Buch lesen: «Seine Exzellenz Eugene Rougon»
Seine Exzellenz Eugène Rougon
Emile Zola
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Inhaltsverzeichnis
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel I
Noch stand der Präsident, umgeben von der leichten Unruhe, die sein Kommen soeben hervorgerufen hatte. Dann setzte er sich, wobei er halblaut und wie unbeteiligt sagte: »Die Sitzung ist eröffnet.«
Und er ordnete die Gesetzentwürfe, die vor ihm auf dem Präsidiumstisch lagen.
Zu seiner Linken verlas, die Nase dicht am Papier, ein kurzsichtiger Schriftführer mit eiligem Gestammel, dem kein Abgeordneter zuhörte, das Protokoll der letzten Sitzung. In dem Getöse, das im Saal herrschte, drang diese Verlesung nur zu den Ohren der Huissiers1, die im Gegensatz zu der nachlässigen Haltung der Mitglieder des Abgeordnetenhauses sehr würdig, sehr korrekt wirkten.
Es waren keine hundert Abgeordnete anwesend. Die einen lehnten sich mit ausdruckslosen Augen, bereits schläfrig, halb auf den roten Samtbänken zurück. Andere, wie unter dieser ärgerlichen Fron einer öffentlichen Sitzung am Rand ihrer Pulte zusammengesunken, klopften leise mit den Fingerspitzen auf das Mahagoniholz. Durch die Glasscheiben des Oberlichts, das einen grauen Halbmond aus dem Himmel schnitt, drang, senkrecht einfallend und die prunkvolle Strenge des Saals gleichmäßig erhellend, der ganze regnerische Mainachmittag herein. In einer breiten rötlichen Bahn von düsterer Pracht fiel das Licht, hier und da in den Winkeln der leeren Bänke in rosigem Widerschein aufleuchtend, auf die stufenweise ansteigenden Sitze, während auf der Nacktheit der Statuen und sonstigen Skulpturen hinter dem Präsidenten helle weiße Flächen glänzten.
Ein Abgeordneter in der dritten Bank rechts war in dem engen Gang stehengeblieben. Er rieb mit der Hand über seine harte, ergrauende Bartfräse und sah sorgenvoll aus. Und da gerade ein Huissier heraufkam, hielt er ihn an und stellte ihm halblaut eine Frage.
»Nein, Herr Kahn«, erwiderte der Huissier, »der Herr Staatsratspräsident ist noch nicht gekommen.«
Daraufhin setzte sich Herr Kahn. Dann wandte er sich plötzlich an seinen Nachbarn zur Linken und fragte: »Sagen Sie doch, Béjuin, haben Sie heute morgen Rougon gesehen?«
Herr Béjuin, ein kleiner, magerer, schwarzhaariger Mann mit einem stillen Gesicht, war mit seinen Gedanken ganz woanders und hob, unruhig um sich blickend, den Kopf. Er hatte die Schreibfläche seines Pults herausgezogen. Auf blauen Geschäftsbriefbogen mit dem Aufdruck »Béjuin & Ce, Kristallfabrik von SaintFlorent« erledigte er seine Korrespondenz.
»Rougon?« wiederholte er. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Ich hatte keine Zeit, in den Staatsrat zu gehen.«
Und er machte sich bedächtig wieder an seine Arbeit. Bei dem verworrenen Gemurmel des Schriftführers, der gerade die Verlesung des Protokolls beendete, zog er ein Notizbuch zu Rate, schrieb seinen zweiten Brief.
Herr Kahn verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Sein Gesicht mit den kräftigen Zügen, dessen wohlgebildete Nase jüdische Abstammung verriet, blieb mißgestimmt. Er betrachtete die goldenen Rosetten an der Decke, starrte auf den rauschenden Platzregen, der sich gerade auf die Scheiben des Oberlichts ergoß; dann schien er mit versunkenem Blick aufmerksam die vielfältigen Verzierungen der großen Wand zu studieren, die er vor sich hatte. Einen Moment lang wurde er durch die mit vergoldeten Emblemen und Einfassungen überladenen Wandbespannungen aus grünem Samt an ihren beiden Enden gefesselt. Nachdem er dann mit einem Blick die Säulenpaare gemessen hatte, zwischen denen die allegorischen Statuen der Freiheit und der öffentlichen Ordnung ihre Marmorgesichter mit den leeren Augen zeigten, vertiefte er sich schließlich in die Betrachtung des grünseidenen Vorhangs, der das Fresko verhüllte, das LouisPhilippe2 darstellt, wie er den Eid auf die Verfassung leistet.
Unterdessen hatte sich der Schriftführer hingesetzt. Das Getöse im Saal dauerte an. Der Präsident blätterte, ohne sich zu beeilen, noch immer in Schriftstücken. Mechanisch legte er die Hand auf den Drücker der Glocke, deren heftiges Klingeln nicht eine einzige der Privatunterhaltungen störte. Er hatte sich in dem Lärm erhoben und verhielt sich einen Augenblick abwartend.
»Meine Herren«, fing er an, »ich habe einen Brief erhalten ...«
Er unterbrach sich, um abermals die Glocke ertönen zu lassen; wieder wartend, überragte er mit seinem ernsten und gelangweilten Gesicht den riesigen Präsidiumstisch, dessen rote Marmorplatten, die von weißem Marmor eingefaßt waren, sich unter ihm aufbauten. Sein zugeknöpfter Gehrock hob sich von dem hinter dem Tisch angebrachten Basrelief ab, wo er einen schwarzen Streifen durch die Peplons3 der mit antiken Profilen dargestellten symbolischen Gestalten von Ackerbau und Gewerbe zog.
»Meine Herren«, begann der Präsident aufs neue, nachdem er sich etwas Ruhe verschafft hatte, »ich habe einen Brief von Herrn de Lamberthon erhalten, worin er sich entschuldigt, daß er nicht an der heutigen Sitzung teilnehmen kann.«
In einer der Bänke, der sechsten dem Tisch gegenüber, gab es ein leises Gelächter. Ein ganz junger Abgeordneter, höchstens achtundzwanzig Jahre alt, blond und bezaubernd, erstickte mit seinen weißen Händen seine perlende Heiterkeit, die Heiterkeit einer hübschen Frau. Einer seiner Kollegen, ein ungeheuer großer Mann, kam von drei Plätzen weiter zu ihm, um ihm die Frage ins Ohr zu flüstern: »Hat Lamberthon wirklich seine Frau gefunden? Das müssen Sie mir erzählen, La Rouquette.«
Der Präsident hatte eine Handvoll Papiere ergriffen. Er sprach mit monotoner Stimme; Satzfetzen drangen bis hinten in den Saal: »Es liegen Urlaubsgesuche vor ... Herr Blachet, Herr BuquinLecomte, Herr de la Villardière ...«
Und während das befragte Abgeordnetenhaus die Urlaube gewährte, hatte sich Herr Kahn, der es offenbar müde geworden war, die vor das aufrührerische Bild LouisPhilippes gespannte grüne Seide anzusehen, halb umgedreht, um die Tribünen zu betrachten.
Oberhalb des Sockels aus gelbem, mit Lack geädertem Marmor zeigte ein einziger Tribünenrang zwischen Säulen Brüstungen aus amarantfarbenem Samt, während es ganz oben einem Bogenbehang aus gaufriertem4 Leder nicht gelang, die Leere zu verbergen, die durch die Abschaffung des zweiten, vor dem Kaiserreich den Journalisten und dem Publikum vorbehaltenen Ranges entstanden war. Zwischen den dicken, vergilbten Säulen, die rings um das Halbrund ihre etwas schwerfällige Pracht entfalteten, taten sich die tiefen schmalen Logen auf, voll dunkler Schatten, fast leer, nur von drei oder vier hellen Frauenkleidern aufgeheitert.
»Sieh da! Oberst Jobelin ist gekommen«, murmelte Herr Kahn.
Er lächelte dem Oberst zu, der ihn bemerkt hatte. Oberst Jobelin hatte den dunkelblauen Gehrock angelegt, den er seit seiner Pensionierung als Ziviluniform zu tragen pflegte. Ganz allein saß er in der Quästorenloge5, seine Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion6 war so groß, daß sie dem Knoten eines seidenen Halstuches glich.
Herrn Kahns Augen hatten sich soeben auf ein junges Paar geheftet, das sich weiter links in einer Ecke der Staatsratsloge zärtlich aneinanderschmiegte. Der junge Mann beugte sich alle Augenblicke vor und sprach, den Mund fast an ihrem Halse, mit der jungen Frau, die sanft lächelte, ihn aber nicht ansah, sondern auf die allegorische Figur der öffentlichen Ordnung starrte.
»Hören Sie mal, Béjuin«, flüsterte der Abgeordnete, seinen Kollegen mit dem Knie anstoßend.
Herr Béjuin war mit seinem fünften Brief beschäftigt. Er hob verstört den Kopf.
»Gucken Sie mal, sehen Sie nicht da oben den kleinen d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard? Ich wette, er kneift sie in die Hüften. Sie macht Schmachtaugen ... Alle Freunde Rougons haben sich also ein Stelldichein gegeben. Dort auf der Publikumstribüne sind auch noch Frau Correur und die beiden Charbonnels.«
Jetzt ertönte ein längeres Glockenzeichen. Ein Huissier rief mit schöner Baßstimme: »Ruhe, meine Herren!« Man merkte auf. Und der Präsident sprach folgenden Satz, von dem kein Wort verlorenging: »Herr Kahn bittet um Druckgenehmigung für die Rede, die er bei der Debatte über den Gesetzentwurf bezüglich der Einführung einer städtischen Steuer auf die in Paris laufenden Fahrzeuge und Pferde gehalten hat.«
Durch die Bänke lief ein zustimmendes Gemurmel, und dann wurden die Unterhaltungen wieder aufgenommen. Herr La Rouquette hatte sich neben Herrn Kahn gesetzt.
»Sie arbeiten also für die Bevölkerung?« fragte er scherzend. Dann fügte er, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Haben Sie Rougon nicht gesehen? Haben Sie nichts gehört? – Alle Welt spricht davon. Es scheint noch nichts gewiß zu sein.«
Er wandte sich um und blickte auf die Uhr.
»Schon zwanzig Minuten nach zwei! Ich würde mich jetzt davonmachen, wenn nicht die Verlesung dieses verflixten Berichts bevorstünde! – Findet die wirklich heute statt?«
»Man hat uns alle davon benachrichtigt«, antwortete Herr Kahn. »Ich habe nichts davon gehört, daß etwas anderes angeordnet worden wäre ... Sie werden gut daran tun, hierzubleiben. Man wird gleich über die vierhunderttausend Francs für die Taufe abstimmen.«
»Zweifellos«, entgegnete Herr La Rouquette. »Der alte General Legrain, der zur Zeit auf beiden Beinen lahmt, hat sich von seinem Diener hertragen lassen; er wartet im Konferenzsaal auf die Abstimmung ... Der Kaiser7 verläßt sich mit Recht auf die Ergebenheit des gesamten Corps législatif8. Bei diesem feierlichen Anlaß soll ihm keine einzige unserer Stimmen fehlen.«
Der junge Abgeordnete hatte sich sehr angestrengt, sich das ernsthafte Aussehen eines Politikers zu geben. Er plusterte sich auf und wiegte sein Zierpuppengesicht, das ein paar blonde Barthaare schmückten, leicht über seiner Krawatte. Einen Augenblick lang schien er die beiden letzten rhetorischen Phrasen, die er zustande gebracht hatte, auszukosten. Dann brach er plötzlich in Lachen aus.
»Mein Gott«, sagte er, »wie grotesk diese Charbonnels doch aussehen!«
Daraufhin witzelten Herr Kahn und er auf Kosten der Charbonnels. Die Frau hatte einen ausgefallenen gelben Schal um; ihr Gatte trug einen jener Provinzgehröcke, die mit der Axt zugehauen zu sein scheinen; und beide, wohlbeleibt, rotbäckig und zusammengesunken, lagen fast mit dem Kinn auf dem Samt der Brüstung, um besser der Sitzung folgen zu können, aus der sie, sosehr sie auch die Augen aufsperrten, nicht klug zu werden schienen.
»Wenn Rougon auffliegt«, murmelte Herr La Rouquette, »gebe ich keine zwei Sou für den Prozeß der Charbonnels ... Ebenso ist's mit Frau Correur ...«
Er beugte sich zu Herrn Kahns Ohr und fuhr sehr leise fort: »Kurz gesagt, Sie kennen doch Rougon, erzählen Sie mir also mal ganz genau, was es eigentlich mit Frau Correur auf sich hat. Sie hat ein Hôtel geführt, nicht wahr? Damals hat Rougon bei ihr gewohnt. Es heißt sogar, sie habe ihm Geld geliehen ... Und was für ein Gewerbe betreibt sie jetzt?«
Herr Kahn war sehr ernst geworden. Mit zögernder Hand rieb er seine Bartfräse.
»Frau Correur ist eine hochachtbare Dame«, sagte er nachdrücklich.
Dieses Wort setzte Herrn La Rouquettes Neugier ein Ende. Er verzog die Lippen wie ein Schüler, dem soeben ein Verweis erteilt worden ist. Ein Weilchen betrachteten beide schweigend Frau Correur, die in der Nähe der Charbonnels saß. Sie hatte ein sehr auffallendes Kleid aus malvenfarbener Seide an, mit vielen Spitzen und viel Schmuck; ihr Gesicht war allzu rosig, die Stirn von blonden Puppenlöckchen bedeckt, und ihr fülliger, trotz ihrer achtundvierzig Jahre noch sehr schöner Hals war unverhüllt.
Auf einmal aber hörte man im Hintergrund des Saales eine Tür klappen und Kleider rauschen; alle Köpfe wandten sich danach um. Ein großes junges Mädchen, eine wunderbare Schönheit, recht seltsam angezogen mit einem schlechtsitzenden Kleid aus seegrünem Atlas, hatte soeben in Begleitung einer bejahrten Dame in Schwarz die Loge des diplomatischen Korps betreten.
»Sieh da, die schöne Clorinde«, murmelte Herr La Rouquette und stand auf, um sich auf gut Glück zu verbeugen.
Auch Herr Kahn hatte sich erhoben. Er neigte sich zu Herrn Béjuin hinüber, der damit beschäftigt war, seine Briefe in die Umschläge zu stecken.
»Sehen Sie doch, Béjuin«, flüsterte er, »die Gräfin Balbi und ihre Tochter sind da ... Ich werde hinaufgehen und fragen, ob sie nicht Rougon gesehen haben.«
Am Präsidiumstisch hatte der Präsident eine neue Handvoll Papiere ergriffen. Ohne sich im Lesen zu unterbrechen, warf er der schönen Clorinde Balbi, deren Erscheinen ein allgemeines Geflüster im Saal hervorgerufen hatte, einen Blick zu. Und während er gleichzeitig die Blätter eins nach dem anderen an einen Schriftführer weiterreichte, sagte er punkt und kommalos und so, als würde es nie ein Ende nehmen: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Weitererhebung eines Aufschlags auf die städtische Steuer der Stadt Lille ... Vorlage eines Gesetzentwurfes bezüglich der Vereinigung der Gemeinden Doulevant lePetit und VilleenBlaisais im Departement Haute Marne zu einer einzigen Gemeinde ...«
Als Herr Kahn wieder herunterkam, war er tiefbetrübt.
»Es hat ihn wahrhaftig niemand gesehen«, sagte er zu seinen Kollegen Béjuin und La Rouquette, die er am unteren Ende des halbkreisförmigen Saales traf. »Man hat mir versichert, der Kaiser habe ihn gestern abend rufen lassen, aber ich weiß nicht, wie die Unterredung ausgegangen ist ... Nichts ist so ärgerlich wie nicht zu wissen, woran man ist.«
Herr La Rouquette drehte sich um und flüsterte dabei Herrn Béjuin ins Ohr: »Dieser arme Kahn hat eine schöne Angst, daß sich Rougon mit den Tuilerien9 überwirft. Dann könnte er seiner Bahnstrecke nachlaufen.«
Da gab Herr Béjuin, der sich selten zu äußern pflegte, gewichtig den Satz von sich: »An dem Tag, an dem Rougon aus dem Staatsrat ausschiede, würden alle einen Verlust erleiden.«
Und er winkte einen Huissier herbei, um ihn zu bitten, die Briefe, die er soeben geschrieben hatte, in den Kasten zu werfen.
Die drei Abgeordneten blieben links am Sockel des Präsidiumstisches stehen. Sie unterhielten sich vorsichtig über die Ungnade, die Rougon drohte. Es war eine verwickelte Geschichte. Ein entfernter Verwandter der Kaiserin10, ein gewisser Rodriguez, forderte seit 1808 einen Betrag von zwei Millionen von der französischen Regierung. Während des Spanischen Krieges war ein mit Zucker und Kaffee beladenes Schiff dieses Rodriguez, der Reeder war, im Golf von Biscaya durch eine unserer Fregatten, die »Vigilante«, gekapert und nach Brest gebracht worden. Auf Grund der Untersuchung, die die örtliche Kommission vornahm, erkannte der Intendanturoffizier auf Rechtsgültigkeit der Aufbringung, ohne dem Prisengericht darüber Bericht zu erstatten. Herr Rodriguez jedoch hatte sich beeilt, beim Staatsrat Verwahrung einzulegen. Später war er gestorben, und sein Sohn hatte unter allen Regierungen vergebens versucht, die Angelegenheit vor einen anderen Gerichtshof zu ziehen, bis zu dem Tage, da ein Wort der inzwischen allmächtig gewordenen Tochter seiner Großkusine bewirkte, daß der Fall endlich zur Verhandlung kam.
Über ihren Köpfen hörten die drei Abgeordneten die monotone Stimme des Präsidenten, der fortfuhr: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung des Departements Calvados, eine Anleihe von dreihunderttausend Francs aufzulegen ... Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung der Stadt Amiens, eine Anleihe von zweihunderttausend Francs zur Schaffung neuer Promenaden aufzulegen ... Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung des Departements CôtesduNord, eine Anleihe von dreihundertfünfundvierzigtausend Francs aufzulegen, dazu bestimmt, die Defizite der letzten fünf Jahre zu decken ...«
»Wahr ist«, sagte Herr Kahn, seine Stimme noch mehr dämpfend, »daß besagter Rodriguez einen sehr schlauen Einfall gehabt hat. Er besaß gemeinsam mit einem seiner Schwiegersöhne, der in New York ansässig war, Zwillingsschiffe, die beliebig unter amerikanischer oder spanischer Flagge reisten, je nach den Gefahren der Überfahrt ... Rougon hat mir versichert, daß das aufgebrachte Schiff tatsächlich dem Rodriguez gehörte und daß keineswegs ein Anlaß bestand, seinen Forderungen stattzugeben.«
»Um so weniger«, fügte Herr Béjuin hinzu, »als das Vorgehen unangreifbar ist. Der Intendanturoffizier von Brest war nach dem Gewohnheitsrecht des Hafens durchaus befugt, auf Rechtsgültigkeit zu erkennen, ohne dem Prisengericht darüber Bericht zu erstatten.«
Ein kurzes Schweigen trat ein. Herr La Rouquette, der mit dem Rücken gegen den Marmorsockel lehnte, hob den Kopf und versuchte, die Aufmerksamkeit der schönen Clorinde auf sich zu ziehen.
»Weshalb aber«, fragte er naiv, »will Rougon nicht, daß man diesem Rodriguez die zwei Millionen gibt? Was macht ihm das schon aus?«
»Das ist eine Gewissenssache«, sagte Herr Kahn ernst.
Herr La Rouquette blickte seine beiden Kollegen nacheinander an; als er aber ihre feierlichen Mienen sah, lächelte er nicht einmal.
»Außerdem«, fuhr Herr Kahn fort, als wolle er etwas verteidigen, das er nicht offen aussprach, »hat Rougon Ärger, seit Marsy Innenminister ist. Sie haben einander nie leiden können ... Rougon hat mir gesagt, daß er sich ohne seine Anhänglichkeit an den Kaiser, dem er bereits so viele Dienste erwiesen, längst ins Privatleben zurückgezogen hätte ... Kurz, er fühlt sich nicht mehr wohl in den Tuilerien und hält es für notwendig, ein neues Leben anzufangen.«
»Er handelt als Ehrenmann«, wiederholte Herr Béjuin mehrmals.
»Ja«, sagte Herr La Rouquette mit schlauer Miene, »wenn er sich zurückziehen will, ist die Gelegenheit günstig ... Aber immerhin, seine Freunde werden untröstlich sein. Sehen Sie doch den Oberst da oben, wie beunruhigt er aussieht; er hat so fest damit gerechnet, sich am nächsten 15. August11 das rote Band um den Hals binden zu können! ... Und die hübsche Frau Bouchard, die darauf geschworen hatte, daß der biedere Herr Bouchard vor Ablauf von sechs Monaten Abteilungschef im Innenministerium sein werde! Der kleine d'Escorailles, Rougons Goldkind, sollte am Namenstag der Frau Bouchard die Ernennungsurkunde ihres Gatten unter dessen Serviette legen ... Nanu, wo sind denn der kleine d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard geblieben?«
Die Herren suchten sie. Schließlich entdeckten sie die beiden im Hintergrund der Loge, auf deren erster Bank sie bei Eröffnung der Sitzung gesessen hatten. Sie hatten sich dorthin ins Dunkle zurückgezogen, hinter einen alten kahlköpfigen Herrn; und beide verhielten sich sehr ruhig, waren sehr rot.
In diesem Augenblick beendete der Präsident die Lesung. Mit etwas matter gewordener Stimme, die sich in der barbarischen Holprigkeit des Satzes verhedderte, sprach er die letzten Worte: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, dessen Gegenstand die Genehmigung der Erhöhung des Zinsfußes einer mit Gesetz vom 9. Juni 1853 genehmigten Anleihe und eine außerordentliche Steuerauflage durch das Departement Manche bilden.«
Herr Kahn war gerade einem Abgeordneten entgegengeeilt, der soeben den Saal betreten hatte. Er führte ihn zu den anderen und sagte: »Da ist Herr de Combelot ... Er hat wohl Neuigkeiten für uns.«
Herr de Combelot, ein Kammerherr, den das Departement Landes auf einen ausdrücklich vom Kaiser geäußerten Wunsch hin zum Abgeordneten ernannt hatte, verbeugte sich zurückhaltend und wartete darauf, daß man Fragen an ihn richte. Er war ein hochgewachsener, schöner Mann, sehr hellhäutig, mit einem tiefschwarzen Bart, der ihm große Erfolge bei Frauen verschaffte.
»Nun also«, fing Herr Kahn an, »was sagt man im Schloß? Wie hat sich der Kaiser entschieden?«
»Mein Gott«, erwiderte Herr de Combelot mit schnarrender Stimme, »man sagt allerlei ... Der Kaiser ist dem Herrn Staatsratspräsidenten äußerst zugetan. Die Zusammenkunft ist bestimmt sehr freundschaftlich verlaufen ... Ja, sie ist sehr freundschaftlich verlaufen.«
Und nach diesem mit Bedacht gesprochenen Wort hielt er inne, um festzustellen, ob er sich nicht zu weit vorgewagt habe.
»Die Demission ist also zurückgezogen?« fragte Herr Kahn mit leuchtenden Augen.
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete der Kammerherr sehr beunruhigt, »ich weiß nichts. Sie werden verstehen, ich bin in einer besonderen Lage ...«
Er beendete den Satz nicht, sondern begnügte sich mit einem Lächeln und beeilte sich, zu seiner Bank hinaufzugehen. Herr Kahn zuckte mit den Achseln und wandte sich an Herrn La Rouquette. »Aber da fällt mir ein, Sie müßten ja auf dem laufenden sein! Erzählt Ihnen Ihre Schwester, Frau de Llorentz, denn nichts?«
»Oh, meine Schwester ist noch verschwiegener als Herr de Combelot«, sagte der junge Abgeordnete lachend. »Seit sie Palastdame ist, ist sie ernst wie ein Minister ... Allerdings hat sie mir gestern versichert, das Rücktrittsgesuch werde angenommen ... Dazu gibt es eine nette Geschichte. Man hat, scheint's, eine Dame zu Rougon geschickt, um ihn zu erweichen. Und wissen Sie, was Rougon getan hat? Er hat der Dame die Tür gewiesen, und dabei war es eine sehr reizvolle Dame.«
»Rougon ist keusch und züchtig«, erklärte Herr Béjuin feierlich.
Herr La Rouquette wurde von einem tollen Lachen gepackt. Er erhob Einspruch; er könne Tatsachen anführen, wenn er wolle.
»Frau Correur nämlich ...«, murmelte er.
»Niemals!« sagte Herr Kahn. »Sie kennen diese Sache nicht.«
»Nun gut, dann die schöne Clorinde!«
»Hören Sie doch auf! Rougon ist viel zu gescheit, um sich mit diesem Satan von einem Mädchen zu vergessen.«
Und die Herren traten nahe zueinander und vertieften sich mit recht derben Worten in eine gewagte Unterhaltung. Sie erzählten sich die Anekdoten, die über die beiden Italienerinnen, Mutter und Tochter, halb Abenteuerinnen und halb vornehme Damen, in Umlauf waren; man traf sie überall an, wo es lebhaft zuging: bei den Ministern, in den Proszeniumslogen der kleinen Theater, in den gerade modernen Seebädern, in entlegenen Gasthöfen. Die Mutter, behauptete man, entstamme einem königlichen Bett; die Tochter, deren völlige Unkenntnis unserer französischen Konventionen einen originellen und sehr schlecht erzogenen »Satan von einem jungen Mädchen« aus ihr gemacht hatte, ritt beim Rennen Pferde zuschanden, zeigte sich an Regentagen mit schmutzigen Strümpfen und schiefgetretenen Stiefelchen auf der Straße, suchte mit dem dreisten Lächeln einer reifen Frau zu einem Ehemann zu kommen. Herr La Rouquette berichtete, sie sei zu einem Ball beim italienischen Botschafter, dem Cavaliere Rusconi, als Jagdgöttin Diana so entblößt erschienen, daß ihr tags darauf der alte Herr de Nougarède, ein sehr lüsterner Senator, beinahe einen Heiratsantrag gemacht hätte. Und bei dieser Geschichte blickten die drei Abgeordneten immer wieder zu der schönen Clorinde hinauf, die, ungeachtet der Hausordnung, die Mitglieder der Kammer der Reihe nach durch ein großes Opernglas betrachtete.
»Nein, nein«, wiederholte Herr Kahn, »so verrückt würde Rougon niemals sein ... Er sagt, sie sei sehr klug, und er nennt sie lachend ›Fräulein Machiavelli‹. Sie amüsiert ihn, das ist alles.«
»Wie auch immer«, schloß Herr Béjuin, »Rougon tut nicht recht daran, sie nicht zu heiraten ... Das verleiht einem Mann Ansehen.«
Dann einigten sich alle drei über die Frau, die Rougon brauche: eine nicht mehr ganz junge Frau, mindestens fünfunddreißig Jahre alt, die reich sein müsse und imstande, sein Haus nach den Prinzipien vornehmer Ehrbarkeit zu führen.
Unterdessen wurde es ringsum immer lauter. Die Herren hatten bei ihren schlüpfrigen Anekdoten so sehr alles andere vergessen, daß sie gar nicht merkten, was um sie her geschah. Von weitem, aus der Tiefe der Wandelgänge, hörte man die fernen Stimmen der Huissiers rufen: »Zur Sitzung, die Herren, zur Sitzung!« Und durch die Türen aus massivem Mahagoni, deren Flügel weit offenstanden und die goldenen Sterne ihrer Füllungen zeigten, kamen von allen Seiten Abgeordnete herbei. Der bis dahin halbleere Saal füllte sich nach und nach. Die kleinen Gruppen, die sich gelangweilt von Bank zu Bank unterhielten, die Schläfrigen, die ihr Gähnen unterdrückten, wurden geradezu überschwemmt von der steigenden Flut und der Menge der Händedrücke. Während die Mitglieder zur Rechten wie zur Linken ihre Plätze einnahmen, lächelten sie einander zu, sie hatten eine gewisse Familienähnlichkeit: Gesichter, die alle in gleicher Weise von der Pflicht durchdrungen waren, zu deren Erfüllung sie hierherkamen. Ein dicker Mann auf der letzten Bank links, der zu fest eingenickt war, wurde von seinem Nachbarn geweckt, und nachdem dieser ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte, rieb er sich schleunigst die Augen und nahm eine angemessene Haltung an. Die Sitzung, die sich bisher mit für diese Herren sehr langweiligen Fragen hingeschleppt hatte, gewann jetzt das größte Interesse.
Von der Menge geschoben, gelangten Herr Kahn und seine beiden Kollegen zu ihren Bänken, ohne zu wissen wie. Sie plauderten noch immer, bemüht, ihr Lachen zu unterdrücken. Herr La Rouquette erzählte eine neue Geschichte von der schönen Clorinde. Sie hatte eines Tages den erstaunlichen Einfall gehabt, ihr Zimmer mit schwarzen, von silbernen Tränen übersäten Behängen ausschlagen zu lassen und dort, auf dem Bett liegend, ganz vergraben unter ebenfalls schwarzen Decken, aus denen nur ihre Nasenspitze hervorschaute, ihre nächsten Freunde zu empfangen.
Als Herr Kahn sich setzte, kam er plötzlich zur Besinnung.
»Dieser La Rouquette mit seinem Altweibergeschwätz ist blödsinnig«, murmelte er. »Jetzt habe ich Rougon verpaßt!«
Und sich mit wütender Miene zu seinem Nachbarn umwendend, sagte er: »Hören Sie, Béjuin, Sie hätten mich wirklich aufmerksam machen können!«
Rougon, den man soeben mit dem üblichen Zeremoniell eingeführt hatte, saß bereits zwischen zwei Staatsräten auf der Bank der Regierungsvertreter, einer Art riesiger Mahagonilade, die unten vor dem Präsidiumstisch aufgestellt war, genau dort, wo früher die nun abgeschaffte Rednertribüne gestanden hatte. Seine breiten Schultern sprengten fast seine Amtstracht aus grünem Tuch, die am Kragen und an den Ärmeln überreich mit Gold bestickt war. Das Gesicht dem Saal zugewandt, das dichte ergrauende Haar über der viereckigen Stirn gescheitelt, versteckte er seine Augen hinter schweren, stets halbgesenkten Lidern; und seine große Nase, seine sehr fleischigen Lippen, die langen Backen, auf denen seine sechsundvierzig Jahre keine einzige Falte eingezeichnet hatten, waren von abstoßender Gewöhnlichkeit, die nur hin und wieder blitzartig von der Schönheit der Kraft verklärt wurde. Angelehnt, das Kinn im Frackkragen, saß er ruhig da, mit gleichgültigem, ein wenig müdem Ausdruck, und schien niemanden zu sehen.
»Er sieht aus wie immer«, murmelte Herr Béjuin.
Die Abgeordneten auf den Bänken beugten sich vor, um festzustellen, was für ein Gesicht er mache. Vorsichtige Bemerkungen liefen im Flüsterton von Ohr zu Ohr. Vor allem aber rief Rougons Erscheinen starkes Aufsehen auf den Tribünen hervor. Um zu zeigen, daß sie anwesend seien, streckten die Charbonnels ihre entzückten Gesichter so weit vor, daß die beiden fast in den Saal hinabgestürzt wären. Frau Correur hatte gehüstelt und dabei ein Taschentuch gezogen, das sie unter dem Vorwand, es an die Lippen zu führen, leicht schwenkte. Oberst Jobelin hatte sich wieder gestrafft, und die hübsche Frau Bouchard, die rasch zur ersten Bank hinuntergestiegen war, schnaufte ein wenig, als sie ihr Hutband neu knüpfte, indes sich Herr d'Escorailles schweigend und sehr verstimmt hinter ihr hielt.
Was die schöne Clorinde betraf, so tat sie sich keinerlei Zwang an. Da sie sah, daß Rougon den Blick nicht hob, klopfte sie in deutlich vernehmbaren kleinen Schlägen mit ihrem Opernglas auf den Marmor der Säule, an die sie sich lehnte; und als er sie auch weiterhin nicht beachtete, sagte sie mit so heller Stimme, daß man es im ganzen Saal hörte, zu ihrer Mutter: »Er schmollt also, der plumpe Duckmäuser!«
Ein paar Abgeordnete drehten sich lächelnd um. Rougon entschloß sich, der schönen Clorinde einen Blick zu schenken. Darauf klatschte sie, während er ihr ein unmerkliches Zeichen mit dem Kopf gab, triumphierend in die Hände, bog sich lachend hintenüber und sprach dabei laut zu ihrer Mutter, ohne sich auch nur im allergeringsten durch die vielen Menschen da unten, die sie musterten, stören zu lassen.
Rougon hatte, bevor er die Lider wieder sinken ließ, langsam an den Tribünen entlanggesehen, wo sein Blick gleichzeitig Frau Bouchard, Oberst Jobelin, Frau Correur und die Charbonnels umfaßte. Sein Gesicht blieb unbewegt. Er versenkte wieder das Kinn in den Frackkragen, schloß halb die Augen und unterdrückte ein leichtes Gähnen.
»Ich werde doch ein Wort mit ihm reden«, hauchte Herr Kahn Herrn Béjuin ins Ohr.
Doch als er aufstand, gab der Präsident, der sich seit einem Weilchen vergewisserte, daß alle Abgeordneten zur Stelle waren, ein energisches Glockenzeichen. Und plötzlich herrschte tiefe Stille.
In der ersten Sitzreihe, deren gelbe Marmorpulte Auflagen aus weißem Marmor hatten, stand ein blonder Herr. In der Hand hielt er ein großes Blatt Papier, von dem er beim Sprechen kein Auge ließ.
»Ich habe die Ehre«, sagte er mit singender Stimme, »einen Bericht über den Gesetzentwurf vorzulegen, welcher dem Staatsministerium für das Finanzjahr 1856 die Bereitstellung eines Betrages von vierhunderttausend Francs vorschlägt, um die Kosten der Taufe des Kaiserlichen Prinzen12 und der aus diesem Anlaß zu feiernden Feste zu bestreiten.«