Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Viertes Kapitel

Am Montag, dem zehnten Oktober, brach die Sonne siegreich durch die grauen, regenschweren Wolken, die seit einer Woche Paris verdüsterten. Die ganze Nacht war ein feiner Regen niedergegangen, der die Straßen verschmierte; allein bei Tagesanbruch hatte ein scharfer Wind die Bürgersteige getrocknet, die Wolken vom Himmel verjagt und ihn in heiterem Frühlingsblau erstrahlen lassen.

Das »Paradies der Damen« lag schon um acht Uhr im Glanz des großen Sonderverkaufs. Über dem Eingang flatterten Fahnen, der frische Morgenwind spielte mit den ausgehängten Wollwaren. Die lange Reihe der Schaufenster nach beiden Straßen mit ihren blankgeputzten Scheiben entfaltete die ganze Farbenpracht der Dekoration.

Doch zu dieser frühen Morgenstunde hatten sich erst wenige Käufer eingefunden: einige Kunden, die später keine Zeit hatten, Haushälterinnen aus der Nachbarschaft, ein paar Frauen, die sich dem Gedränge am Nachmittag nicht aussetzen wollten. Das mit Waren vollgepfropfte Geschäft war noch leer, aber sichtlich gerüstet. Die vorbeieilenden Fußgänger würdigten die Auslagen kaum eines Blicks. Nur die Bewohner des Stadtviertels, die kleinen Geschäftsleute vor allem, die durch diesen ungeheuren Aufwand an Fahnen und Dekoration in Aufruhr versetzt wurden, standen in Gruppen unter den Türen und auf der Straße und tauschten hier und da bittere Bemerkungen aus. Hauptsächlich erboste sie ein in der Rue de la Michodière vor dem Warenabgang haltender Wagen, einer jener vier, die Mouret in ganz Paris für sich Reklame machen ließ. Grün angestrichen, mit Rot und Gelb verziert, leuchtete er im hellen Sonnenschein wie Gold und Purpur. Auf beiden Seiten war der Name der Firma zu lesen, darüber eine auffallende Anzeige, die auf den heutigen großen Sonderverkauf hinwies. Nachdem der Wagen mit den restlichen Paketen vom Tag vorher vollgeladen war, preschte das prächtige Pferd im Trab davon. Baudu stand blaß auf der Schwelle seines Ladens und blickte haßerfüllt diesem Fahrzeug nach, das den verabscheuten Namen des »Paradieses der Damen« im hellen Sonnenlicht durch ganz Paris spazierenführte.

Mittlerweile waren einige Droschken angekommen und hatten sich hintereinander aufgestellt. Sooft eine Käuferin eintrat, entstand eine Bewegung unter den Laufburschen, die, in die Livree des Hauses gekleidet – hellgrüner Anzug, gelb und rot gestreifte Weste –, unter der hohen Eingangstür warteten. Der Inspektor Jouve, in Schwarz mit weißer Krawatte und allen Kriegsauszeichnungen, empfing die Damen voll ernster Höflichkeit, um sie nach den verschiedenen Abteilungen zu weisen. Dann verschwanden sie in dem Vorraum, der in einen orientalischen Saal umgewandelt war.

Schon von der Place Gaillon aus konnte man diesen Saal sehen. Decken und Wände waren mit den Schätzen des Orients verkleidet, türkischen, arabischen, persischen, indischen Teppichen in den sattesten Farben und üppigsten Mustern. Mouret selbst hatte diesen Gedanken gehabt, der alle in höchstes Erstaunen versetzte. Er hatte in der Levante zu ausgezeichneten Bedingungen eine Sammlung alter und neuer Teppiche angekauft, wie sie bisher nur bei Raritätenhändlern für teures Geld zu haben gewesen waren. Er wollte den Markt damit überschwemmen, gab sie fast zum Einkaufspreis ab und gedachte nur so viele zu behalten, wie er für die prächtige Ausstattung seines Hauses brauchte.

Als Denise, die gerade an diesem Montag ihre neue Stelle antreten sollte, um acht Uhr morgens durch den orientalischen Saal kam, war sie ganz verblüfft. Sie erkannte den Eingang gar nicht wieder und betrachtete verwirrt diese Haremsdekoration am Portal. Ein Laufbursche führte sie ins Dachgeschoß hinauf und übergab sie Frau Cabin, die damit betraut war, die Kammern der Verkäuferinnen reinzuhalten und zu überwachen. Frau Cabin wies Denise nach Nummer sieben, wohin ihr Koffer schon vorgetragen worden war. Es war ein winziger Raum mit einer Luke auf das Dach, möbliert mit einem schmalen Bett, einem Nußbaumschrank, einem Toilettentisch und zwei Stühlen. Zwanzig solcher Mansarden lagen wie Klosterzellen an einem gelb angestrichenen Gang. Von den fünfunddreißig Verkäuferinnen schliefen hier diejenigen, die in Paris keine Familie hatten, während die übrigen auswärts wohnten, darunter einige bei angeblichen Tanten oder Kusinen. Denise zog rasch ihr Wollkleid aus, das durch das viele Bürsten fadenscheinig geworden und an den Ärmeln vielfach ausgebessert war; es war das einzige, das sie aus Valognes mitgebracht hatte. Dann legte sie den Arbeitsanzug ihrer Abteilung an, ein schwarzes Seidenkleid, das auf dem Bett bereitlag. Es war ein wenig zu lang und in den Schultern zu weit; allein in ihrer Aufregung sputete sie sich dermaßen, daß sie sich bei solchen Einzelheiten nicht aufhielt. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Seide getragen. Während sie in ihrer festtäglichen Kleidung voller Unbehagen nach unten ging, fühlte sie sich gänzlich fehl am Platz.

Als sie ihre Abteilung betrat, brach eben ein Streit los; sie hörte Ciaire mit scharfer Stimme rufen:

»Ich bin vor ihr angekommen!«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte Marguerite; »an der Tür hat sie mich gestoßen, aber ich hatte schon den Fuß drinnen.«

Es handelte sich darum, wessen Name früher auf die Tafel geschrieben werden sollte, die den Turnus beim Verkauf regelte. Die Verkäuferinnen mußten sich in der Reihenfolge, wie sie ankamen, auf einer Schiefertafel eintragen; nach jedem Verkauf löschten sie oben ihren Namen und setzten ihn als letzten unten wieder an. Frau Aurélie gab schließlich Marguerite recht.

»Immer Ungerechtigkeiten!« murmelte Ciaire wütend.

Doch der Eintritt Denises versöhnte die beiden. Sie betrachteten sie und lächelten einander spöttisch zu. Wie konnte man nur so geschmacklos herumlaufen! Das junge Mädchen trat linkisch zur Schiefertafel, wo sie sich als letzte eintrug. Mittlerweile betrachtete die Direktrice sie mit unruhiger Miene; sie konnte sich nicht enthalten zu bemerken:

»Meine Liebe, in diesem Kleid hätten ja zwei von Ihrer Sorte Platz! Es muß enger gemacht werden; außerdem verstehen Sie offenbar gar nicht, sich anzuziehen. Kommen Sie her, damit ich das etwas in Ordnung bringe.«

Sie führte sie vor einen der hohen Spiegel, die abwechselnd zwischen den Schranktüren angebracht waren. Der weite Raum mit den einheitlich gekleideten und abwartend herumstehenden Verkäuferinnen wirkte unpersönlich wie die Empfangshalle eines Hotels. Jedes der Mädchen trug zwischen zwei Knöpfen an der Brust einen großen Bleistift, aus den Taschen blitzte der weiße Kassenblock hervor. Einige von ihnen hatten bescheidenen Schmuck angelegt, Ringe, Broschen, Ketten. Ihr eigentlicher Luxus aber, in dem sie bei der erzwungenen Einförmigkeit ihrer Kleidung miteinander wetteiferten, war ihr Haar, das bei allen mit dem Aufwand der raffiniertesten Toilettenkünste frisiert war.

»Ziehen Sie den Gürtel etwas mehr zu«, fing Frau Aurélie wieder an. »So, jetzt haben Sie wenigstens keinen Buckel mehr. Und Ihre Haare! Wie kann man sie nur zu einem solchen Klumpen verunstalten! Sie wären prachtvoll, wenn Sie damit umzugehen wüßten.«

Das war in der Tat Denises einzige Schönheit. Ihre aschblonden Haare fielen ihr beim Kämmen bis zu den Knöcheln herab; sie waren ihr so im Weg gewesen, daß sie sie einfach zu einem Knoten zusammengerollt und mit einem Hornkamm festgesteckt hatte. Ciaire, die beim Anblick dieser Fülle vor Neid verging, tat, als müsse sie über die linkische Art lachen, wie sie gekämmt war. Sie rief mit einem Wink eine Verkäuferin aus der Wäscheabteilung herbei, ein Mädchen mit breiten, aber angenehmen Zügen. Die beiden aneinanderstoßenden Abteilungen lagen in ständiger Fehde; wenn es sich jedoch darum handelte, sich über andere lustig zu machen, verstanden die Verkäuferinnen sich gleich.

»Fräulein Pauline, schauen Sie sich einmal diese Mähne an!« sagte Ciaire und stieß mit dem Ellbogen gleichzeitig Marguerite an. Sie tat, als müsse sie vor Lachen ersticken. Allein Pauline schien nicht zum Scherzen aufgelegt zu sein. Sie betrachtete Denise einen Augenblick und erinnerte sich, was sie selbst in den ersten Tagen ihres Eintritts auszustehen gehabt hatte.

»Ach was«, sagte sie, »nicht jedermann hat eine solche Mähne!« Damit kehrte sie in die Wäscheabteilung zurück und ließ die anderen verlegen zurück. Denise, die alles mit angehört hatte, sandte ihr einen dankbaren Blick nach, während Frau Aurélie ihr einen auf ihren Namen ausgestellten Kassenblock übergab und sagte:

»Jetzt machen Sie sich mit den Gewohnheiten des Hauses vertraut und warten Sie, bis Sie im Verkauf an die Reihe kommen; es wird heute heiß hergehen. Da werden wir ja sehen, was Sie können.«

Die Abteilung blieb indessen leer; es kamen in dieser frühen Morgenstunde nur wenige Kunden zur Konfektion herauf. Denise machte sich selber Mut, denn es galt, ihren Platz zu erobern. Man hatte ihr am Tag zuvor gesagt, daß sie kein festes Gehalt, sondern nur ihre Prozente bekommen werde, die übliche Provision nach jedem Verkauf. Sie hoffte dennoch, auf zwölfhundert Franken zu kommen, denn sie wußte, daß gute Verkäuferinnen es auf zweitausend brachten. Ihre Ausgaben standen fest: hundert Franken im Monat würden genügen, die Pension Pépés zu bestreiten und auch Jean etwas zuzustecken, der ja noch nichts bezahlt bekam; dabei würde ihr noch so viel übrigbleiben, daß sie selber leben und sich hier und da ein Wäsche- oder Kleidungsstück kaufen konnte. Allein um eine so hohe Summe zu erreichen, mußte sie fleißig und geschickt sein, sich die Mißgunst, die sie umgab, nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, sich wehren und, wenn nötig, den ihr zukommenden Teil sich auch mit Gewalt erobern.

Während sie sich mit solchen Gedanken beschäftigte, ging ein großer junger Mann durch die Abteilung und lächelte ihr zu. Als sie Deloche erkannte, der am Tag zuvor in die Spitzenabteilung eingetreten war, erwiderte sie lächelnd seinen Gruß, ganz glücklich über diese Freundschaft, die ihr hier plötzlich begegnete; sie sah darin eine glückliche Vorbedeutung.

 

Um halb zehn rief eine Glocke zur ersten Mahlzeit. Dann wurde die zweite Schicht gerufen. Immer noch kamen keine Kunden. Frau Frédéric, die zweite Abteilungsleiterin, die in ihrer ewig verdrossenen Witwenstimmung von vornherein alles schwarz sah, versicherte, der Tag sei verloren; keine vier Katzen würden erscheinen; man könne ruhig die Schränke schließen und nach Hause gehen. Diese Prophezeiung verdüsterte das platte Gesicht Marguerites, die sehr geldgierig war, während Claire schon an eine Landpartie dachte, falls das Haus Bankrott machen sollte. Frau Aurélie ging stumm und ernst in der leeren Abteilung umher wie ein General, den bei Sieg und Niederlage gleichermaßen die Verantwortung trifft. Gegen elf Uhr erschienen einige Damen. Die Reihe zum Verkaufen war an Denise. Eben wurde eine Kundin gemeldet.

»Es ist die Dicke aus der Provinz, Sie wissen ja«, flüsterte Marguerite.

Es war eine Dame von fünfundvierzig Jahren, die von Zeit zu Zeit aus einem entfernten Winkel des Landes nach Paris kam. Zu Hause legte sie monatelang ihre Ersparnisse beiseite. Wenn sie dann in der Stadt war, galt ihr erster Weg dem »Paradies der Damen«, wo sie alles bis auf den letzten Sou ausgab. Selten machte sie eine briefliche Bestellung, sie wollte sehen, was sie kaufte, wollte die Freude genießen, die Ware zu befühlen. Das ganze Geschäft kannte sie, man wußte, daß sie Boutarel hieß und in Albi wohnte; um das übrige kümmerte sich niemand.

»Es geht Ihnen hoffentlich gut, gnädige Frau?« fragte Frau Aurélie, die ihr höflich entgegenging. »Was darf es sein? Wir stehen ganz zu Ihrer Verfügung.«

Dann wandte sie sich um und rief:

»Ein Fräulein bitte!«

Denise trat näher, allein Claire war ihr zuvorgekommen. Gewöhnlich war sie ziemlich träge beim Verkauf; sie machte sich nicht viel aus dem Geld; sie verdiente außerhalb des Hauses weit mehr und ohne jede Mühe ... Doch der Gedanke, der Neuen eine Kundin wegzukapern, spornte sie an.

»Ich bin an der Reihe«, setzte sich Denise empört zur Wehr. Frau Aurélie warf ihr einen strengen Blick zu.

»Hier befehle ich. Alte Kunden können Sie noch nicht bedienen; warten Sie, bis Sie sich im Hause besser auskennen.«

Denise wandte sich ab, und da ihr die Tränen in die Augen traten, kehrte sie den anderen den Rücken und tat, als wollte sie auf die Straße hinunterschauen. Wie, versuchte man sie am Verkauf zu hindern? Sollten sich alle zusammengetan haben, um ihr die ersten Kunden wegzuschnappen? Die Sorge um die Zukunft erfaßte sie; sie fühlte sich wie erdrückt unter so viel Feindseligkeit. In ihrer bitteren Verlassenheit preßte sie die Stirn an die kalte Fensterscheibe, blickte nach dem »Vieil Elbeuf« hinüber und dachte, es wäre besser gewesen, wenn sie ihren Onkel gebeten hätte, sie zu behalten; jetzt stand sie ganz allein in diesem riesigen Haus da, wo niemand sie gern sah.

Inzwischen hörte sie hinter sich die Stimmen summen.

»Der ist mir zu eng«, sagte Frau Boutarel.

»Aber gnädige Frau«, erwiderte Claire, »die Schultern sitzen genau richtig ... Vielleicht hätten Sie lieber einen Umhang als einen Mantel?«

Denise fuhr zusammen, eine Hand hatte sich auf ihren Arm gelegt, und Frau Aurélie fragte streng:

»Nun tun Sie überhaupt nichts? Sie betrachten sich die Leute da draußen? So geht das nicht!«

»Man läßt mich ja nicht verkaufen.«

»Es gibt andere Arbeiten für Sie, fangen Sie wie alle an ... Hier, legen Sie die Sachen zusammen!«

Um die wenigen Kunden zu bedienen, die bisher gekommen waren, hatte man schon sämtliche Fächer leeren müssen; auf den beiden langen Eichentischen rechts und links lagen ganze Haufen von Mänteln, Umhängen und Kleidern aller Sorten und Größen.

Wortlos machte Denise sich daran, sie zusammenzulegen und sorgfältig wieder in die Schränke zu hängen. Es war die untergeordnetste Arbeit der Anfängerinnen. Sie widersprach nicht, da sie wußte, daß man unbedingten Gehorsam forderte; sie wartete einfach ab, ob die Direktrice sie auch verkaufen lassen werde, wie sie es anfangs vorgehabt zu haben schien.

Sie war immer noch beim Zusammenlegen, als Mouret erschien; das störte sie aus ihrer trüben Stimmung auf. Sie errötete, ohne zu wissen, weshalb, und fühlte sich wieder von jener seltsamen Angst erfaßt, denn sie glaubte, daß er sie ansprechen werde. Allein er sah sie gar nicht, er erinnerte sich nicht mehr an diese kleine Person, die ihm einmal durch einen vorübergehenden günstigen Eindruck aufgefallen war.

»Frau Aurélie!« rief er in gebieterischem Ton.

Er war blaß, die Augen aber waren hell und hatten ihre Entschlossenheit behalten. Auf seinem Gang durch die Abteilungen hatte er überall gähnende Leere vorgefunden, und bei all seinem eigensinnigen Vertrauen in sein Glück war doch plötzlich die Möglichkeit einer Niederlage in seinen Überlegungen aufgetaucht. Allerdings war es erst elf Uhr, und er wußte aus Erfahrung, daß der Hauptansturm immer nachmittags kam. Allein einige Anzeichen beunruhigten ihn: bei früheren Großverkäufen hatte sich schon am Morgen eine gewisse Bewegung gezeigt, während heute sogar die Kunden aus dem Stadtviertel fehlten, die als Nachbarinnen zu ihm zu kommen pflegten.

Eben sagte Frau Boutarel, die sonst immer etwas kaufte:

»Nein, Sie haben diesmal nichts, was mir gefällt ... Ich werde mich ein andermal entschließen.«

Mouret blickte ihr nach; als Frau Aurélie auf seinen Ruf herbeikam, nahm er sie beiseite, und die beiden wechselten rasch einige Worte. Sie machte eine Geste des Bedauerns, offenbar berichtete sie ihm, daß der Verkauf nicht recht in Schwung kommen wolle. Sie standen sich einen Augenblick wortlos gegenüber, von einem jener Zweifel gepackt, die ein Feldherr seinen Soldaten zu verbergen pflegt. Endlich sagte Mouret laut und zuversichtlich:

»Wenn Sie noch mehr Leute brauchen, nehmen Sie ein Mädchen aus dem Atelier, es wird doch etwas mithelfen können.«

Verzweifelt setzte er seine Besichtigung fort. Er vermied es schon seit dem Morgen, Bourdoncle zu begegnen, dessen sorgenvolle Bemerkungen ihn reizten. Als er die Wäscheabteilung verließ, wo das Geschäft noch schwächer ging, stieß er doch plötzlich auf ihn und mußte sein Gejammer über sich ergehen lassen. Da schickte er ihn ganz einfach zum Teufel mit all der Schroffheit, die er in schlimmen Stunden selbst seinen höchsten Angestellten gegenüber an den Tag legte.

»Lassen Sie mich in Ruhe! Es geht ja ausgezeichnet ... Ich werfe schließlich noch alle Miesmacher zur Tür hinaus.«

Dann stellte er sich an der Treppe vom Zwischenstock ins Erdgeschoß auf. Von diesem Punkt aus konnte er das ganze Geschäft überblicken. Doch nun erschien ihm die allgemeine Leere noch trostloser: In der Spitzenabteilung war nur eine alte Dame zu sehen, die sämtliche Kästen um und um wühlen ließ, ohne etwas zu kaufen; in der Wäscheabteilung feilschten drei Frauenzimmer um Kragen zu achtzehn Sous. Unten in den Seitengängen waren die Kunden zwar etwas zahlreicher, aber sie wanderten unentschlossen an den Tischen vorbei. Bei den Kurzwaren drängten sich einige Weiber; in den Abteilungen für Weißwaren und für Wollwaren dagegen war wieder kaum jemand zu entdecken. Die Laufburschen in ihren grünen Anzügen mit den breiten glänzenden Messingknöpfen warteten mit hängenden Armen auf die Kunden. Von Zeit zu Zeit ging einer der Inspektoren mit strenger Miene vorüber. Am meisten beklommen machte Mouret die Friedhofstille, die in der Halle herrschte. In dem gedämpften Licht, das durch die Milchglasdecke fiel, lag die Seidenabteilung wie im Schlaf. Langsam kamen allerdings Wagen an, man hörte, wie draußen plötzlich Pferde angehalten wurden, ein Kutschenschlag sich geräuschvoll schloß. Ein unbestimmter Lärm drang herein: Neugierige, die sich vor den Auslagen drängten, Droschken, die auf der Place Gaillon hielten. Allein noch sah Mouret die Kassierer untätig hinter ihren Schaltern sitzen, die Packtische blieben leer, anstatt sich mit Paketen zu füllen, und er hatte das Gefühl, als sei seine große Maschine zum Stehen gekommen.

»Sehen Sie sich mal den Chef an, Favier«, murmelte Hutin; »er scheint nicht gerade in rosiger Stimmung zu sein.«

»Das ist ja auch eine gräßliche Spelunke«, erwiderte Favier, »ich habe heute noch gar nichts verkauft.«

Sie tauschten ihre Bemerkungen aus, ohne einander anzublicken. Die übrigen Verkäufer der Abteilung waren damit beschäftigt, unter der Anleitung Robineaus große Stöße von »Pariser Glück« aufzulegen, während Bouthemont in ein angelegentliches Gespräch mit einer jungen Frau vertieft war und, wie es schien, eine wichtige Bestellung aufnahm.

»Ich brauche für Sonntag hundert Franken«, sagte jetzt Hutin.

»Wenn ich nicht täglich im Durchschnitt zwölf Franken herausschlage, bin ich pleite ... Ich hatte so fest auf diesen Sonderverkauf gebaut.«

»Verflucht! Hundert Franken, das ist viel!« meinte Favier. »Ich brauche nicht mehr als fünfzig oder sechzig ... Sie leisten sich noble Frauenzimmer, wie es scheint?«

»Ach wo, mein Lieber. Denken Sie sich, so etwas Dummes: ich habe gewettet und habe verloren ... Ich muß jetzt fünf Personen freihalten, zwei Herren und drei Damen. Alle Wetter! Der ersten, die mir in die Hände fällt, will ich fünfundzwanzig Meter ›Pariser Glück‹ anhängen!«

So plauderten sie noch eine Weile und erzählten einander, was sie tags zuvor gemacht hatten und was sie in acht Tagen zu tun gedächten. Favier hatte die Leidenschaft, bei Pferderennen zu wetten, Hutin dagegen war mehr für Bootsfahrten und bewegte sich überdies gern in Gesellschaft von Tingeltangelsängerinnen. Allein beide stachelte das gleiche Bedürfnis nach Geld an, sie dachten nur an Geld und plagten sich um Geld vom Montag bis zum Samstag, um dann am Sonntag alles zu verprassen. Dies war der einzige Gedanke, der sie im Geschäft beherrschte, ständig lebten sie im Kampf ums Geld. Und da kaperte dieser Schuft von Bouthemont Hutin die Botin von Frau Sauveur weg, die magere Person, mit der er eben sprach! Ein schönes Geschäft: zwei, drei Dutzend ganze Stücke ...

In diesem Augenblick hatte auch Robineau Favier eine Käuferin weggeschnappt.

»Der wird bald seine Rechnung machen müssen«, sagte Hutin, der den geringsten Anlaß dazu benutzte, die ganze Abteilung gegen den Mann aufzuhetzen, dessen Stelle er haben wollte. »Wozu mischen sich die oben auch noch in den Verkauf? Auf Ehrenwort, wenn ich jemals Zweiter werde, sollt ihr sehen, wie anständig ich sein werde!«

Er schien die Liebenswürdigkeit in Person zu sein. Favier sandte ihm einen mißtrauischen Blick zu und murmelte in seiner galligen Art:

»Ja, ich weiß ... Ich wollte, Sie wären es schon.«

Als er eine Kundin sich nähern sah, setzte er hinzu: »Aufgepaßt, da kommt etwas für Sie!«

Es war eine Dame mit kupferrotem Gesicht in einem roten Kleid mit gelbem Hut. Hutin witterte sofort, daß sie nichts kaufen würde. Er bückte sich rasch unter den Tisch und tat, als müsse er seine Schuhbänder nachziehen. Dabei brummte er:

»Kommt gar nicht in Frage! Die soll sich ein anderer nehmen. Besten Dank, das wäre verlorene Mühe.«

Allein Robineau rief nach ihm.

»Wer ist an der Reihe? Herr Hutin? Wo ist Herr Hutin?«

Als dieser keine Antwort gab, erhielt der nächstfolgende Verkäufer die kupferrote Dame. Sie verlangte tatsächlich nur Muster und Preisangaben; dabei hielt sie den Angestellten zwanzig Minuten auf und überhäufte ihn mit Fragen. Der Zweite hatte indessen bemerkt, daß Hutin sich hinter dem Tisch wieder aufgerichtet hatte. Als nun eine neue Kundin erschien, trat er mit strenger Miene dazwischen und hielt den jungen Mann zurück.

»Sie haben Ihren Einsatz verpaßt ... Ich habe Sie gerufen, da Sie aber dahinten steckten ...«

»Ich habe nichts gehört, Herr Robineau ...«

»Schluß! Schreiben Sie sich als letzter ein! Herr Favier, Sie sind an der Reihe!«

Favier sandte seinem Freund einen Blick des Bedauerns zu, war aber im Grunde entzückt. Hutin wandte sich wütend ab. Er kannte die Kundin; es war eine reizende Blondine, die oft in der Abteilung erschien. Sie kaufte immer viel, ließ alles in den Wagen schaffen und verschwand sodann. Sie war groß und elegant, mit auserlesenem Geschmack gekleidet, schien sehr reich zu sein und der besten Gesellschaft anzugehören.

»Nun, was ist mit Ihrer Kokotte?« fragte Hutin, als Favier die Dame zur Kasse begleitet hatte und zurückkam.

 

»Die – eine Kokotte? Bestimmt nicht, die sieht sehr anständig aus.«

»Ach was, natürlich ist sie eine Kokotte! Die sehen heutzutage alle anständig aus. Bei den Frauen kann man nie wissen ...«

Favier sah auf seinen Block und meinte:

»Mir kann's gleich sein. Für zweihundertdreiundneunzig Franken habe ich ihr Sachen aufgehängt; das macht fast drei Franken für mich.«

Hutin verzog den Mund und begann über die Kassenblocks zu schimpfen. Auch so eine saubere Erfindung des Chefs! Überhaupt ein schöner Tag! Wenn das so weiterging, würde er nicht einmal genug verdienen, um seine Gäste mit Selterswasser zu bewirten.

Mouret, der nach einer Pause seinen Beobachtungsposten an der Treppe wieder eingenomemn hatte und sichtlich Mut schöpfte, mußte jetzt häufig Platz machen, um Kundinnen vorüberzulassen, die in kleinen Gruppen in die Wäsche- und die Konfektionsabteilung heraufkamen. In dem gedämpften Licht der Seidenhalle hatten einzelne Damen bereits ihre Handschuhe abgelegt, um das zarte Gewebe des »Pariser Glücks« besser befühlen zu können. Dabei plauderten sie halblaut wie in einem Salon. Er täuschte sich nicht länger über das Geräusch, das von außen kam, das Heranrollen der Droschken, das Zuschlagen der Wagentüren, das zunehmende Lärmen der Menge. Er fühlte sozusagen, wie die Maschine unter ihm sich in Bewegung setzte, warm wurde und neues Leben entwickelte, angefangen von den Kassen, wo das Geklimper der Goldstücke erklang, den Tischen, wo die Angestellten sich beeilten, die gekauften Waren einzupacken, bis hinab in die Tiefen des Kellers, wo die Warenabgangsstelle sich immer mehr mit Paketen füllte. Inmitten dieses Gewühls ging der Inspektor Jouve mit ernster Miene auf und ab, um nach Diebinnen Ausschau zu halten.

»Sieh einer an, du bist es!« sagte Mouret plötzlich, als ein Laufbursche Vallagnosc zu ihm brachte. »Nein, du störst mich durchaus nicht. Du brauchst nur mitzukommen, wenn du alles sehen willst, heute bleibe ich am Feind.«

Im Grunde allerdings war er noch immer nicht ganz beruhigt; zweifellos, die Leute kamen, aber würde der Sonderverkauf den erwarteten Triumph bringen? Er ließ sich jedoch nichts anmerken und gab sich sehr heiter, als er Paul mit sich zog.

»Die Sache scheint ja direkt in Fluß kommen zu wollen«, bemerkte Hutin zu Favier.

Aufmerksam sah er sich im ganzen Geschäft um. Plötzlich sagte er:

»Kennen Sie Frau Desforges, die Freundin vom Chef? Da, diese Brünette in der Handschuhabteilung, der Mignot gerade ein Paar anprobiert.«

Er schwieg, dann fuhr er flüsternd fort, als spreche er mit Mignot, von dem er kein Auge ließ:

»Ja, ja, so ist's recht, mein Kleiner: streichle ihr nur gut die Fingerchen; wird dir viel nützen! Man kennt ja deine Eroberungen!«

Zwischen ihm und Mignot, dem Handschuhverkäufer, bestand eine erbitterte Nebenbuhlerschaft; beide sahen sie gut aus, beide konnten sie es nicht lassen, mit den Kundinnen zu kokettieren. Übrigens konnte weder der eine noch der andere sich irgendeines bedeutenden Erfolgs rühmen; aber sie logen drauflos und wollten jedermann glauben machen, daß sie geheimnisvolle Abenteuer hätten, Rendezvous mit Gräfinnen, über den Ladentisch hinweg heimlich vereinbart.

»Sie sollten ihm die Dame abluchsen«, sagte Favier in seiner unbewegten Art.

»Das ist ein Gedanke!« rief Hutin. »Wenn sie in unsere Abteilung kommt, will ich sie abfangen; ich muß hundert Sous haben.«

In der Handschuhabteilung saß eine ganze Reihe von Damen vor den mit grünem Tuch überzogenen Tischen. Mignot hatte Frau Desforges schon zwölf Paar Ziegenlederhandschuhe verkauft, sechs Paar weiße, sechs Paar leichte »Paradies«-Handschuhe, die Spezialität des Hauses. Dann hatte sie noch drei Paar schwedische genommen; jetzt ließ sie sich sächsische Handschuhe anprobieren, nur fürchtete sie, daß die Nummer nicht ganz passe.

»Aber vorzüglich, gnädige Frau!« rief Mignot. »Sechsdreiviertel wäre zu groß für eine Hand wie die Ihre.«

Er hatte sich halb über den Tisch gelehnt, hielt ihre Hand, ergriff einen nach dem ändern ihre Finger und streifte ihr mit sanftem, gleichmäßigem Druck die Handschuhe über; dabei blickte er sie an, als erwarte er in ihren Zügen den Ausdruck eines wollüstigen Behagens zu lesen. Allein sie hielt den Arm auf den Tisch gestützt und überließ ihm ihre Finger mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie ihrer Zofe den Fuß entgegenstreckte, damit sie ihr die Stiefelchen zuknöpfe. Er war für sie kein Mann; sie sah ihn nicht einmal an.

»Ich tue Ihnen doch nicht weh, gnädige Frau?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Der Geruch der sächsischen Handschuhe, dieses Gemisch von Wildgeruch und Moschus, erregte sie gewöhnlich; sie hatte oft lachend ihre Vorliebe für dieses zweideutige Parfüm eingestanden. Doch an diesem einfachen Ladentisch roch sie die Handschuhe gar nicht, und der Angestellte, der seine Pflicht tat, ließ sie völlig kalt.

»Was befehlen Sie noch, gnädige Frau?«

»Nichts, danke. Bringen Sie alles zur Kasse zehn, für Frau Desforges.«

Wie es im Haus üblich war, gab sie an einer Kasse ihren Namen an und ließ alle Einkäufe dorthin schaffen, ohne sich von einem Verkäufer begleiten zu lassen. Als sie sich entfernt hatte, zwinkerte Mignot mit den Augen und wandte sich seinem Nachbarn zu, den er glauben machen wollte, daß sich soeben Außerordentliches zwischen ihm und dieser Kundin zugetragen habe.

»Das ist doch ein Weib, wie?« sagte er. »Von morgens bis abends möchte man ihr alles mögliche anprobieren!«

Inzwischen setzte Frau Desforges ihre Einkäufe fort, begab sich zu den Weißwaren, um dort Geschirrtücher zu kaufen, dann machte sie die Runde bis zur Wollwarenabteilung am Ende des Ganges. Da sie mit ihrer Köchin sehr zufrieden war, wollte sie ihr ein Kleid schenken. Bei den Wollwaren drängte sich die Menge, zumeist kleine Bürgersfrauen, die die Stoffe betasteten und sich in stumme Berechnungen verloren. Auf den Tischen türmten sich die Ballen, es war ein einziges Durcheinander.

Hinter einem Stoß Popeline stand Liénard und scherzte mit einem Mädchen, einer Arbeiterin aus dem Stadtviertel. Er verabscheute diese Großverkäufe, die ihn bloß todmüde machten, und drückte sich gern um die Arbeit; von seinem Vater bekam er genug Taschengeld, um sich wegen der Provision keine grauen Haare wachsen zu lassen. Er tat gerade so viel, daß er nicht vor die Türe gesetzt wurde.

»Hören Sie doch, Fräulein Fanny«, sagte er; »Sie haben es immer gar so eilig. Sind Sie mit dem Stoff zufrieden, den Sie neulich gekauft haben? Ich werde mir bei Ihnen die Provision abholen.«

Doch das Mädchen schlüpfte lachend davon, und Liénard sah sich Frau Desforges gegenüber. Höflich fragte er:

»Was darf es sein, gnädige Frau?«

Sie verlangte einen nicht zu teuren und doch guten, dauerhaften Stoff für ein Kleid. Um sich nicht mit dem Herabholen der Ballen abmühen zu müssen, redete Liénard ihr zu, eines der auf dem Tisch ausgebreiteten Muster zu wählen. Es lagen da verschiedene Arten von Kaschmir, Serge und Vigogne. Er versicherte ihr, es gebe nichts Besseres, Dauerhafteres. Allein keiner dieser Stoffe schien Frau Desforges zu befriedigen. Sie hatte in einem der Fächer einen bläulichen Escot bemerkt, den sie sehen wollte. Er mußte sich wohl oder übel bequemen, ihn herunterzuholen. Sie fand jedoch den Stoff zu grob. Nun ließ sie sich rein zum Vergnügen alle möglichen Gattungen von Wollstoffen vorlegen, obgleich es ihr nicht darauf angekommen wäre, den ersten besten zu wählen. Der junge Mann mußte bis zu den obersten Fächern hinaufsteigen und Ballen herbeischleppen, daß ihm die Arme weh taten. Der Tisch war im Nu mit Stoffen in allen Geweben und allen Farben überladen. Ohne daß sie nur im geringsten beabsichtigte, etwas davon zu kaufen, ließ Frau Desforges sich auch noch Grenadine und Chambéry-Gaze zeigen. Als sie dann genug hatte, meinte sie:

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?