Nana

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Dann will ich Ihnen helfen, mein Lieber.«

Es schlug elf Uhr, und die Gräfin, von ihrer Tochter unterstützt, trug den Tee auf. Da ausschließlich ganz intime Bekannte erschienen waren, gingen die Tassen und Kuchenteller vertraulich im Kreise herum. Das Gespräch riß jedoch immer häufiger ab, und eine allgemeine Ermattung verbreitete sich im Salon.

Steiner hatte wieder begonnen, heimlich den Abgeordneten zu bearbeiten, den er in einer Sofaecke belagert hielt. Herr Venot aß unter feinem Lächeln trockenes Gebäck, während der dicke Bürochef, die Nase in die Tasse versenkt, gar nicht satt zu werden schien. Die Gräfin indessen ging ruhig, ohne sich besonders aufzuhalten, vom einen zum ändern, blieb hier und da einige Sekunden stehen, um mit einer still fragenden Miene die Herren zu betrachten, und bewegte sich dann lächelnd weiter. Als sie sich Fauchery näherte, der mit ihrem Gemahl und mit Vandeuvres sprach, bemerkte sie, daß man plötzlich schwieg; sie hielt sich aber nicht auf, sondern gab die Tasse Tee an Georges Hugon.

»Ich kenne eine Dame, Herr Graf, die Sie bei ihrem Souper zu sehen wünscht«, fuhr der Journalist heiter fort, zum Grafen Muffat gewendet.

Der Graf, dessen Gesicht während des ganzen Abends finster geblieben war, schien sehr erstaunt.

»Was ist denn das für eine Dame?«

»Nun, Nana!« sagte Vandeuvres, gerade auf das Ziel zusteuernd.

Der Graf wurde noch ernster; seine Augen bewegten sich kaum, während ein Zug von Unbehagen, wie ein leiser Anfall von Migräne, über seine Stirn glitt.

»Aber ich kenne diese Dame ja gar nicht«, murmelte er.

»Nanu, Sie sind doch bei ihr gewesen!« bemerkte Vandeuvres.

»Wie, ich wäre bei ihr gewesen? ... Ach ja, neulich, im Interesse des Wohltätigkeitsvereins! Daran dachte ich nicht mehr. Aber trotzdem kenne ich sie nicht und kann die Einladung darum nicht akzeptieren.«

Er hatte eine eisige Miene angenommen, um ihnen zu verstehen zu geben, daß ihm dieser Scherz nicht behage. Für einen Mann von seiner Stellung war nicht der Platz am Tisch einer jener Damen. Vandeuvres widersprach ihm entschieden: es handle sich lediglich um ein Künstlersouper, und Talent entschuldige alles. Allein ohne weiter die Beweisgründe von Fauchery anzuhören, der von einem Diner erzählte, bei dem der Prinz von Schottland, ein Sohn der Königin, sich neben eine frühere Chansonettensängerin gesetzt habe, betonte der Graf seine Weigerung. Es entfuhr ihm sogar trotz seiner größten Höflichkeit ein Zeichen von Unwillen.

Georges und Faloise, im Begriff, ihre Tasse Tee zu trinken, hatten einige Worte aufgeschnappt.

»Ah, also bei Nana!« murmelte Faloise. »Ei, das hätte ich ahnen können.«

Georges sagte nichts, aber er glühte, sein blondes Haar hing lose herab, seine blauen Augen sprühten Feuer. Endlich trat doch auch er in jenes Leben ein, von dem er bisher nur geträumt hatte!

»Leider weiß ich die Adresse nicht«, bemerkte Faloise.

»Boulevard Haussmann, zwischen der Arkadenstraße und der Rue Pasquier, im dritten Stock«, stieß Georges in einem Zuge hervor. Und während der andere ihn erstaunt ansah, fügte er errötend und von geckenhafter Verlegenheit befangen hinzu:

»Ich weiß es und werde dort sein, denn sie hat mich heute früh eingeladen.«

Plötzlich entstand eine große Bewegung im Salon. Vandeuvres und Fauchery konnten nicht mehr in der Nähe des Grafen bleiben und gaben es auf, weiter in ihn zu dringen, denn der Marquis de Chouard war eingetreten, und alles beeilte sich, ihn zu begrüßen.

Er war mit seinen zittrigen Knien mühsam vorwärts gekommen und blieb bleich, mit blinzelnden Augen, mitten im Zimmer stehen, als komme er aus irgendeinem dunklen Gäßchen und sei durch das helle Lampenlicht noch geblendet.

»Ich glaubte schon, Sie heute gar nicht mehr hier zu sehen, Vater«, sagte die Gräfin, »und das würde mich bis morgen in steter Unruhe gehalten haben.«

Ohne zu antworten, betrachtete er sie mit der Miene eines Menschen, der nicht versteht, was man zu ihm spricht. Seine dicke Nase erschien in dem glattrasierten Gesicht wie eine Geschwulst, während seine Unterlippe schlaff herabhing. Als ihn Madame Hugon dermaßen angegriffen sah, bedauerte sie ihn mitleidsvoll.

»Sie arbeiten zuviel! Sie sollten sich mehr Ruhe gönnen. In unserem Alter muß man die Arbeit den jungen Leuten überlassen.«

»Die Arbeit, ach ja, die Arbeit!« stotterte er endlich. »Immer viel, viel Arbeit ...«

Er setzte sich und richtete seinen krummen Rücken langsam in die Höhe, indem er mit einer ihm geläufigen Bewegung die Hand über sein weißes Haar gleiten ließ, dessen spärliche Locken hinter seinen Ohren herabhingen.

»Woran arbeiten Sie denn noch so spät?« fragte Madame du Joncquoy. »Ich glaubte, Sie seien zum Empfang des Finanzministers gegangen.«

Aber die Gräfin legte sich ins Mittel. »Mein Vater hat einen Gesetzentwurf zu studieren«, sagte sie.

»Ja, einen Gesetzentwurf«, erwiderte er, »einen Gesetzentwurf, richtig ... Ich hatte mich eingeschlossen ...«

Vandeuvres hatte Fauchery einen Blick zugeworfen. Beide befanden sich hinter dem Marquis und machten sich ihm bemerklich. Als ihn Vandeuvres beiseite nehmen konnte, um mit ihm über die schöne Dame zu sprechen, die er aufs Land zu führen pflegte, stellte der Greis sich höchst erstaunt. Vielleicht hatte man ihn gar mit der Baronin Decker gesehen, bei der er bisweilen einige Tage in Viroflay zubrachte? Vandeuvres, um ihn für diese Lüge zu strafen, fragte ihn geradeheraus:

»Sagen Sie mir doch, Marquis, wo sind Sie denn gewesen? Ihr Ellbogen ist ja ganz voll Spinngewebe und Gips.«

»Mein Ellbogen?« stammelte er bestürzt. »Wirklich, es ist wahr ... Ein wenig Schmutz ... Ich werde ihn wahrscheinlich beim Herabsteigen der Treppe irgendwo abgestreift haben.« – Mehrere Personen gingen jetzt fort. Es war fast Mitternacht.

»Warten Sie!« sagte Vandeuvres zu Fauchery. »Wir müssen vom Grafen einen definitiven Bescheid haben.«

Der Graf Muffat unterhielt sich mit seinem Schwiegervater und einigen anderen ernsten Herren. Vandeuvres führte ihn beiseite, erneuerte die Einladung und gab ihr dadurch Nachdruck, daß er ihm sagte, er sei selbst bei dem Souper zugegen. Ein Herr dürfe überall hingehen; es werde niemand daran denken, darin etwas Schlechtes zu erblicken, man könne es höchstens sonderbar finden. Der Graf hörte diese Auseinandersetzung mit gesenkten Blicken und stummer Miene an; Vandeuvres bemerkte an ihm ein Zögern, als sich der Marquis de Chouard mit fragender Miene näherte. Und als auch dieser dadurch, daß Fauchery jetzt ihn selbst einlud, erfuhr, worum es ging, blickte er verstohlen seinen Schwiegersohn an. Ein verlegenes Schweigen trat ein; allein beide ermutigten sich und hätten sicherlich endlich die Einladung angenommen, wenn Graf Muffat nicht Venot bemerkt hätte, der ihn fest ins Auge faßte.

»Nein«, erwiderte er sogleich in so bestimmtem Ton, daß sich nichts mehr einwenden ließ.

Hierauf weigerte sich der Marquis noch viel energischer. Er war jetzt strenger Moralist. Die höheren Klassen, meinte er, müßten ein gutes Beispiel geben. Fauchery lächelte und stieß Vandeuvres an. Er wartete nicht auf ihn, sondern entfernte sich unverzüglich, indem er sagte, daß er sich nunmehr an sein Journal machen müsse.

»Bei Nana, um Mitternacht, nicht wahr?« rief er ihm noch zu. Faloise zog sich ebenfalls zurück; Steiner hatte sich soeben von der Gräfin verabschiedet; andere Herren folgten. Und dieselben Worte, mit denen sich Fauchery verabschiedet hatte, kursierten in aller Munde; ein jeder wiederholte: »Um Mitternacht bei Nana«, während er seinen Überzieher im Vorzimmer holte. Georges, der erst mit seiner Mutter weggehen sollte, hatte sich auf die Schwelle gestellt, wo er die genaue Adresse, dritter Stock, Tür links, angab. Indessen warf Fauchery vor seinem Weggang noch einmal einen Blick in den Salon. Vandeuvres hatte seinen Platz mitten unter den Damen wieder eingenommen und scherzte mit Léonide de Chezelles. Graf Muffat und der Marquis de Chouard mischten sich in die Unterhaltung, während die brave Madame Hugon mit offenen Augen schlummerte. Hinter den Kleidern verborgen, hatte Herr Venot, der wieder in seiner früheren Kleinheit erschien, sein bekanntes Lächeln von neuem angenommen. Langsam schlug die Uhr zwölf in dem weiten, feierlichen Raum.

Fauchery blickte noch einmal nach der Gräfin Sabine und schloß darauf die Tür. Sabine unterhielt sich gemütlich mit dem Bürochef und schien sich für die Unterhaltung des dicken Herrn zu interessieren. Entschieden mußte Fauchery sich getäuscht haben, denn es war durchaus nichts von einem Bruch zwischen dem Grafen und seiner Gattin zu bemerken.

»Nun, kommst du denn nicht herunter?« rief ihm Faloise vom Vestibül aus zu. Und als man sich auf dem Bürgersteig trennte, wiederholte man nochmals: »Morgen bei Nana!«

4
Viertes Kapitel

Seit dem frühen Morgen hatte Zoé die Wohnung einem Hotelwirt überlassen, der mit einem Kellnerpersonal von Brébant geschickt worden war. Brébant mußte alles liefern: Souper, Geschirr, Gläser, Tischzeug, Blumen, sogar Stühle und Sessel. Nana hätte auch nicht ein Dutzend Servietten in ihren Schränken gefunden, und da sie noch nicht Zeit gehabt hatte, sich in ihrer neuen Sphäre zu zeigen, zugleich aber auch verschmähte, ins Gasthaus zu gehen, so hatte sie lieber ein Gasthaus in ihrer Wohnung aufgemacht. Dies erschien ihr passender. Ihren großen Erfolg als Schauspielerin wollte sie durch ein Souper feiern, von dem man rühmend sprechen sollte. Da das Speisezimmer zu klein war, hatte der Hotelwirt im Salon den Tisch gedeckt, und auf diesem fanden, allerdings etwas gedrängt, fünfundzwanzig Kuverts Platz.

 

»Alles fertig?« fragte Nana, als sie um Mitternacht wieder hereintrat.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Zoé barsch und schien außer sich zu sein. »Gott sei Dank, ich kümmere mich um nichts! In der Küche, überhaupt in der ganzen Wohnung haben diese Menschen eine heillose Unordnung angerichtet! Und überdies habe ich Zank und Streit in Menge gehabt ... Die andern beiden sind auch noch gekommen; ich habe sie aber, meiner Treu, zur Tür hinausbefördert.«

Sie sprach von den beiden früheren Verehrern von Madame, dem Großhändler und dem Walachen, denen Nana den Abschied zu geben beschlossen hatte, da sie, über ihre Zukunft beruhigt, Abwechslung wünschte.

»Man kann sich vor ihnen nicht retten!« murmelte Nana.

»Wenn sie wiederkommen, so drohe ihnen damit, daß du die Polizei zu Hilfe rufen wirst.«

Sodann rief sie Daguenet und Georges herbei, die im Vorzimmer geblieben waren. Beide hatten sich am Künstlerausgang getroffen und waren von Nana in einem Fiaker hierhergeführt worden. Da noch niemand zugegen war, rief sie ihnen zu, in das Ankleidezimmer einzutreten, während Zoé ihr bei der Toilette helfen sollte. Nana war schon fertig, als ihr Unterkleid an einem Lehnsessel hängenblieb und zerriß. Da fluchte sie wütend, etwas Derartiges könne nur ihr widerfahren. Zornerfüllt zog sie das Kleid aus, ein sehr feines, weißes Seidenkleid von solcher Schmiegsamkeit und Zartheit, daß es wie ein langes Untergewand eng anlag. Allein sofort legte sie es wieder an, weil sie kein anderes fand, das ihrem Geschmack entsprach, und tränenden Auges erklärte sie, sie sehe aus wie ein Lumpenweib. Daguenet und Georges mußten den Riß mit Stecknadeln zustecken, während Zoé ihre Toilette wieder ordnete. Alle drei waren emsig um sie beschäftigt, und wahrlich, es war höchste Zeit, denn es kamen schon einige der geladenen Gäste.

Eiligst entfernte sie sich, während Georges immer noch in seiner knienden Stellung mit dem Zipfel seines Fracks den Boden fegte. Als er gewahrte, wie Daguenet ihn betrachtete, errötete er. Indes wurden beide ganz vertraut miteinander, ordneten die Knoten ihrer Krawatten vor dem großen Ankleidespiegel und reinigten einander mit einer Bürste, da ihre Röcke, die an Nana gestreift hatten, ganz weiß geworden waren.

»Man könnte meinen, wir hätten uns mit Zucker bestreut«, meinte Georges mit dem Lächeln eines naschhaften Kindes.

Ein für diesen Abend gemieteter Lakai führte die Geladenen in den kleinen Salon, ein enges Zimmer, in dem sich für den Empfang so vieler Leute nur vier Stühle befanden. Aus dem großen benachbarten Salon drang das Geräusch von klapperndem Geschirr und Silberzeug, während unter der Tür hervor ein heller Lichtstreifen leuchtete. Bei ihrem Eintreten fand Nana schon Clarisse Besnus, die Faloise mitgebracht hatte, in einem Lehnstuhl sitzen.

»Wie? Du bist die erste!« sagte Nana, die sich seit ihrem Erfolg auf einen ganz vertraulichen Fuß mit ihr stellte.

»Ach, daran ist mein Begleiter schuld«, erwiderte Clarisse. »Er fürchtet immer, zu spät zu kommen. Wenn ich ihm Glauben geschenkt hätte, so hätte ich nicht einmal Zeit gehabt, mein Rouge abzuwischen.«

Der junge Mann, der Nana zum erstenmal sah, machte viele Komplimente, sprach von seinem Cousin und verbarg seine Aufregung unter übertriebenen Höflichkeitsbezeigungen. Nana drückte ihm die Hand und ging dann schnell auf Rose Mignon zu. Sie nahm plötzlich eine sehr vornehme Miene an.

»Ach, meine Werte, welch eine Aufmerksamkeit ... Ich hatte mich so sehr auf Ihre Gegenwart gefreut!«

»Oh, ich bin meinerseits entzückt, versichere ich Ihnen«, erwiderte Rose mit gleicher Liebenswürdigkeit.

»Nehmen Sie doch Platz ... Haben Sie irgendwelchen Wunsch?«

»Nein, ich danke Ihnen ... Ach doch! Ich habe meinen Fächer im Pelzmantel gelassen. Herr Steiner, bitte, in der rechten Tasche.«

Steiner und Mignon waren hinter Rose hereingekommen. Der Bankier ging zurück und kehrte mit dem Fächer wieder, während Mignon Nana wie eine Schwester umarmte und Rose ebenfalls zu einer Umarmung nötigte. War man am Theater denn nicht wie eine große Familie? Darauf winkte er mit den Augen, um gleichsam Steiner zu ermutigen; dieser jedoch, durch Roses Anblick verlegen geworden, begnügte sich damit, Nana die Hand zu küssen.

In diesem Augenblick erschien der Graf Vandeuvres mit Blanche de Sivry und wurde äußerst zuvorkommend empfangen. Nana führte Blanche mit betonter Höflichkeit zu einem Lehnstuhl. Inzwischen erzählte Vandeuvres lachend, daß Fauchery sich unten vor der Tür herumstreite, weil der Hausmeister den Wagen von Lucy Stewart nicht hatte einlassen wollen. Als aber der Lakai die Tür geöffnet hatte, trat Lucy mit graziösem Lächeln ein, nannte selbst ihren Namen, begrüßte Nana mit der größten Freundlichkeit und sagte ihr, sie habe sie sofort liebgewonnen und in ihr ein großes Talent erblickt. Nana, durch ihre neue Rolle als Herrin des Hauses stolz gemacht, dankte ihr mit sichtbarer Verwirrung. Dennoch schien sie seit der Ankunft Faucherys etwas Besonderes zu beschäftigen. Sobald sie sich ihm nähern konnte, fragte sie ganz leise:

»Wird er kommen?«

»Nein, er hat nicht gewollt«, erwiderte der Journalist kurz, da ihm die Frage unerwartet kam, obwohl er eine Geschichte ersonnen hatte, um die Weigerung des Grafen Muffat zu erklären. Er merkte auch sofort, daß er eine große Ungeschicklichkeit begangen hatte, denn er sah, wie Nana darüber erbleichte; er suchte daher seine Rede fortzusetzen:

»Er hat nicht gekonnt, da er heute Abend die Gräfin zum Ball beim Minister des Innern begleitet.«

»Gut«, murmelte Nana, die ihn als böswillig verdächtigte.

»Du wirst mir dafür büßen, mein Lieber!«

»Ach«, erwiderte er, durch diese Drohung verletzt, »ich liebe derartige Aufträge nicht! Wende dich das nächste Mal an Labordette!«

Erbost kehrten sie einander den Rücken. Eben jetzt brachte Mignon Herrn Steiner in Nanas Nähe. Als diese allein war, sagte er leise, mit der gemütlichen Unverfrorenheit eines Spießgesellen, der seinem Freunde ein Vergnügen verschaffen will:

»Glauben Sie mir, er grämt sich noch zu Tode ... Er fürchtet nur meine Frau. Wollen Sie ihn nicht in Schutz nehmen?«

Nana schien ihn nicht zu verstehen. Lächelnd schaute sie nach Rose, ihrem Gatten und dem Bankier:

»Herr Steiner, Sie werden gütigst an meiner Seite Platz nehmen.«

Aus dem Vorzimmer drang jetzt lautes Gelächter, ein Gewirr von fröhlichen und geschwätzigen Stimmen. Labordette erschien mit fünf Damen, seinem »Pensionat«, wie die böse Lucy Stewart sagte. Darunter befanden sich Gaga, majestätisch in einer engen Samtrobe, Caroline Héquet, stets in schwarzer, mit einem Spitzenschleier garnierter Seide, alsdann Léa de Horn, nach ihrer Art wunderlich gekleidet, die wohlgenährte Tatan Néné, ein schönes, blondes Kind mit einem stark entwickelten Busen, über den man sich lustig machte, und schließlich die kleine Marie Blond, ein siebzehnjähriges Mädchen, das am Folies-Theater debütierte. Labordette hatte sämtliche Damen in einem einzigen Wagen hergebracht, und sie lachten immer noch darüber, wie gedrängt sie gesessen hatten, Marie Blond auf dem Schoß der anderen. Allein jetzt wurden sie gesetzter und machten ihre Begrüßungen in damenhafter Weise. Gaga stellte sich wie ein Kind an und lispelte aus übertriebener Vornehmtuerei.

Nur Tatan Néné, der man unterwegs erzählt hatte, daß sechs völlig nackte Neger das Souper bei Nana servieren würden, war unruhig und wollte die versprochenen Neger sehen. Labordette sagte, sie sei ein Gänschen, und bat sie, zu schweigen.

»Und Bordenave?« fragte Fauchery.

»Oh, stellen Sie sich vor! Ich bin außer mir!« rief Nana aus.

»Er wird nicht kommen können!«

»Ja«, sagte Rose Mignon, »er hat sich den Fuß verletzt. Sie sollten ihn nur fluchen hören, während sein Bein eingeschnürt auf einem Stuhl ruht!«

Allgemein ward Bordenave bedauert, denn ohne ihn sei kein schönes Souper möglich. Doch man mußte sehen, auch ohne ihn auszukommen, und schon sprach man über andere Dinge, als sich eine mächtige Stimme hören ließ:

»Was denn! Was denn! So will man mich abspeisen?«

Ein Ausruf des Staunens durchlief die Gesellschaft, und jedermann wandte sich um. Der dicke Bordenave mit seinem steifen Bein stand auf der Schwelle, sein Gesicht war rot, er stützte sich auf die Schulter von Simonne Cabiroche. Gegenwärtig pflegte er nämlich Simonne seine Abendbesuche abzustatten. Diese Kleine, die eine gute Erziehung genossen hatte, Klavier spielte und Englisch sprach, war ein allerliebstes blondes Kind, so zart, daß sie unter Bordenaves wuchtiger Last fast umsank, dabei aber doch lächelte und unterwürfig aussah. Er blieb einige Augenblicke stehen, da er sah, daß sie beide eine interessante Gruppe bildeten.

»Ha, ich sollte meinen, daß ihr nicht über mich zu klagen habt! Ich bin euch, denke ich, ein guter Vater ... Hab' freilich gefürchtet, mich arg zuzurichten, hab' mich aber doch schließlich herbemüht!«

Allein er unterbrach sich, um einen Fluch auszustoßen. »Himmeldonnerwetter!«

Simonne hatte einen zu schnellen Schritt getan, und sein Fuß hatte soeben geschmerzt. Er versetzte ihr einen Stoß; sie aber, immer noch freundlich, senkte ihr so liebliches Antlitz wie ein Tier, das geschlagen zu werden fürchtet, und stützte ihn mit allen ihren Kräften. Übrigens machte man sich mit vielem Geräusch eiligst um ihn zu schaffen. Nana und Rose Mignon rollten einen Lehnstuhl herbei, auf dem sich Bordenave niederließ, während die anderen Damen ihm einen zweiten Stuhl unter das verletzte Bein schoben. Alle Schauspielerinnen, die zugegen waren, umarmten ihn, während er leise seufzte:

»Himmeldonnerwetter, mein Fuß ... Gott sei Dank! Mein Magen ist wenigstens stets in Ordnung, wie Sie gleich sehen sollen.«

Unterdessen waren noch mehr Tischgäste gekommen, so daß man sich im Zimmer kaum noch bewegen konnte. Das Geklirr des Tischgeschirrs und des Silberzeugs hatte aufgehört, doch wurde vom großen Salon her ein heftiger Wortwechsel vernehmbar, wobei man besonders die wütende Stimme des Hotelwirts unterschied. Nana wurde unruhig, da sie keine Eingeladenen mehr erwartete und über die Verzögerung des Soupers erstaunt war. Sie hatte Georges hinübergeschickt, der sich erkundigen sollte, als sie zu ihrer großen Überraschung noch verschiedene Herren und Damen kommen sah, die sie absolut nicht kannte. Deshalb fragte sie Bordenave, Mignon und Labordette darüber, allein diesen waren die Herrschaften ebenfalls unbekannt. Als sie sich an den Grafen Vandeuvres wandte, erinnerte sich dieser, daß es jene jungen Leute seien, die er beim Grafen Muffat für das Souper gewonnen hatte.

Nana dankte ihm. Sehr gut, sehr gut! Es würde nur etwas eng zugehen; und sie bat Labordette, doch noch sieben Kuverts zu bestellen. Kaum war er fort, als der Bediente abermals drei Personen hereinführte. Jetzt wurde die Sache allerdings lächerlich, denn sicher mußte es nunmehr an Plätzen fehlen. Nana, der der Ärger allmählich die Röte aus den Wangen trieb, meinte, dergleichen schicke sich doch durchaus nicht. Als sie jedoch noch zwei Gäste kommen sah, mußte sie lachen, denn nun fand sie die Sache spaßhaft. Jedermann stand am Tisch, nur Gaga und Rose Mignon saßen, während Bordenave für sich allein zwei Stühle beanspruchte. Die Stimmen schwirrten durcheinander, man sprach leise und unterdrückte hier und da ein leichtes Gähnen.

»Sage mir doch, mein liebes Kind«, fragte Bordenave jetzt Nana, »wie wäre es denn, wenn man sich nun zu Tisch setzte? Wir sind doch vollzählig, nicht wahr?«

»Ach ja, wir sind wahrhaftig vollzählig«, erwiderte sie lachend.

Sie ließ ihre Blicke umherschweifen, doch bald ward sie ernst, als wunderte sie sich, jemanden nicht zu finden. Ohne Zweifel fehlte ein Tischgenosse, von dem sie gar nicht sprach. Vielleicht kam er noch. Einige Minuten später bemerkten die Eingeladenen in ihrer Mitte einen großen Herrn von edler Gestalt, den ein schöner weißer Bart zierte. Das überraschendste war, daß ihn niemand hatte hereinkommen sehen; er mußte sich durch eine halboffene Tür des Schlafzimmers in den kleinen Salon geschlichen haben. Es herrschte allgemeines Schweigen, nur ein Zischeln lief von Mund zu Mund. Graf Vandeuvres aber kannte den Herrn genau, denn beide hatten insgeheim einen Händedruck gewechselt; allein er beantwortete die Fragen der Damen nur durch ein Lächeln. Caroline Héquet hielt ihn für einen englischen Lord, der den nächsten Tag sich in London verheiraten werde; sie kannte ihn gut, denn er hatte sie schon besucht. Diese Geschichte machte nun die Runde unter den Damen; nur Marie Blond ihrerseits behauptete, in ihm einen deutschen Gesandten wiederzukennen, der eine ihrer Freundinnen des Abends oft besuchte. Unter den Herren beurteilte man ihn rasch: ein gewichtiger Mann, der vielleicht das Souper bezahlen werde. Richtig, es hatte ganz danach den Anschein. Bah, aber man mußte doch immer erst noch zusehen, ob das Souper gut war! Kurz, man blieb im Zweifel, und schon fing man an, den weißbärtigen Herrn zu vergessen, als der Hotelwirt die Tür zum großen Salon mit der Meldung öffnete, daß angerichtet sei.

 

Nana hatte Steiners Arm genommen, ohne, wie es schien, eine Bewegung des alten Herrn zu bemerken, der ganz allein hinter ihr her ging. Übrigens konnte keine geordnete Reihe zustande kommen, vielmehr traten die Herren und Damen ohne jede Ordnung ein, mit bürgerlicher Unbefangenheit über diesen Mangel an Etikette scherzend. Eine lange Tafel dehnte sich von dem einen Ende dieses großen Zimmers zum andern, und dennoch erwies sie sich als noch zu klein, so daß die Teller einander beinahe berührten. Vier zehnarmige Kandelaber erleuchteten den neusilbernen Tafelaufsatz, der rechts und links reich mit Blumen geziert war. Der ganze Luxus entsprach der Aufmachung eines Gasthauses: ungezeichnetes Porzellan mit vergoldeten Kanten, abgenutztes und durch das fortwährende Abwaschen unscheinbar gewordenes Silberzeug, Gläser, wie man sie zu Dutzenden in jedem Magazin haben konnte. Alles erinnerte an einen verfrühten Einzugsschmaus, an ein urplötzlich gekommenes Glück, wo noch nichts an seinem geeigneten Platze war. Ein Kronleuchter fehlte; in den Kandelabern steckten zu hohe Kerzen, die einen blaßgelben Schein über die Kompottschüsseln, aufgetürmten Teller und Schalen verbreiteten, in denen Früchte, kleines Gebäck, Konfitüren symmetrisch aufgestellt waren.

»Ich bitte«, sagte Nana, »setze sich ein jeder nach Belieben ... Das ist amüsanter.«

Sie blieb mitten vor der Tafel stehen. Der alte Herr, den niemand kannte, hatte an ihrer rechten, Steiner an ihrer linken Seite Platz genommen. Verschiedene Tischgäste hatten sich schon gesetzt, als man aus dem kleinen Salon heftiges Fluchen vernahm. Bordenave, den man völlig vergessen hatte und der nun bemüht war, sich von seinen beiden Stühlen aufzurichten, heulte dort Zetermordio und schimpfte auf Simonne, die ihn im Stich gelassen hatte. Die Damen eilten mitleidsvoll herbei, und Bordenave erschien, halb getragen von Caroline, Clarisse, Tatan Néné und Marie Blond, im Eßzimmer.

»Mitten an die Tafel! Nana gegenüber!« rief alles. »Bordenave in die Mitte! Bordenave soll den Vorsitz führen!«

Die Damen leisteten bereitwillig Folge. Aber Bordenave brauchte einen zweiten Stuhl für sein krankes Bein, das zwei Damen aufhoben und behutsam streckten. In dieser Stellung genierte ihn sein Bein nicht weiter; er speiste nun einfach auf der Seite liegend. »Potztausend!« brummte er. »Wie unbeholfen man doch ist! Ach, meine kleinen Miezchen, der Papa empfiehlt sich eurer Fürsorge!«

Rose Mignon saß zu seiner Rechten und Lucy Stewart zu seiner Linken. Sie versprachen, für ihn Sorge zu tragen. Jedermann nahm jetzt Platz: der Graf von Vandeuvres zwischen Lucy und Clarisse, Fauchery zwischen Rose Mignon und Caroline Héquet. Auf der anderen Seite hatte sich Hector de la Faloise eiligst neben Gaga gesetzt, trotz der Zurufe Clarisses ihm gegenüber, während Mignon, der sich nicht von Steiner entfernen wollte, von diesem nur durch Blanche getrennt war; zu ihrer Linken saß Tatan Néné, dann kam Labordette. An den beiden Enden der Tafel saßen die jungen Herren und Damen, Simonne, Léa de Hörn, Marie Blond, bunt durcheinander. Dort saßen auch Daguenet und Georges, die sich immer mehr zueinander hingezogen fühlten.

Als indessen zwei Personen keinen Platz fanden, gab dies Anlaß zu Scherzen, und die Herren boten ihnen ihre Knie an. Clarisse, die sich kaum rühren konnte, sagte zu Vandeuvres, sie werde beim Verteilen der Speisen auf ihn rechnen. Daß auch dieser Bordenave mit seinem lahmen Bein so viel Platz brauchte! Eine letzte Anstrengung wurde gemacht, und nun fand jedermann sein Plätzchen.

Bordenave pries eben laut die Suppe an, als auf einmal protestierende Stimmen sich erhoben. Die Tür hatte sich soeben wieder geöffnet und drei Nachzügler, eine Dame und zwei Herren, waren eingetreten. Nana, ohne ihren Stuhl zu verlassen, kniff die Augen halb zu und versuchte sie zu erkennen. Die Dame war Louise Violaine; die Herren jedoch waren ihr nicht bekannt.

»Meine Liebe«, sagte Vandeuvres, »jener Herr ist mein Freund, ein Marineoffizier, Herr de Foucarmont, den ich eingeladen habe.«

Foucarmont grüßte leicht und fügte hinzu:

»Ich habe mir noch erlaubt, einen meiner Freunde mitzubringen.«

»Ach, vortrefflich!« sagte Nana. »Bitte, setzen Sie sich! ... Clarisse, rücke noch ein wenig zu! Dort unten haben sich die Herrschaften etwas sehr ausgebreitet ... Dorthin, ich bitte ...«

Man rückte noch enger zusammen, Foucarmont und Louise fanden an einer schmalen Tischecke Platz; sein Freund jedoch mußte sich in einiger Entfernung von seinem Kuvert placieren; er speiste, indem er die Arme zwischen den Schultern seiner Nachbarn hindurch ausstreckte. Bordenave regte die gesamte Tischgesellschaft auf, denn er erzählte, er habe noch beabsichtigt, Prullière, Fontan und den alten Bosc herzubringen. Mit trockener Ruhe erwiderte Nana, sie würde diese Leute einfach abgewiesen haben; wenn sie ihre Kollegen heute Abend bei sich zu sehen gewünscht hätte, wären sie schon von ihr selbst eingeladen worden. Nein, nein, keine Schauspieler! Der alte Bosc sei immer betrunken, Prullière zu sehr für sich eingenommen, und Fontan mache sich durch sein Schreien und seine Dummheiten in jeder Gesellschaft unerträglich; Komödianten fühlten sich übrigens in feiner Herrengesellschaft stets ungemütlich. »Ja, ja, das ist wahr!« erklärte Mignon.

Alle Herren um den Tisch herum sahen höchst nobel in ihrem Gesellschaftsanzug aus, ihre bleichen Gesichter verliehen ihnen ein vornehmes Gepräge, das durch einen Zug von blasierter Ermüdung noch verfeinert wurde. Die Bewegungen des alten Herrn waren gemessen, und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund, gerade als ob er den Vorsitz in einer Diplomatenversammlung geführt hätte. Vandeuvres schien sich bei der Gräfin Muffat zu befinden, so ausgesucht höflich verkehrte er mit seinen Nachbarinnen. Noch am Morgen hatte Nana zu ihrer Tante gesagt, die Herren könnte man gar nicht besser finden; alle vornehm oder reich, kurz: lauter Kavaliere! Auch die Damen benahmen sich vortrefflich. Einige, wie Blanche, Léa und Louise, waren in ausgeschnittenen Kleidern erschienen, nur bei Gaga konnte man etwas zu tief schauen; gerade sie hätte in ihrem Alter besser getan, ihre vermeintlichen Reize nicht zu stark zur Schau zu tragen. Als man sich jetzt endlich niedergelassen hatte, wurde gelacht und gescherzt. Georges meinte freilich, daß er bei Bürgerfamilien in Orléans weit lustigere Diners erlebt habe. Hier sprach man ja kaum; die Herren, die einander nicht kannten, sahen sich an, die Damen blieben ruhig, was Georges' Erstaunen besonders erregte. Er fand sie prüde, denn er hatte geglaubt, man werde sofort mit Umarmungen und Küssen beginnen. Da rief Blanche ganz laut:

»Meine liebe Lucy, vorigen Sonntag habe ich Ihren Olivier getroffen. Ist der aber groß geworden!«

»Nun ja, er ist achtzehn Jahre alt«, entgegnete Lucy; »das macht mich freilich nicht wieder jung ... Gestern ist er wieder nach seiner Schule abgereist.«

Olivier, von dem Lucy stets mit Stolz sprach, war Zögling der Marineschule. Hierauf sprachen alle Damen mit Rührung über die Kinder. Nana erzählte mit großer Freude, ihr Söhnchen, der kleine Louis, sei jetzt bei ihrer Tante, die ihn jeden Morgen gegen elf Uhr zu ihr bringe; dann nehme sie ihn zu sich ins Bett, und er spiele dort mit ihrem Schoßhündchen Lulu. Man könne sich totlachen, die beiden Kleinen zu sehen, wie sie sich unter dem Deckbett versteckten. Man habe keine Vorstellung, wie gerieben der kleine Louis schon sei.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?