Feldforschung

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Feldforschung
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Impressum

Copyright: © 2015 epubli

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-7375-7691-8

Vorwort

Was passiert, wenn ein Protagonist systematisch das Alltagsleben anderer durchdringt, sie beobachtet und dabei selbst Teil des großen Ganzen wird? An welche Orte, Kulturen oder Randgebiete verschlägt es ihn? Was erfährt er über das eigene Leben?

Zahlreiche Autoren haben sich in den vergangenen Monaten Gedanken zu diesen Fragen im Rahmen unseres Schreibwettbewerbs gemacht und die Ergebnisse sind ebenso unterschiedlich wie kreativ. Die 25 Geschichten der Gewinner des Schreibwettbewerbs konnten Sie in der Anthologie “Feldforschung” als eBook lesen.

Für das Projektteam, Tanja Steinlechner der Autorenschule Schreibhain in Berlin und Isabelle Knapp von epubli, war das Lesen der vielen Kurzgeschichten vor allem mit einem verbunden: Spaß! Es waren unheimlich spannende und schöne Stunden, in denen wir all die verschiedenen Geschichten lesen durften. Daher möchten wir uns bei allen Teilnehmern und bei Ihnen, lieber Leser, bedanken!

Die gesamten Erlöse der Anthologie möchten wir Valerian Arsène Verny, Literaturstiftung für Kinder und Jugendliche im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft spenden. Diese Stiftung unterstützt und fördert literarisch begabte Kinder und Jugendliche.

Natürlich möchten wir Ihnen die Gewinner nicht vorenthalten:

Der erste Preis ging an Christa Alahmed aus Berlin. Frau Alahmed hat bereits Anfang Oktober ihren Preis angenommen und absolviert zurzeit eine 18-monatige berufsbegleitende Autorenausbildung im Schreibhain. Ihre Geschichte “Marwa” über die Flucht aus einem Kriegsgebiet hat uns sehr berührt.

Den zweiten Platz teilen sich Kavitha Rasch und Julia Hagenkötter. Beide gewinnen ein einstündiges, intensives Schreibcoaching durch den Schreibhain. Frau Rasch überzeugte uns mit ihrer Geschichte “Schicksalhaftes Päckchen” und Frau Hagenkötter mit der Geschichte “Gruppenbild”.

Inhaltsverzeichnis

Marwa

Gruppenbild

Schicksalhaftes Päckchen

Grün oder braun?

Grabgeschichte

Ohne Titel

Das Warten auf Herrn Godert

Die Wurzel des Bösen

Feldforschung - Eine bedeutende Sache

Eine Tasse Kaffee

Round Dance Time

Die Überflieger

Treffen mit Leander

Das ABC-Heft

Qabel flüchtet

BEYOND WATER

Die Zeitachse

Im Maisfeld

Wer im Herbst sät, wird im Sommer nichts ernten

Schicksal

Falsch verbunden

Just in time

Das Weihnachtsgeschenk

Die Nebelschlange

Der grüne Mantel

Nachwort

Marwa

Christa Alahmed

Zwei große Koffer stehen an der Wohnungstür, neben dem Kinderwagen. Die Luft ist voll von Staub und Lärm, der durch die geborstenen Fenster ins Innere der Wohnung dringt.

Marwa sitzt im kleinen Flur zwischen Bad und Schlafzimmer auf der Erde. Ein Säugling liegt in ihrem Schoß. Die leise vor sich hin wimmernden größeren Kinder, drei und vier Jahre alt, schmiegen sich ängstlich an sie. Hört das denn nie auf, denkt sie bei jeder neuen Detonation. Es geht weiter, immer weiter. Neben der Angst steigt Panik in ihr auf, als sie an den berstenden Knall denkt, der das Haus erbeben und die Fenster splittern lassen hat. Die Schritte ins Kinderzimmer haben eine lähmende Ewigkeit gedauert. Durch die von der Druckwelle halboffenstehenden Tür, hat sie ihre Kinder schlaftrunken und verständnislos, aber Gott sei Dank unverletzt in ihren Betten sitzen sehen. Die scharfen Glassplitter hatten sie nicht erreicht. Das Rollo und die dichten Vorhänge haben die Katastrophe verhindert. Das war in den frühen Morgenstunden. Jetzt ist es mittags.

Endlich schweigen die Waffen!

Dima, die Tochter, ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Ihr jüngerer Bruder Omar, hat Hunger und Durst. Behutsam legt Marwa den Säugling neben sich auf eine Decke und erhebt sich langsam. Sie geht in die Küche. Omar folgt ihr. Es knirscht unter ihren Füßen, als ob sie über verschütteten Zucker laufen würden. Sie dreht den Wasserhahn auf. Es kommt klares Wasser, stellt sie mit Erleichterung fest. Sie muss es trotzdem abkochen und umfüllen, für später. Jetzt rüttelt sie an der großen Gasflasche und versucht sie anzuheben. „Es ist noch genug Gas drin“, murmelt sie aufatmend vor sich hin.

„Mama, ich habe Hunger!“, weint Omar. Sie wickelt süßes Halawa in ein Stück Fladenbrot und besänftigt ihn damit. Nun muss sie sich beeilen, denn sie weiß nicht wie lange die Feuerpause anhält.

Sie füllt den größten Topf mit Wasser und stellt ihn auf den Herd. Es folgen noch zwei kleinere Töpfe. Einer ist für Nudeln, die gehen am schnellsten. Den anderen braucht sie um das restliche Milchpulver anzurühren. Sie steht vor dem Herd und wartet, dass das Wasser zu kochen beginnt. Ihrer schlanken Figur sieht man nicht an, dass sie drei Kinder geboren hat. Große dunkle Augen, in denen sich ihr Leid und ihre Sorgen spiegeln, liegen in ihrem schmalen Gesicht. Marwas dichtes schwarzes Haar hängt ihr als schwerer Zopf auf dem Rücken.

Das Wasser für die Milch kocht. Mechanisch rührt sie das Pulver ein, verschließt den Topf und stellt ihn zur Seite. Jetzt sind die Nudeln an der Reihe. Während sie kochen sucht sie Ketchup, holt einen Teller und Löffel. Inzwischen kocht auch das Wasser im großen Topf. Sorgfältig verschließt sie die Gasflasche. Die fertigen Nudeln nimmt sie mit in den kleinen Flur und weckt ihre Tochter. Den Säugling an der Brust, füttert sie abwechselnd die beiden Großen. Als die Kinder satt sind, zwingt sie sich auch ein wenig zu essen. Sie hat Angst, dass sonst die Milch fürs Baby ganz versiegt. Marwa schiebt den Teller zur Seite und streckt sich neben den Kindern aus. Nur ein paar Minuten schlafen. Schon fallen ihr die Augen zu. Im Halbschlaf hört sie schwere Schritte auf der Treppe.

„Marwa!“, ertönt die Stimme ihres Mannes. „Wir müssen weg! Sie geben uns zwei Stunden um die Stadt zu verlassen. Komm, wir müssen uns beeilen!“, drängt er sie.

„Bring doch schon die Koffer runter. Ich fülle schnell Wasser und Milch in Flaschen ab!“, ruft sie schon auf dem Weg in die Küche.

„Wir können die Koffer nicht mitnehmen. Die sind zu schwer. Nur das Nötigste Marwa. Wir müssen zu Fuß gehen.“

Abrupt dreht sie sich um und geht gestikulierend auf ihn zu.

„Das ist doch das Nötigste! Das ist unser ganzes Leben auf zwei Koffer reduziert! Nur ein paar Sachen!“ Sie wird immer lauter. Hysterisch schreit sie: „Ich packe diese verdammten Koffer tagelang, damit auch ja das Wichtigste drin ist und jetzt soll ich sie stehenlassen!“

Tränen laufen über ihr Gesicht.

„Sag, dass das nicht wahr ist. Bitte!“, sie fleht ihn an. Die Kinder schauen ängstlich zu ihr empor. Ahmed, ihr Mann, umarmt sie tröstend. „Das Wichtigste sind die Kinder und du! Alle Papiere, die wir brauchen, ein paar Wertsachen und der Laptop sind in meinem Rucksack. Ich packe jetzt noch Brot, Milch und Wasser dazu.“ Er streicht ihr über den Rücken und küsst sie auf die Wange. „Schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren!“

Er läuft in die Küche und holt alles. Dann legt er Decken und das Baby in den Kinderwagen und trägt ihn nach unten. Marwa zieht den Kindern ihre Jacken an und schickt sie dem Vater hinterher. Schnell reißt sie die Koffer auf und stopft wahllos einige Sachen und Windeln in eine große Umhängetasche. Den Schlüssel in der Hand, steht sie einen Augenblick vor der Wohnungstür und zieht diese dann hinter sich zu. Verloren steigt sie die Stufen hinunter.

Ahmed ist mit den Kindern schon vorausgegangen. Marwa läuft schnell um sie einzuholen. Viele Menschen sind unterwegs. Eine befreundete Familie aus dem Nachbarhaus, versucht in die andere Richtung laufend, den nahen Stadtrand zu erreichen. Die Frauen blicken sich kurz an. Keine Zeit für Verabschiedungen. Nur ein: „Viel Glück, kommt heil raus!“ „Danke, bleibt gesund! Ruf mich an wenn ihr es geschafft habt!“ und schon hasten sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander.

 

Ahmed, guck mal, ist es dort nicht näher?“ Sie weist in die Richtung in der die Nachbarn laufen.

„Näher schon, aber dort gibt es kein Weiterkommen. Da sind doch nur Felder und dann das Zementwerk. Wir müssen zur Autobahn. Das ist weiter und den Berg hoch auch schwerer, aber nur dort haben wir eine Chance wirklich wegzukommen. Außerdem ist es mit dem Kinderwagen auf der Straße besser.“ Marwa nickt und geht weiter. Die Tasche drückt auf der Schulter. Jetzt gehen sie nebeneinander. Sie schiebt den Wagen. Ihr Mann schleppt den Rucksack und trägt Omar auf dem Arm. Dima, an seiner Hand, versucht tapfer Schritt zu halten. Am Straßenrand steht zurückgelassenes Gepäck. Sie müssen Schutt und Steinen ausweichen. Das Haus vor ihnen ist von einer Granate getroffen worden. Einige Männer suchen mit bloßen Händen in den Trümmern nach ihren Angehörigen. Marwa weiß, alle müssten helfen! Doch die Meisten senken den Blick und gehen vorbei. Wie sie! Sie hasst sich dafür.

Verstohlen blickt sie auf ihre Uhr. Nur noch 45 Minuten. Sie müssen es schaffen! Ein Krater mitten auf der Straße muss umgangen werden. Die Zerstörung ist groß. Keine Zeit sich umzusehen. Sie hetzen weiter. Vor ihnen läuft eine größere Familie. Sie kennen sich vom Sehen. Patienten von Ahmed, denkt Marwa. Die beiden Jugendlichen, die dazugehören, tragen abwechselnd ihre Großmutter auf dem Rücken.

„Jeder trägt das Wichtigste und das Liebste!“, sagt Marwa leise zu sich selbst. „Mama, ich kann nicht mehr! Meine Beine sind schon ganz kaputt.“, unterbricht Dima ihre Gedanken. Wie zur Bestätigung zeigt sie auf ihre staubigen Schuhe, die etwas abgestoßen sind. Sie stolpert nur noch vorwärts. Ahmed nimmt sie auf den Arm. Omar hat aber keine Lust zum Laufen. „Bei Papa auf dem Arm ist es schöner“, mault er ein bisschen herum.

„Komm Liebling, wir spielen Trippel- Trapp.“

Marwa versucht ihn zu ermuntern. Es klappt! Nach jedem „Trippel“ von ihr, folgt mit einem Hopser sein „Trapp“. Nun fängt er sogar mit dem Trippel an. Total erschöpft und mit wunden Füßen, erreichen sie endlich die Autobahn auf der Anhöhe. Sie verschnaufen kurz.

„Gut, dass du an Wasser und Milch gedacht hast. Ich hatte wirklich großen Durst.“, meint Ahmed, nachdem er die Wasserflasche abgesetzt hat.

Sie setzen sich wieder in Bewegung. Auf der Autobahn, jetzt in Richtung Hauptstadt, können sie besser laufen. Sehnsüchtig schauen sie den vorrüber fahrenden, vollbesetzten Fahrzeugen nach.

„Doktor Ahmed!“, ertönt eine laute Männerstimme hinter ihnen. Sie drehen sich zu dem Rufenden um. Ahmed geht ein paar Schritte in seine Richtung. „Wenn sie nach Damaskus wollen, kann ich sie mitnehmen. Es ist zwar verboten, doch sie haben mir so geholfen – damals.“

„Hab keine Angst Marwa, das ist ein Patient von mir.“, er zeigt auf den Soldaten, der am Kleintransporter steht. Sie zögern nicht lange.

„Das sind Lebensmittel, keine Munition!“, erklärt der Soldat auf ihren fragenden Blick hin. Ahmed reicht ihr die Decken und die Kinder. Er verstaut den Kinderwagen, den Rucksack und die Tasche. Dann klettert er hinterher. Es beginnt zu nieseln. Eng aneinandergeschmiegt schauen sie auf die verwüstete Stadt zurück, die sie gerade verlassen haben. An einigen Stellen steigt Rauch auf. Noch immer ziehen Flüchtlinge durch die Straßen. Weit entfernt glaubt Marwa ihr Viertel zu erkennen, in das schon wieder Raketen einschlagen.

Die Anspannung ist unerträglich! Sie entlädt sich mit einem langen Schrei aus ihrer Brust.

Marwa sitzt in ihrem Bett und schlägt die Augen auf. Die starken Arme ihres Mannes umfassen sie tröstend. Nacht für Nacht, seit 421 Tagen, durchlebt sie diesen Tag, der sich in ihre Seele eingebrannt hat, immer wieder. Wie in jener Nacht und jeder danach, springt sie auf und hastet panisch zu ihren schlafenden Kindern. Sie betrachtet sie lange. Eine große Freude durchströmt sie.

„Sie leben!“

Eine leise Zuversicht keimt in ihr auf, dass sie hier, im fernen, kalten Europa wieder ein bisschen Glück finden kann.

Gruppenbild

Julia Hagenkötter

Sie überprüfte jetzt abends vor dem Zubettgehen immer zwei Mal, ob ihre Wohnungstür tatsächlich verschlossen war.

Um den aufdringlichen Geruch von angebratenen Zwiebeln, Knoblauch und etwas, was sie nicht kannte, fernzuhalten, der mittags über das Treppenhaus in ihre Wohnung zog, hatte sie mit Türstoppern die Ritzen der Türen gestopft. Als dies nicht half, hatte sie ebenso vergeblich versucht, den deftigen Essensgeruch mit einem Raumspray zu übertünchen. Am schlimmsten war, dass man ihn nicht kommen sehen konnte, dass er ohne Vorankündigung plötzlich in der Nase war und dann war es auch schon zu spät, dann war er überall in der Wohnung.

Sie öffnete das Fenster und schloss es sogleich wieder, als sie spürte, wie sich von draußen aufgeheizte Luft in das angenehm kühle, dunkle Wohnzimmer drängen wollte. Als ihr nichts mehr einfiel, was sie sonst noch hätte tun können, ließ sie sich in den linken der beiden Ledersessel sinken. Sie besaßen zwei identische schwere Ledersessel, links stand ihrer, rechts seiner. Die Sessel hatten sie mit dem Rücken zum Fenster aufgestellt, damit sie beim Lesen oder Fernsehen nicht von der Sonne geblendet wurden. Was ohnehin kaum einmal vorkam, da ihr Wohnzimmer im Sommer einer Dunkelkammer glich. Die Rollläden vor dem Fenster waren dann auch tagsüber fast vollständig heruntergelassen, um die Hitze fernzuhalten, die jeden noch so kleinen Lichtschlitz fand und sich wie ein ungebetener Gast in die Wohnung einschlich, wenn man nicht aufpasste und sofort nach dem Lüften am Morgen alles verdunkelte. Ihr Mann neben ihr war eingenickt, sein Mund war leicht geöffnet, auf seinem Schoß lag ein zur Hälfte gelöstes Kreuzworträtsel.

Sie schlief schlecht in der letzten Zeit. Sobald sie abends die Augen schloss, schossen ihr im Sekundentakt Gedanken durch den Kopf, schnell wie Kugeln in einem Flipperautomaten. Ferngesteuerte Flipperarme schickten ihr unaufhörlich neue Stichworte, ohne dass sie wusste, wie sie dem Treiben Einhalt gebieten konnte. Sie war hellwach und ihre Sinne waren geschärft. Sie hörte jeden Schlüssel, der in einem Schlüsselloch umgedreht wurde, jeden Absatz, der auf dem Boden klackerte, und jede Tür, die ins Schloss fiel, im Treppenhaus und in der Wohnung über ihnen, dort ganz besonders.

Einmal war sie gerade dabei gewesen, am Spülbecken das Geschirr abzuwaschen, als plötzlich aus dem Nichts ihr Mann neben ihr stand, und sie hatte sich so erschrocken, dass sie sich mit der Küchenreibe in den Zeigefinger geschnitten hatte. Sie hatte ihn angeherrscht, was ihm einfiele, sich so anzuschleichen, und er hatte gesagt, er habe sich nicht angeschlichen, und er hatte gefragt, weshalb sie neuerdings immer so schnell aus der Haut fahre, und sie hatte gesagt, er komme doch sonst nie in die Küche, also habe sie ja wohl auch nicht mit ihm rechnen müssen, und dann hatte sie sich ein Pflaster gesucht und ihn in der Küche allein gelassen.

In diesem Augenblick setzte über ihr ein pferdehufartiges Gepolter ein. Es war ein dumpfes Getrampel, das kreisförmig an- und abschwoll. Sie vermutete, dass es der kleinere der beiden Jungs war. Sie hatte ihn auf fünf Jahre geschätzt, als sie ihm mit seinem älteren Bruder und seinen Eltern im Treppenhaus begegnet war. Sie hatte solche Begegnungen zunächst erfolgreich zu vermeiden gewusst, indem sie immer erst durch den Türspion sah, bevor sie die Tür öffnete, und lauschte, ob sie Geräusche von oben hörte. An diesem Tag aber war die Familie unerwartet zur Haustür im Erdgeschoss hereingekommen, als sie gerade hinausgehen wollten. Die Frau hatte als Erste etwas gesagt: „Hallo, ich heiße Jolanka!“ Dann hatte sie die Hand auf den Kopf des kleineren Jungen gelegt, der sie neugierig angesehen hatte, und gesagt: „Das ist Milan.“ Den älteren Jungen, der den Blick nicht vom Boden gehoben hatte, hatte sie als Alexander und ihren Mann als Stanko vorgestellt. Sie hatten die Geste erwidert und sich ebenfalls vorgestellt, mit dem Familiennamen natürlich, dann waren sie wieder in ihren Wohnungen verschwunden.

Der Lärm hatte ihren Mann geweckt. Er rieb sich die Schläfen und tastete auf dem Beistelltisch nach seiner Brille.

„Wir müssen ihnen sagen, dass es so nicht geht“, sagte sie.

Er klemmte sich seine Brille hinter die Ohren. „Vielleicht hört es ja gleich wieder auf“, sagte er und beugte sich wieder über sein Kreuzworträtsel.

Sie erwiderte nichts, sondern saß einfach da und konnte an nichts anderes denken als an das Poltern über ihnen, sogar den Essensgeruch hatte sie fast vergessen. Sie atmete mehrmals hörbar aus, und als ihr Mann sich noch immer nicht regte, erhob sie sich umständlich aus ihrem Sessel und trat dabei lauter auf, als es nötig gewesen wäre. „Dann gehe ich eben selbst“, sagte sie.

Die Wohnungstür war mit ihrer eigenen Tür identisch bis auf die Wolke aus hellblauer Pappe, die mittig unter dem Türspion klebte und auf der in wackeliger Kinderschrift „Ivanković“ geschrieben stand. An dem kräftig auf das Papier gedrückten Filzstift erkannte sie die Anstrengung, die es den Verfasser gekostet haben musste, jeden Strich und jede Rundung in der richtigen Form und an der richtigen Stelle zu platzieren.

Der kleine Junge öffnete. Hinter ihm erschien seine Mutter.

„Entschuldigen Sie, aber könnten Sie bitte etwas leiser sein? Es ist wirklich sehr laut für uns, wenn Ihr Sohn hier so herumrennt.“

Ihrem lächelnden Gesicht, das keinerlei Regung zeigte, entnahm sie, dass sie sie nicht verstanden hatte. Sie deutete mit dem Finger nach unten. „Laut“, sagte sie überdeutlich, hielt sich die Ohren zu, dann tippelte sie mit den Beinen auf den Boden und zeigte auf den kleinen Jungen.

Ihr Lächeln wich einem erschrockenen Gesichtsausdruck. „Entschuldigung, ich nicht gewusst“, sagte sie und beugte sich zu dem kleinen Jungen. „Opa und Oma schläft“, sagte sie und legte ihre Handflächen aneinander und ihre rechte Gesichtshälfte darauf. „Müssen wir leise sein.“ Sie legte ihren Zeigefinger an ihre Lippen. Dann fügte sie noch etwas auf Serbisch hinzu, was sie nicht verstand. „Bitte. Entschuldigung“, wiederholte die Mutter an sie gewandt.

Einige Tage später, es muss ein Dienstag gewesen sein, weil sie gerade von ihrem wöchentlichen Marktbesuch nach Hause gekommen waren, zog sie einen Brief aus ihrem Briefkasten neben der Haustür, als sich etwas gegen ihre Beine drückte und sie umklammerte. „Oma!“ Noch bevor sie sich umdrehen konnte, löste sich die Umklammerung wieder und sie sah, wie der kleine Junge sich an das Bein ihres Mannes warf und laut „Opa!“ rief. Ihr Mann lachte und das Lachen kam tief aus seinem Bauch. „Milan!“, rief ihr Mann und sie war kurz erstaunt darüber, dass er sich den Namen des kleinen Jungen gemerkt hatte. „Opa“ rief Milan wieder und Milan und ihr Mann machten sich einen Spaß daraus, einander zu rufen, so als ob es die einzigen Worte waren, die sie kannten und die sie brauchten.

Sie ging voraus in ihre Wohnung und begann damit, die Einkäufe im Vorratsschrank zu verstauen. Sie arrangierte Bananen und Äpfel in der Obstschale und ihr fielen die kahlen Apfelbäume wieder ein, die nur eine Querstraße entfernt auf öffentlichen Beeten am Straßenrand standen. Sie waren komplett abgeerntet worden, innerhalb weniger Tage nachdem die Familien in die umliegenden Häuserblocks eingezogen waren. Nur ein wenig Fallobst lag noch auf dem Boden und ein paar vereinzelte Äpfel hingen hoch oben in den Baumkronen, dort, wo sie ohne Leiter nicht herangekommen waren.

Die Äpfel waren noch nicht einmal reif gewesen, dachte sie. Wie groß muss der Hunger sein, fragte sie sich, wenn man unreife Äpfel pflückte, und nicht warten konnte, bis sie reif sein würden. Eine bleierne Schwere legte sich auf ihren Brustkorb und ein Gefühl der Scham überkam sie.

Im Radio kündigten sie den heißesten Tag des Jahres an. Es folgten die üblichen Hinweise. Besonders alte Menschen müssen jetzt viel trinken, sagte der Arzt, den die Moderatorin interviewte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man tatsächlich sein Durstempfinden verlieren konnte. Dass der eigene Körper einen verdursten lässt, ohne dass man es merkt. Sie tauschte ihre Sommerbetten gegen einfache Laken aus und stellte einen Ventilator im Wohnzimmer auf, der sich in einem Radius vor ihnen bewegte, der beide Sessel mit einschloss.

 

Im Fernsehen zeigten sie eine Hitliste der kühlsten Orte in der Stadt. Ein verkleideter Moderator gab sich als Lebensmittelkontrolleur aus und verschaffte sich dadurch einige Minuten Abkühlung in einer Tiefkühlkammer eines Fleischhändlers.

Sie lauschte, ob sie Geräusche von oben hörte, aber sie vernahm nur das Surren des Ventilators und die aufgesetzt wirkende Stimme des Moderators.

„Es ist doch viel zu eng und zu heiß für die Kinder in der Wohnung“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Mann. Ein Schweißfilm bildete sich auf ihrer Haut, als sie sich aus dem Sessel erhob und aus der Reichweite des Ventilators trat. In ihrem Kellerraum fand sie in einer Kiste das Planschbecken. Auf dem schmalen Rasenstreifen hinter dem Haus faltete sie es auseinander. Sie pumpte es mit einem Blasebalg auf und registrierte zufrieden, wie alle Falten und Knicke sich langsam glätteten, der schlauchförmige Rand sich zentimeterweise aufrichtete und das verblichene Motiv einer Insel mit Palmen zum Vorschein kam. Dann legte sie den Gartenschlauch in das Becken, drehte den Wasserhahn auf und ging mit zwei Badehosen unter dem Arm die Treppe hinauf.

„Möchten die Jungs vielleicht baden?“, fragte sie lächelnd.

Milan war als Erster im Wasser. Als er seinen Bruder nass spritzte, nahm dieser sich den Gartenschlauch und spritzte damit zurück. Milan quiekte. Sie und ihr Mann standen mit den Eltern in sicherer Entfernung im Schatten und sahen den Kindern zu. Dann drehte sich Jolanka plötzlich zu ihr und umarmte sie so fest, als würde sie all ihre Kraft in die Umarmung legen und gleichzeitig Halt bei ihr suchen.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal Besuch zum Mittagessen gehabt hatten. Sie zupfte an den Papierservietten herum, mit denen ihr Mann den Tisch gedeckt hatte und weil es nichts mehr gab, was sie tun konnte, war sie erleichtert, als es klingelte. Milan stürmte voran ins Esszimmer, seine Mutter hob entschuldigend die Arme. „Danke für Einladung“, sagte Milans Mutter lächelnd.

Sie wies den Gästen den Weg ins Esszimmer, wo Milan bereits am Tisch Platz genommen hatte. „Das Essen ist gleich fertig“ erklärte sie und sprach dabei betont langsam.

„Ich möchte bitte küssen“, sagte Milans Mutter.

Sie war gerade dabei, eine Blumenvase aus der Glasvitrine zu nehmen, und hielt abrupt inne. Ihr Mann, der mit einer Weinflasche hantierte, war ebenfalls irritiert. „Wie bitte?“, fragte er.

„Küssen. Bitte.“, wiederholte Jolanka.

Sekunden verstrichen, in denen niemand etwas sagte, sogar die Kinder waren still.

Auf dem Gesicht ihres Mannes erschien der Anflug eines Lächelns. „Hier?“, fragte er Jolanka und deutete auf seine Wange.

„Nein“, erklärte Jolanka. „Hier“, und sie zeigte auf ihr Gesäß.

Die Vase klirrte, als sie sie zu schnell und aus zu großer Höhe auf den Boden der Vitrine zurück stellte. Ihr Mann erstarrte. Jolanka lief durch die offene Schiebetür ins Wohnzimmer und nahm eines der Sofakissen. „Küssen. Für Popo“ erklärte sie und schob das Kissen Milan unter das Gesäß, der zuvor kaum über die Tischkante hatte schauen können.

Ihr Mann sah erst Jolanka und dann sie an und dann schüttelte sich sein ganzer Körper vor Lachen. Sie fiel sogleich in das Lachen ihres Mannes ein und es fühlte sich an wie der erste Atemzug nach einem langen Tauchgang, wie das Lösen eines Hosenknopfes nach einem üppigen Essen. Dann erklärte ihr Mann Jolanka und Stanko unter dem Einsatz von gespitztem Mund und Schmatzgeräuschen den Unterschied zwischen „Kissen“ und „Küssen“ und Jolanka verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, bis Stanko sie lachend an sich zog und ihr einen Kuss auf ihre Wange gab.

Als sie mit dem Dessert fertig waren und die Kinder schon längst nicht mehr hatten stillsitzen können, kam Milan mit einem alten Fotoapparat aus dem Wohnzimmer.

„Der Apparat ist leider kaputt. Das Objektiv klemmt“, sagte ihr Mann zu dem Jungen, der ihn nicht zu verstehen schien. „Keine Fotos“, sagte ihr Mann und schüttelte den Kopf.

Damit weckte er Stankos Interesse. „Ich kann sehen?“ fragte Stanko und ihr Mann gab ihm den Fotoapparat. Er drehte und wendete die Kamera und drückte einige Knöpfe. Dann zog er ein Taschenmesser hervor, löste geschickt ein paar Schrauben und nahm das Gehäuse ab. Er bog das Objektiv sanft ein wenig zur Seite und setzte dann alles wieder zusammen. Als er die Kamera einschaltete, fuhr das Objektiv mit einem leisen Summen vollständig aus. Milans Augen leuchteten. Sie fanden einen Film, den sie in den Apparat einlegten, und Milan lief mit der Kamera durch die Wohnung wie ein wildes Tier auf der Suche nach Beute. Dann dirigierte Milan die Erwachsenen und seinen Bruder für ein Gruppenbild auf das Sofa, blickte mit einem Auge durch den Sucher, während er das andere Auge zusammenkniff, und drückte sichtlich zufrieden auf den Auslöser.

Siebzehn Tage nachdem sie zusammen Mittag gegessen hatten, waren sie fort. Von einem Nachbarn erfuhren sie, dass man sie um fünf Uhr morgens abgeholt hatte. Mit acht Polizeibeamten waren sie gekommen. Alles, was von ihnen geblieben war, war eine Anschrift in Serbien, die sie vom Vermieter in Erfahrung bringen konnten. Der Straßenname klang wie der zärtliche Kosename einer uralten Großmutter.

Sie saßen in ihrem Wohnzimmer und hörten das Ticken der Uhr und das Surren des Kühlschranks. Es kam ihr vor, als würde er übertrieben oft mit der Zeitung rascheln, um die Stille zu überdecken. Als zwei Wochen vergangen waren, bauten sie das Planschbecken ab.

Anfang September kam ein Brief von der Drogerie, der sie höflich aber bestimmt dazu aufforderte, die entwickelten Fotos in der Filiale abzuholen. Gemeinsam sahen sie sich die Fotos an. Einige Fotos waren leicht verwackelt, aber die einzelnen Motive waren gut zu erkennen. Milan hatte ihre Schuhe im Flur fotografiert, die Parfumflakons im Bad und die Bücherrücken im Wohnzimmer.

Auf der überwiegenden Anzahl der Fotos hatte Milan durch ihre Fenster fotografiert. Der Blick auf die Straße. Der Blick zum Nachbarhaus. Der Blick in den Garten. Manchmal spiegelte sich dabei der Blitz in der Scheibe.

Dann kam das Gruppenbild. Es schloss oben mit dem Hals der Porträtierten ab. Keiner der Köpfe war auf dem Bild zu sehen. Sie mussten einige Zeit überlegen, wer wo gesessen hatte. Einem Außenstehenden wäre es unmöglich, sicher zu sagen, welche Hosenbeine auf dem Foto zum wem gehörten.

Während ihr Mann das Briefpapier holte, meinte sie, durch das geöffnete Fenster das Lachen eines Kindes zu hören.