Buch lesen: «Einmal Heimat und zurück»
Erich Koch
Einmal Heimat
und zurück
Roman
Gewidmet meinem Großvater,
meinen Eltern, meinen Schwiegereltern,
meiner Frau und natürlich den Engeln.
Ich danke meinem Freund Ernst Schlaich
für seine Unterstützung und unendliche Geduld.
Erich Koch, Jahrgang 1948, ist Buch- und Theaterautor. Der gebürtige Huttenheimer leitet das Linzgautheater in Pfullendorf. Seine über 100 erfolgreichen Komödien stehen auf zahlreichen Spielplänen großer und kleiner Bühnen im In- und Ausland. www.erich-koch-online.de
Lindemanns Bibliothek, Band 263
herausgegeben von Thomas Lindemann
Titelgestaltung: Cotolemi,
unter Verwendung von iStock by Getty Images
Die Aufführungsrechte für den Sketch auf S. 67 ff und
Seite 170 ff besitzt der Reinehr-Verlag, Mühltal
© 2016 · Info Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck ohne Genehmigung
des Verlages nicht gestattet.
ISBN 978-3-88190-912-9
www.infoverlag.de
1
Es war der erste gemeinsame Urlaub von Klara und Erich seit mehreren Jahren. Erich konnte sich an den letzten Urlaub nicht mehr so genau erinnern. Was ihm nicht wichtig war, vergaß er schnell. Es gab wenig, was sich für ihn lohnte, im Gedächtnis behalten zu werden.
Nicht, dass es ihnen an Gelegenheiten oder an Versuchen gefehlt hätte, aber Klara hasste es, Koffer zu packen. Koffer packen bedeutete für sie immer die Aufgabe von Vertrautheit und Wohlfühlen, ein Verlust von Sicherheit und Geborgenheit. Koffer packen war auch immer Abschied und Ungewissheit. Noch mehr fürchtete sie sich jedoch davor, die Koffer wieder auspacken zu müssen. Schon beim Einpacken stellte sie sich die Bündel schmutziger Wäsche vor, die sie nach der Rückkehr wieder werde waschen und bügeln müssen.
Drei Tage vor Beginn der Reise begann sie, die Kleidungsstücke, die sie mitnehmen wollte, aus dem Kleiderschrank herauszunehmen. Mit Erich darüber zu reden hatte keinen Zweck. Er zog grundsätzlich das an, was sie ihm bereit legte. Erich verstand auch nicht, warum ein Kleidungsstück, das noch sauber und nicht abgetragen war, plötzlich im Altkleidersack verenden sollte. Die einzige Mode, der er sich zu unterwerfen bereit war, war der Verschleiß. Manch altes, lieb gewonnenes Stück konnte er im letzten Moment heimlich vor dem Abtransport retten.
Erich hatte nichts dagegen, dass der liebe Gott nach dem Mann auch noch die Frau erschaffen hatte. Aber manchmal fragte er seinen Schöpfer resigniert, warum er sich dazu den selben Planeten ausgesucht hatte.
Je näher der Urlaubstermin rückte, desto weniger sprachen sie über die Reise und desto schlechter wurde Klaras Laune. Erich, dessen Leben eigentlich auf Harmonie ausgelegt war, wurde zum Ziel von Klaras unerklärlichem Wechselbad aus Vorfreude und Angst. Sie wusste, dass es ungerecht war, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.
Das Klima zwischen ihnen wurde immer frostiger, und kurz vor der Abfahrt gerieten sie regelmäßig so in Streit, dass sie beschlossen, zu Hause zu bleiben. Wie von einer riesigen Last befreit fielen sie sich in die Arme und versprachen sich, ganz gewiss nächstes Jahr über Winter in ein von der Sonne verwöhntes Land zu fliegen. Klara hasste den Winter.
Wahrscheinlich war Klaras Angst vor dem Fliegen die eigentliche Ursache ihres Verhaltens. Ein einziges Mal hatte sie sich bisher überwunden, und sie waren zusammen über die Jahreswende zu Freunden nach Barcelona geflogen. Sie hatten eine Art Waffenstillstand geschlossen und alles so vorbereitet, dass, sollten sie nicht zurückkehren, die Erbschaftsangelegenheiten geregelt waren. Erich kam in dieser Zeit spät von der Arbeit nach Hause, und sie gingen früh zu Bett. Obwohl Klaras Gedanken nur noch um abstürzende Flugzeuge kreisten, vermieden sie jedes Gespräch darüber. Erich hatte Klara zu verstehen gegeben, dass ihm ein Trainingsanzug reichen würde, sollte der Platzbedarf für ihre Garderobe zwei Koffer auslasten.
Alles schien dieses Mal gut zu gehen. Erich aß die letzten drei Tage vor der Abreise in der Kantine, und abends gab er sich mit einem Wurstbrot und einer Flasche Bier zufrieden. Klara hasste es, abends eine kalte Mahlzeit einnehmen zu müssen. Ihr empfindlicher Magen war dafür nicht eingerichtet. Deshalb aßen sie normalerweise ihre warme Mittagsmahlzeit abends und Erich nahm für mittags etwas Obst mit zur Arbeit, das er nach dem Mittagessen in der Kantine der Bundeswehr als Nachtisch aß. Aber drei Tage vor der Abreise war Klara nicht in der Lage, etwas Genießbares zu kochen.
Für Erichs Vorliebe, abends ein ordentliches Vesper, wie er es nannte, einzunehmen, hatte sie noch nie Verständnis aufbringen können. Am meisten störte sie daran, dass das Brot dunkel sein musste und Erich die Schnitte daumendick machte. Erich konnte stundenlang vespern und dabei Klara zusehen, wie sie bei jedem Bissen mehr zu leiden begann.
Sie fand immer etwas, obwohl sie es selbst zubereitet hatte, und sie kochte ausgezeichnet, was es wert war, liegen gelassen zu werden. Beim Vesper war es der Anschnitt der Leberwurst, der Darm der Schwarzwurst, die luftgetrocknete Haut der Salami, der Rand des Käses oder das erste Stück Brot des angeschnittenen Laibes.
Erich aß alles. Vor allem konnte er es nicht leiden, wenn Klara Brot wegwarf. Wenn er es bemerkte, holte er es wieder aus dem Mülleimer heraus. Nicht essbares Brot gab es für ihn nicht.
Als Kind hatte er oft seinem Vater zugesehen, wie dieser vor dem Anschnitt eines frischen Laibes mit dem Messer andächtig ein Kreuz auf das Brot gezeichnet hatte. Kein Essen, bei dem nicht Brot gereicht wurde. Erichs Großvater war Landwirt, und das Ende des Zweiten Weltkriegs lag noch nicht allzu weit zurück. Seine Eltern wussten noch, wie hart man für ein Stück Brot arbeiten musste.
Erich liebte Brot. Für ein gutes Stück Brot ließ er jedes Brötchen liegen. Brot war für ihn der Inbegriff einer nicht ganz klar zu definierenden inneren Sicherheit. Brot zu haben, bedeutete Zufriedenheit, Zufriedenheit gab Zuversicht, Zuversicht versprach Glück, und wer Glück hatte, wurde geliebt. Erich war ein harmoniebedürftiger Mensch.
Er aß bei den warmen Mahlzeiten immer alles auf. Klara ließ immer etwas auf dem Teller zurück. Entweder war es ein Stückchen Fleisch, eine Kartoffel oder eine Gabel voll Gemüse, dem ihr leicht entflammbarer Magen nicht mehr gewillt war, Einlass zu gewähren. Am Beginn ihrer Ehe hatte sich Erich noch darüber aufgeregt. Später räumte er klaglos das Geschirr in die Küche und aß dort heimlich die Reste von Klaras Teller auf. Erich hatte immer Gewichtsprobleme.
Dagegen halfen auch keine Diäten. Nach der Kartoffeldiät mit Jojo-Effekt hatte Erich ein Kilo Mehrgewicht, nach der Eierdiät waren es zwei Kilo, die Nudeldiät lagerte vier Kilo auf den Hüften ab, und nach der Traubendiät entfernte er die Batterien aus der Waage. Sein Gewicht ging keinen etwas an. Seither hielt er konstant seine Kleidergröße. Nur einmal ließ er in seine gute Anzugshose einen Zwickel einsetzen.
Er wusste nicht mehr genau, waren es Cäsar oder Angela Merkel gewesen, die gesagt hatten: „Lasst dicke Männer um mich sein.“ Die Römer verstanden zu leben. Gut, das römische Reich war untergegangen. Die Raubzüge waren zuletzt nicht mehr so erfolgreich gewesen. Aber einen Fehler hatten die Römer nie gemacht. Sie hatten die Raubzüge nie gegen das eigene Volk geführt. Die Römer schienen der deutschen Regierung egal zu sein.
Deren Diäten hatten auch einen Jojo-Effekt. Sie wurden immer dicker. „Wer Wasser predigt, kann selbst trotzdem Wein trinken“, pflegte schon Erichs Opa zu sagen.
2
In der Nacht vor ihrem Abflug nach Barcelona fegte ein orkanartiger Sturm über Deutschland hinweg. Erich fürchtete schon, Klara würde unter diesen Umständen keinesfalls ihren ersten Flug wagen. Entweder war es die Angst vor dem Auspacken der Koffer oder sie hatte sich in eine Art Endzeitstimmung geflüchtet. Obwohl sie wegen der umgestürzten Bäume einen Umweg zum Flughafen fahren mussten, flogen sie.
Es wurde ein furchtbarer Flug. Aufgrund Erichs gewohnter Überpünktlichkeit waren sie zu früh am Flugplatz, waren sie zu früh in der Abflughalle, das Flugzeug startete unpünktlich, und es war Rauchverbot. Erich war aktiver Nichtraucher. Nicht, dass er als Jugendlicher nicht auch mal geraucht hätte. Rauchen war eigentlich nicht das richtige Wort, um das Elend, das ihm widerfuhr, zu beschreiben.
Erich und sein Freund Karl hatten sich als Zwölfjährige mit heimlich gekauften Zigaretten – einer Viererpackung „Bali“ – in einem Maisfeld versteckt und begannen zu paffen. Da ihnen die Stauden bis über den Kopf reichten, glaubten sie sich vor einer Entdeckung sicher. Was sie als junge Indianer auf dem Kriegspfad nicht bedacht hatten, war, dass der Rauch auch für den Sheriff sichtbar über das Kraut zum Himmel zog und seine vernebelte Botschaft verbreitete.
Da sich das Feld direkt neben Karls Elternhaus befand, hatte der Sheriff in Gestalt von Karls Großvater sehr schnell die Spur der Rothäute aufgenommen. Weil er Erich für den Anstifter hielt, beeilte er sich, dessen Eltern eine unverschlüsselte Botschaft zukommen zu lassen. Diese verzichteten jedoch auf eine Standpauke, als sie Erichs Zustand sahen. Sie setzten auf Selbstheilungskräfte. Erich beschloss, nie mehr eine Zigarette anzurühren.
Deshalb konnte er sich auch nur schwer damit abfinden, dass Klara ihr Leben nach Zigarettenlängen einteilte. Sie rauchte zwar, seit sie sich kannten, aber früher hatte ihn das nicht so gestört. Junge Liebe macht immun gegen passiven Zigarettenrauch.
Je länger sie zusammenlebten, desto bewusster wurde ihm aber, dass ihre Uhr statt zweier Zeiger zwei Zigaretten hatte. Obwohl die Zigarettenhersteller damals noch nicht auf die Abhängigkeit der Verbraucher angewiesen waren, machten sie auch damals schon der Jungend weis, mit Rauchen lösten sich ihre Probleme in Rauch auf. Zurück blieb ein Körper, der nur noch mit der richtigen Mischung von Nikotin und anderen Drogen funktionierte. Für Klara war jede Zigarette ein Genuss. Deshalb kam sie auch nie wirklich auf den Gedanken, aufhören zu wollen.
Der Genuss begann morgens nach dem Frühstück. Mit dem in der Tasse zurückgelassenen Rest von Kaffee eine erste Zigarette zu rauchen, versöhnte mit der schrecklichen Tatsache, die Nacht wieder viel zu früh mit dem Tag getauscht zu haben.
In aller Ruhe eine zweite Zigarette zu rauchen, war ein notwendiges Ritual, um sofort oder nie eine Darmentleerung zu ermöglichen. Bei der zweiten Zigarette durfte Klara auf keinen Fall gestört werden. Erich hatte ein Mal versucht, die für ihn sinnlos verbrachte Zeit zur gemeinsamen Erstellung des Einkaufszettels zu nutzen. Das Gespräch endete im Streit, und Klara konnte drei Tage nicht auf die Toilette. An diesen Tagen gab es keine warme Mahlzeit. Erich war froh, dass sie eine andere Wohnung gefunden hatten, die schon eine Gästetoilette hatte.
Erich lebte in dem Glauben, Zeit sei etwas Absolutes. Sechzig Sekunden ergaben eine Minute, der große Zeiger wanderte in einer Stunde eine Ziffer weiter, und der Tag hatte auch bei der Gewerkschaft vierundzwanzig Stunden. Innerhalb dieses Zeitfensters musste jeder Mensch seine Tätigkeiten koordinieren.
Nicht so Klara. Ihre Uhr bestand aus zwanzig Zigaretten. Wenn Klara aufstand, fror sie, egal welche Uhrzeit und welche Jahreszeit angezeigt waren. Das Bett schien ihr beim Aufstehen sämtliche Körperwärmen zu entziehen, um sie für immer an sich zu fesseln.
Außerdem hatte sie grundsätzlich Hunger, sobald sie die Augen aufschlug. Zum Leidwesen von Erich konnte sie dann an nichts anderes denken. Erich konnte Tage verbringen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Trotzdem nahm er zu. Klara benötigte fünf kleine Mahlzeiten über den Tag verteilt, damit ihr nicht schlecht wurde. Erich konnte fünf kleine Mahlzeiten auf ein Mal essen, ohne dass ihm schlecht wurde.
Nur der heiße, inhalierte Rauch einer Zigarette löste die verklebten Blutplättchen und brachte die Körperwärme zurück. Die erste halbe Stunde des Tages dauerte zwei Zigaretten lang.
Der Rest des Tages war klar eingeteilt. „Wenn ich die Zigarette geraucht habe, gehen wir einkaufen. Wenn wir eingekauft haben, brauche ich erst eine Zigarette. Ich werde doch nach dem Essen noch in Ruhe eine Zigarette rauchen können! Wenn ich nach dem Kaffee noch eine Zigarette rauche, geht die Welt doch nicht unter! Ja, das Abendessen ist gleich fertig. Ich rauche nur noch die Zigarette zu Ende. Endlich kann ich mal in Ruhe vor dem Fernseher eine Zigarette genießen. Wenn ich die Zigarette geraucht habe, gehen wir ins Bett. Jetzt hetze mich doch nicht so! Ich kann auch nichts dafür, dass der Rauch immer in deine Richtung zieht. Jetzt gönne mir doch wenigstens das eine kleine Laster. Habe ich schon ein Mal was gesagt, wenn du deine Sportschau anschaust, obwohl im ZDF ein Rosamunde-Pilcher-Film läuft? Ich sitze ganz ruhig neben dir und sage nichts, obwohl mich mal interessieren würde, was der Beckenbauer unter Freistoß versteht. Ich rauche klaglos meine letzte Zigarette.“
Klaras Tag hatte zwanzig Zigaretten. Wenn Erich mit ihr mal abends ausging, konnte er auch auf vierundzwanzig kommen. Dann war die Welt wieder in Ordnung. Die mitteleuropäische Zeit stimmte mit der Anzahl der Zigaretten überein.
Zigaretten entfremden Menschen. Die Werbung will uns weismachen, mit Rauchen könne man Freunde finden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Raucher tappen in die Falle der Abhängigkeit, und die Nichtraucher fühlen sich wie in einer benebelten Mausefalle. Nur, dass der Speck eine Kippe ist.
Während der Nichtraucher dem Raucher grimmig zusieht, wie dieser aus der Zigarette eine geheime Kraft zu saugen scheint, wird ihm klar, dass sein sauer verdientes Geld in diesem Augenblick sinnlos verpufft und er nie Zutritt zu dieser fantastischen Welt erhalten wird. Manche Männer versuchen es daher mit einer Pfeife. Die Mausefalle hat zugeschnappt.
Erich hatte es schließlich aufgegeben, gegen Klaras Zigarettenkonsum anzukämpfen. Warum sollte ausgerechnet er diesen Kampf gewinnen? Weder sein Hinweis auf ihren morgendlichen Versuch, die Lungen frei zu husten, noch seine Drohung, seine Rente notfalls alleine zu verprassen, konnten Klara beeindrucken. Sie wusste, dass er eine Pension bekommen würde.
Für Klara war Tabak ein legales Genussmittel, das mit leichter Handhabung auch in der Öffentlichkeit konsumiert werden konnte und auf das sie nicht verzichten wollte, oder, wie Erich dann immer einwarf, auch nicht mehr konnte.
Ein einziges Mal vor vielen Jahren hatte Klara versucht, das Rauchen aufzugeben. Zumindest hatte sie in ihrer Familie diesen Glauben geweckt. Erich war es gelungen, seine Kinder ein Mal auf seine Seite zu bringen und sich mit ihm zu einem Protest gegen die tiefen Rauchschwaden im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät zu vereinen. Gemeinsam die Sesamstraße anschauen, macht solidarisch stark.
Zunächst fand Erich eine offensichtlich eilig ausgedrückte und dann vergessene Kippe irgendwo in der Wohnung, dann fielen ihm abgebrannte Streichhölzer in die Hände, als er in einer Zeitschrift blätterte.
Er wagte es aber nicht, Klara darauf anzusprechen. Sie hätte die Enttarnung als Anlass nehmen können, wieder zu rauchen. Vielleicht schaffte sie es doch! Als sie jedoch heimlich und schnell zum Zigarettenautomaten gegenüber ihrer Wohnung laufen wollte und dabei vom Auto einer Nichtraucherin angefahren wurde, ging ihre vorgetäuschte Abstinenz endgültig in Rauch auf.
Zum Glück hatte das Auto nur ein paar Schrammen abbekommen und auch Klara konnte am nächsten Tag mit einer kleinen Naht über dem Auge das Krankenhaus wieder verlassen. Ab diesem Zeitpunkt war ein Rauchverzicht verbal kein Thema mehr.
Erich dachte sich seinen Teil, und Klara sah ihm an, was er dachte. Wenn es die Witterung zuließ, ging sie zum Rauchen auf den Balkon. Klara fror schnell. Deshalb hasste sie den Winter, und nur darum war sie bereit gewesen, nach Spanien oder in den Tod zu fliegen.
Dass sie aber vor ihrem Tod also nicht noch eine Zigarette rauchen durfte, drückte deutlich auf ihre Stimmung. Sie wurde auch nicht davon besser, dass es ein Nachtflug war und man nicht so genau sah, wie hoch das Flugzeug flog und wie lange der Boden unter dem Flugzeug aus Wasser bestand.
Klara fürchtete sich vor Wasser. Schon die Vorstellung von tiefem, grundlosem Wasser machte ihr Todesangst. Sie fühlte sich Wasser hilflos ausgeliefert. Sie hatte nie schwimmen gelernt, weil ihr Wasser immer schmutzig vorkam. Es konnte noch so klar sein, man war sich der genauen Tiefe nie sicher. Und Klara fürchtete sich grundlos.
Eingesperrt zu sein in einer fliegenden Zigarrenkiste über dem Meer war für sie der Supergau! Durch konzentriertes Atmen und Verweigerung der angebotenen Bordspeisung versuchte sie, der aufkommenden Panik Herr zu werden. Als das Flugzeug in ein schweres Gewitter geriet und die Passagiere zum Anlegen der Sicherheitsgurte aufgefordert wurden, war sie bereit zum Sterben. Wenn es schon sein musste, dann wenigsten schnell. Sie hatte es geahnt. Sie hatte es immer gewusst.
3
Als kleines Kind wurde Klara von ihrer Mutter für Kleinigkeiten in einen fensterlosen, dunklen, feuchten Kellerraum gesperrt. Sie litt Todesängste. Wahrscheinlich rührte von daher auch ihre Spinnenphobie, ihre Angst vor geschlossenen Räumen und die Furcht vor der Nacht.
Wenn sich Erich nicht sofort auf die Spinne stürzte und sie tötete, konnte sich Klara nicht mehr kontrollieren. Dann halfen auch keine Zigaretten mehr. Sie begann sich aufzulösen.
Hanna, ihre Mutter, hatte keine Zeit, um sich um die Ängste eines kleinen Mädchens zu kümmern, das sie hinderte, ins Geschäft zu gehen. Hausarbeit war Hanna ein Gräuel und das Mädchen mit den großen, schwarzen Augen machte sie hilflos und wütend zugleich. Deshalb gab sie Klara so bald wie möglich zu lieben Verwandten oder zu Luise, was zu dieser Zeit im Dorf noch völlig unüblich war, und arbeitete mit Freude den ganzen Tag über als Pflückerin in einer Champignonzucht. Sie war eine einfache, friedvolle, gutgläubige Frau, die sich gegen ihr Leben nicht wehren konnte.
Sobald Klara etwas größer war, lud sie ihr die ganze Hausarbeit auf. Klara liebte sie nicht dafür. Dafür aber liebte sie Luise. Luise hatte zwar nicht mehr alle Sinne beieinander und wurde sonst von niemandem geliebt, aber Luise liebte Klara wie ihr eigenes Kind.
Klaras Vater war eigentlich für das Leben auf diesem Planeten nicht geschaffen. Warum ihre Eltern geheiratet hatten, erfuhr sie nie. Dass sie sich liebten oder geliebt hatten, konnte sie sich nicht vorstellen. Gespräche zwischen ihren Eltern gab es so gut wie nie.
Otto war als Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg beim Kampf um Kreta dabei gewesen und kam äußerlich beinahe unverletzt in sein Dorf zurück. Seine innere Verletzung heilte nie.
Er wollte keinen Krieg mehr führen. Deshalb ergab er sich in das Schicksal einer Ehe des geringsten Widerstands. Dass acht Jahre nach Klaras Geburt noch eine zweite Tochter geboren wurde, betrachtete niemand als Glück. Klara schon gar nicht.
Denn Inge wurde sie bis zu ihrer Heirat nicht mehr los. Sie liebte sie dafür nicht. Manchmal hatte sie auch Mitleid mit ihr. Inges fehlende Schönheit hatte der liebe Gott auch nicht durch Intelligenz wettgemacht. Inge war in jeder Hinsicht ein Störfaktor. Sie störte, auch wenn sie nicht da war.
Otto und Hanna verständigten sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Er aß ohne zu murren, was sie kochte, wobei sie nicht besonders gut kochte. Hanna war keine Hausfrau. Einzig ihr Käsekuchen und ihr Weihnachtsgebäck erreichten im Dorf einen herausragenden Ruf. Sie buk es in Unmengen und beglückte die ganze Verwandtschaft damit.
Es war ihre Art, sich Zuneigung zu erkaufen und zu beweisen, dass sie eine gute Mutter war. Sie selbst aß nicht ein Stück von dem Weihnachtsgebäck. Selbst als Otto schon tot war und Klara das Haus verlassen hatte, führte sie diese Tradition fort. Es gab immer noch ein paar Verwandten, die dankbar dafür waren. Ihr Bruder Wilhelm kam besonders über Weihnachten gerne vorbei und spülte das Gebäck mit einer Flasche Wein hinunter. Ansonsten hatte man sich nichts zu sagen.
Otto arbeitete als Fahrer für eine Möbelfirma am Ort. Sein kurzer Versuch, sich als Vertreter für Bäckereibedarf selbstständig zu machen, war an seiner Unfähigkeit gescheitert, mit der Welt und mit ihren Menschen zurecht zu kommen.
Die Möbelfirma war klein, und Otto war der einzige Fahrer des einzigen Lastwagens der Firma. Sein Beifahrer war ebenso schweigsam wie er, und so verstanden sie sich. Die Fahrten waren kurz und Otto somit abends meist zu Hause. Musste er mal in einem Gasthaus übernachten, aß er grundsätzlich und ausschließlich ein Paar Bratwürste mit Brot und trank ein Bier aus der Flasche dazu. Sein Beifahrer kannte die Gründe dafür. Otto wollte sicher gehen, dass der Koch nichts ins Essen mischen konnte. Aus irgendeinem Grund fürchtete er immer, durch fremdes Essen umgebracht zu werden. Deshalb vermied er es auch lange, in seinem Dorf in einer Gastwirtschaft zu essen. Das Essen dort war zu heiß, zu scharf, zu unübersichtlich und zu teuer.
Wenn ihm in der Firma etwas nicht passte, ging er grußlos nach Hause und legte sich beleidigt ins Bett. In der Firma stand ein Generationswechsel an, und der Juniorchef spielte sich auf. Otto hatte in letzter Zeit oft Grund, sich beleidigt ins Bett zu legen. Das war seine Art, mit Konflikten umzugehen. Er wollte keinen Krieg mehr führen. Der Seniorchef war auch im Krieg gewesen. Da es keinen anderen Fahrer gab, und für den gleichen Lohn auch keiner zu bekommen war, kam der Seniorchef am nächsten Tag vorbei, entschuldigte sich für seinen Sohn und bat Otto, wieder ins Geschäft zu kommen.
Das Ritual wiederholte sich über die Jahre, ohne seine Wirkung zu verlieren. Jeder wusste wie es ausging, doch wollte keiner der Beteiligten darauf verzichten. Otto ging wieder ins Geschäft und fuhr den Möbelwagen, als ob nichts gewesen wäre. Der Juniorchef hatte offenbar das Unrecht eingesehen, das er ihm angetan hatte. Damit war die Angelegenheit für Otto erledigt.
Otto konnte man schnell Unrecht tun. Er lebte in seiner eigenen Welt, die für Außenstehende oft schwer verständlich war und wenig Spielraum zuließ. Seine Welt war geprägt von Angst und Unselbstständigkeit. Vor allem hatte er Angst vor Veränderungen, besonders was seine unmittelbare Umgebung betraf. Es war, wie wenn er sich in eine Streichholzschachtel zurückgezogen hätte und fürchtete, jemand könne sie aufmachen. Noch mehr Angst hatte er davor, sie könnte neu gestrichen werden.
Otto hatte auf einem ererbten Grundstück ein Haus gebaut. Das Haus hätte von einem Kind entworfen sein können. Es bestand aus mehreren „Streichholzschachteln“. Im Erdgeschoss gab es vier kleine rechteckige Zimmer. Sie waren alle gleich groß und ohne dem beabsichtigten Wohnzweck gerecht zu werden, gebaut worden.
Nach der Eingangstür kam rechts eine Stube, wie Hanna sie nannte, deren Zweck es vor allem war, alles aufzunehmen, was nicht gebraucht wurde und in welcher der Weihnachtsbaum aufgestellt wurde. Direkt daneben lag die Küche mit einem Holzofen, in welcher sich Otto meist aufhielt. Hier war außerhalb der Essenszeiten am wenigsten mit Hanna zu rechnen.
Links, nach der Treppe zum Obergeschoss, war lieblos ein Wohnzimmer eingerichtet worden, dessen wichtigstes Utensil eine Bettcouch war. Dahinter, und somit gegenüber der Küche, lag das elterliche Schlafzimmer. Zwischen Schlafzimmer und Küche hatte man quer zu deren Verlauf ein Bad und eine Toilette eingebaut. Der Badeofen wurde mit Holz beheizt und daher selten benutzt.
Otto hatte nur das Nötigste ausbauen und fertigstellen lassen. Im Obergeschoss nur einen einzigen Raum. Er war zunächst Klaras Schlafzimmer. Später musste sie das Zimmer mit Inge teilen. Klara war nicht begeistert davon.
Der Keller hatte nur einen gestampften Betonboden, die Kellerwände wurden nie verputzt und in den Trennwänden ließ er kurz vor der Decke einen Stein aus, um mit einer Fünfundzwanzig-Watt-Birne zwei Kellerräume gleichzeitig beleuchten zu können. Die Eingangstreppe blieb ein Provisorium und die Außenanlage bestand überwiegend aus festgetretenem Sand. Allerdings pflanzte Hanna ums Haus viele Blumen an. Jeder sollte sehen, dass sie eine gute Mutter war.
Hinter dem Haus hatte Otto auf dem zehn Ar großen Grundstück einen Schuppen errichten lassen, der beinahe so groß wie das Haupthaus war. Die darin untergebrachte Garage sollte nie ein Tor sehen, der gesamte Schuppen nie einen befestigten Boden oder einen Putz. Wenn Otto dort Strom benötigte, legte er von der Küche durch das Küchenfenster ein langes Kabel in den Schuppen, bei dessen Anblick jedem Elektriker die Haare zu Berge gestanden hätten. Der Stecker wies nach jedem Gebrauch leichte Brandspuren auf.
In dem Schuppen sammelte Otto alles, was sich aus seiner Sicht zu sammeln lohnte oder andere Leute nicht mehr brauchen konnten. Vielleicht konnte er irgendwann etwas damit anfangen. Er benötigte es nie. Weder fand er Verwendung für die vielen Autoersatzteile noch benötigte er die Hunderte von Dachschindeln, da auf seinem Haus und seinem Schuppen Falzziegeln verlegt worden waren.
Ottos ganzer Stolz war sein Auto, ein alter, grüner DKW, dessen Türen noch nach hinten aufgingen und dessen Schaltung gewöhnungsbedürftig war. In zwanzig Jahren brachte es der Motor auf ganze sechsunddreißigtausend Kilometer. In dem Schuppen hingen unzählige gebrauchte Schläuche und Mäntel für Fahrräder, lagen Dynamos, Ventile, Fahrradpumpen, Ersatzteile für Schubkarren und für sein Motorrad, das er für den DKW in Zahlung gegeben hatte.
Alte Batterien, selbst die, die defekt aus seinem Möbeltransporter ausgebaut worden waren, hortete er genau so sinnlos wie fünfzig Strohballen, von denen er nur zwei benötigte, um über Winter die Kellerfenster abzudichten. Alles, was in der Möbelfabrik nicht mehr gebraucht wurde, fand sich in Ottos Schuppen wieder.
Alte Lampen, Lumpen, ausgesondertes Werkzeug, Bretter, Latten, leere Dosen, Gläser und Schachteln. Darin sammelte Otto alte Schrauben, Muttern und Nägel. Sie füllten unzählige Gläser, Dosen und Schachteln. Otto las zwanghaft auf, was andere wegwarfen oder achtlos liegen ließen. Selbst seine leeren, braunen Lohntüten legte er nach Datum geordnet und gebündelt in einem alten Schreibtisch ab. Er warf sie auch nicht weg, als das Gehalt auf ein Konto bei der Sparkasse überwiesen wurde.
Er brachte es einfach nicht fertig, an einem Gegenstand vorbeizugehen, war er auch in den Augen anderer noch so wertlos. Sah er einen Nagel, und war er auch noch so rostig und krumm, ging er zögernd vorbei, kehrte dann doch um, hob ihn vom Boden auf, betrachtete ihn kritisch und steckte ihn in seine blaue Arbeitshose, welche er Tag und Nacht, werktags und sonntags trug.
Ohne den Nagel aber wieder verwendungsfähig zu machen, warf er ihn in die von der Nagelgröße her zuständige Schachtel. Ottos Welt war in Schachteln aufgeteilt.
Er hasste Veränderungen. Sie brachten nur Unordnung. Daher sah das Haus nach seiner Erstellung viele Jahre lang auch keinen Maler oder anderen Handwerker mehr. Ein Mal hatte es Hanna nach fünfzehn Jahren gewagt, den Maler zu bestellen. Da sie Ottos Meinung kannte, stellte sie ihn vor vollendete Tatsachen. Als Otto abends von der Arbeit nach Hause kam, war das Wohnzimmer ausgeräumt und der Maler hatte auch schon die alte Tapete entfernt. Otto war nicht nur beleidigt, er war tödlich getroffen. Er sagte nichts. Er legte sich ins Bett und stand erst wieder auf, als der Maler weg war und Hanna sich bei ihm entschuldigt hatte.
Von diesem Zeitpunkt an stand er nur noch auf, wenn Hanna ihm das Frühstück ans Bett brachte. Das Brot musste mit Butter und Marmelade bestrichen und nach Entfernung der Kruste in mundgerechte Stücke geschnitten sein.
Hanna schlief von da an meist auf der Couch im Wohnzimmer. Zur Arbeit in der Champignonzucht konnte man auch mit zerknitterten Kleidern kommen. Mit dem Reichen des Frühstücks konnte sie wenigsten Ottos Erscheinen im Bad steuern, wenn er sich auch in letzter Zeit nicht mehr täglich rasierte.
Otto lachte selten. Wenn er lachte, hatte seine Freude genau so etwas Kindliches wie die Ursache seiner Heiterkeit. Er lachte ohne Berechnung und ohne Falschheit. Sein Lachen war eine kurze Eruption, das nicht gesteuert war und das genau so schnell wieder verstummte, wie es ausgebrochen war. Manchmal hatte man den Eindruck, er schämte sich für sein Lachen. Ja, es schien so, dass er im Augenblick des Lachens unbewusst von Erinnerungen eingeholt wurde, die das Lachen gefrieren ließen.
Die Augenblicke, in denen Otto etwas zu lachen hatte, wurden immer weniger. Offensichtlich vermisste er sie auch nicht. Er erwartete nicht, vom Leben unterhalten zu werden. Ihm genügte es, dass es ihn erduldete. Genau so, wie er seine Frau und die Kinder erdulden musste.
Er konnte eigentlich mit ihnen nichts Richtiges anfangen. Er war gefangen in seinem Körper und fühlte sich doch nicht als Gefangener. Er war sich seiner Situation nicht bewusst. Er hatte nie das Bedürfnis, seine Frau oder seine Kinder in die Arme zu nehmen. Der Krieg hatte seine Gefühle zerstört. Seit dem Krieg konnte er auch nicht mehr weinen. Sein Lachen kam ihm fremd vor, aber er konnte es genau so wenig kontrollieren wie sein „Sich-beleidigt-Fühlen“. Hanna begriff dies jedoch nie. Sie lebte von Äußerlichkeiten. Sie konnte sich nicht in andere Menschen hineinversetzen.
Sie sah in Otto nur einen verbitterten Mann, der sich anscheinend nur noch um das eigene Überleben kümmerte. Daneben verkümmerte sie. Sie legte keinen Wert mehr auf ihre äußerliche Erscheinung und wurde immer dicker. Otto selbst hatte kein Gramm Fett am Körper. Sein Kampf gegen den unsichtbaren Feind verbrauchte all seine Energie.