Gitta Gärtner abgespielt. Auch das war ein Argument dafür, nicht allein nach Mecklenburg zu gehen. Clara würde ihn verdächtigen: Sie mit dickem Bauch in Bitterfeld und er in einem Tanzschuppen in der Taiga mit Melkerinnen und Fischweibern. Clara war keine, die derlei in sich hineinfraß. Wegen Gitta hatte sie geradezu getobt – nee, mit Gitta nie wieder das Geringste. Diese verdammte Geilheit. War immer Mist, im Freundeskreis zu wildern, dann lieber Mecklenburg, ach du elende Zwickmühle, er war doch kein Rumtreiber, verzichtete auf fast jede Gelegenheit, neulich in der Bahn, als er von Halle gekommen war – jeder andere hätte zugegriffen.