Buch lesen: «Crash Island»

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Ina Vultchanova

CRASH ISLAND

Roman

Aus dem Bulgarischen

von Elvira Bormann-Nassonowa

1. Auflage 2020

© eta Verlag

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Titel der Originalausgabe „Остров Крах“

Korporacija Razvitie, Sofia, Bulgarien 2016

Übersetzung: Elvira Bormann-Nassonowa

Lektorat: Marie-Luise Alpermann

Gestaltung & Satz: Stefan Müssigbrodt

Titel-Illustration: Eugene Ga / Shutterstock

ISBN 978-3-9820030-9-2



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Ina Vultchanova |

Crash Island

Für Kapka

Erster Teil

Ich glaube, sie sollte sich die Haare kurz schneiden lassen. Vor vier Jahren, als sie kurze Haare hatte, sah sie nicht einfach nur zehn Jahre jünger aus. Überhaupt regt es mich auf, wenn man „zehn Jahre jünger“ sagt. Zehn Jahre jünger als was? Aber die Hauptsache war, dass sie nicht jünger aussah, sondern ihr wahres Gesicht gefunden hatte. Ich meine das, was Friseure – oder eher Filmregisseure – eigentlich tun sollten: das richtige Gesicht finden.

Für mich hatte sie schon immer Ähnlichkeit mit einer Gräfin. Wenn sie ihr Haar straff nach hinten kämmt und es dicht am Kopf zusammenbindet, richten sich auch ihre Schultern auf, sie schaut dann anders, geht anders und sieht wirklich wie eine Gräfin aus. Meistens ist ihr Haar jedoch zerzaust, sie kneift die Augen zusammen und blinzelt unter dem Pony. Und sie merkt gar nicht, dass sich ihre Nase kräuselt. Denn sie ist stets überzeugt, gut auszusehen.

Damals hatte ich ihr gesagt, das kurze Haar stehe ihr sehr gut, sie solle es immer so tragen. Sie entgegnete, es sei zu damenhaft und sehe aus wie eine „Frisur“. Keine zwei Wochen später hatte sie es wieder mit diesem scheußlichen orangen Gummi hinten zusammengebunden. Die meisten Frauen genieren sich einfach, wenn sie gut aussehen. Oder sie fürchten vielleicht, lächerlich zu wirken. Diese Angst kenne ich, ich habe sie viele Male empfunden, bevor ich mein jetziges Gleichgewicht erlangt habe. Die Leute können echt fies grinsen, sodass es dir wirklich so vorkommt, als wäre alles zu Ende. Vor allem, wenn du ganz sicher erkennst, dass es dir nicht nur so vorgekommen ist. Es ist dir überhaupt nicht bloß so vorgekommen, sie feixen dir direkt ins Gesicht.

Wie lächerlich das jetzt ist, da ich nun weiß, was ich wert bin. Und was DIE wert sind.

Selbstverständlich ist sie unglücklich und tut so, als sei sie es nicht. Wie alle. Ständig ist sie ausgesprochen fröhlich. Sie lächelt sogar, wenn sie allein den Korridor entlanggeht. Statt „Guten Tag“ zu sagen, lächelt sie noch breiter. Ein tolles Lächeln. Es zerreißt einem regelrecht das Herz vor Kummer.

Doch sie macht niemals Komplimente. Nie sagt sie dir etwas Nettes. Sie reißt ihre gutgläubigen Augen auf und erzählt dir sofort die jüngste witzige Geschichte, die ihr passiert ist. Zum Beispiel – man habe ihr den Strom abgestellt, weil sie vergessen hatte, die Rechnung zu bezahlen, die Katze habe die Kerze umgeworfen und ihr Mann sei auf die Barrikaden gegangen und habe sich geweigert, auswärts Hackfleischröllchen zu essen. Sehr witzig.

Ich fühle mich nicht überlegen, eher empfinde ich Mitleid. Ich glaube, ich habe eine Stufe erreicht, auf der ich anfangen sollte, anderen zu helfen. Deshalb versuche ich jetzt, sie zu verstehen. Ich versuche mir vorzustellen, wie man vergessen kann, seine Stromrechnung zu bezahlen. Das fällt mir wirklich schwer.

Nun isst sie Torte. Im Buffet gibt es eine Torte, die ganz aus schwerer Schoko-Butter-Creme besteht. Ein einziges Stück davon genügt, um dir sämtliche Arterien auf immer zu verstopfen. Sie holt sich fast jeden Tag eines. Jetzt schaut sie zu mir, leckt den Löffel ab und lächelt. Mir ist schon lange klar, dass Menschen so etwas tun, weil sie sich unbewusst für etwas bestrafen wollen. Nur ich allein weiß, was es mich gekostet hat, aus diesem Kreis herauszukommen.

Ich war ein dickes Kind – das war furchtbar, aber noch schlimmer war, dass ich auch in der Pubertät dick blieb. Heute weiß ich natürlich, dass ich selbst schuld daran war, doch damals habe ich das noch nicht gewusst. Damals konnte ich noch nicht begreifen, wieso es so ungerecht zuging, ich verstand nicht, weshalb nur ich dick war, und ich hatte Angst.

Es gelingt mir, mit einer Art Lächeln zu antworten, doch ich bin nicht wirklich gut darin, für Falschheiten bin ich nicht wirklich geeignet, deshalb blicke ich hinunter auf meinen Tee. Er ist in einer Porzellantasse, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Das ist so leicht, aber die Wenigsten tun es. Den Leuten ist es egal. Sie halten ihre heißen, weich gewordenen Plastikbecher mit zwei Fingern und die Plastiklöffel drücken gegen ihre Wangen. Im Fernsehen läuft ein Fußballspiel, ein paar Männer starren auf den Bildschirm. Und natürlich trinken sie. Warmes Bier und warmen Wodka aus Plastikbechern.

Ich schaue auf meinen Ring – der ist perfekt. Endlich etwas, das nicht aus Plastik ist.

Nun will ich erzählen, was ich mit der Wohnung gemacht habe.

Meine Wohnung befindet sich in der Pirotska-Straße, aber weiter oben, nach den Geschäften. Die Wohnung ist sehr klein, zwei Zimmer, nur wenige Quadratmeter, im vierten Stock. Sie ist dunkel, hat nur einen winzigen Balkon an der Küche, der gerade mal ausreicht, um die Kartoffeln zu lagern. Jetzt sind dort natürlich keine Kartoffeln mehr, sondern Blumen. Hortensien. Die Toilette ist so klein, dass man kaum die Tür schließen kann, wenn man sie betritt. Im Bad war früher eine Sitzwanne mit grau gewordenen, ehemals weißen Kacheln. Ein kleines, zweigeteiltes Wohnzimmer mit einer Glastür, wobei nur eine Seite ein Fenster hat. Dort habe ich als Kind geschlafen. Es war ein langes, schmales Schlafzimmer, in das eigentlich kein Doppelbett passte, doch meine Mutter schaffte es eines Tages, ein Doppelbett hineinzupferchen, woraufhin sich der Kleiderschrank nur noch bis zur Hälfte öffnen ließ. Das Treppenhaus war schmal, gewunden und stets voller Katzenpisse. Als meine Mutter und mein Vater starben – beide im selben Jahr –, hatte ich jede Nacht Albträume, in denen die Gefahr immer vom Treppenhaus ausging. Damals hatte ich noch nichts von Feng-Shui gehört, aber unbewusst war mir klar – das Treppenhaus! Das Treppenhaus war so schlecht ausgerichtet, dass auch Spiegel nichts mehr helfen konnten. Ich musste die Tür zumauern und auf der anderen Seite die Mauer durchbrechen, um den Eingang dorthin zu verlegen.

In dieser Wohnung war einfach nichts so, wie es sein sollte. Hätte ich Geld gehabt, ich hätte sie einfach verkauft und mir eine andere gesucht. Aber so viel Geld hatte ich nicht. Sukzessive, nach und nach, bekam ich das Geld für die Renovierung zusammen. Ich esse nicht mehr viel. Ich stricke und nähe – einen Großteil meiner Kleidung mache ich mir selbst. Bis auf die Hüte. Hüte kann ich nicht selbst machen und muss sie kaufen. Aber sonst – alles. Letztes Jahr habe ich mir sogar einen Mantel genäht.

Es hat sich hingezogen. Doch in den Monaten, in denen mein Geld höchstens für ein chinesisches Teeservice oder einen indischen Vorhang reichte, kaufte ich Bücher und las. Feng-Shui, Yoga, Meditation, Bücher zur Selbsthilfe. Jeden Tag machte ich einen kleinen Schritt. Auch der längste Weg beginnt mit einem ersten Schritt, nicht wahr.

Bei mir war der erste Schritt der größte. Ich entrümpelte. Ich hatte das Gefühl, dass die Müllabfuhr einige Monate nur für mich unterwegs war. Unser Müllcontainer an der Ecke genügte mir längst nicht – jeden Tag füllte ich noch zwei weitere.

Ich entrümpelte.

Mein Kinderspielzeug, die Kleidung meiner Eltern, ihre Abiturzeugnisse und Hochzeitsfotos. Ich warf ihre gesamte Bettwäsche weg, die verschlissenen, rauen Wolldecken, die zerbeulten Töpfe, die dicken, groben Teller, die angeschlagenen Tassen, das Mehlsieb und die Kuchenförmchen, die Große Sowjetische Enzyklopädie, die Jacquard-Teppiche und das Linoleum aus der Küche. Am schwierigsten wurde es, als ich anfing, die Möbel rauszuwerfen. Träger, die sie über das schmale Treppenhaus zum Müllcontainer hätten bugsieren können, konnte ich mir nicht leisten. Ich kaufte eine Axt und zerhackte sie, was ganz schön schwer war. Damals war ich körperlich noch nicht so fit. Manchmal kämpfte ich die ganze Nacht mit einem einzigen Stück. Die Nachbarn schauten mir zu, wenn ich die kaputten Holzteile die Treppe hinuntertrug. Auch die Schaummatratzen musste ich zerschneiden und in Müllsäcken hinausbringen. Am schwersten war es mit der Federkernmatratze – ich hackte und schnitt sie klein. Eine ganze Woche hatte ich damit zu tun. Dann blieben noch der Herd und der Kühlschrank. Und die halbautomatische Waschmaschine. Und der Fernseher. Deren Anblick musste ich noch weitere zwei Monate ertragen. Immer wieder schaltete ich Zeitungsanzeigen. Einmal kam eine Frau, sah sie sich an, sagte nichts und ging wieder. Schließlich heuerte ich ein paar Roma vom sogenannten Salzmarkt an. Danach musste ich zwei Wochen lang von Joghurt leben.

Ich behielt nicht ein einziges Teil von dem Gerümpel. Ich kaufte mir ein Stück Schaumgummi und schlief sieben Monate auf dem Boden, bis ich das Geld zusammen hatte, die Wände einreißen zu lassen. Ich hatte schon alles konzipiert – direkt auf dem Fußboden –, sämtliche zehn Quadratmeter. Schon lange wusste ich, wie ich die Beziehungsecke verstärken, das Gleichgewicht wiederherstellen und das Yang fördern würde.

Denn das Gleichgewicht in diesem Haus war gestört. Aber wenn der Mensch weiß, was er will, kann er alles.

Heute ist der letzte Freitag des Monats und ich werde sie anrufen. Ich rufe sie immer am letzten Freitag an. Ich sage nichts, rufe nur an. Doch stets um dieselbe Zeit – um neun Uhr abends.

Manchmal ist niemand da. Manchmal nimmt ihr Mann oder ihr Sohn ab. Das spielt keine Rolle. Immer ist es ein Freitag und immer um neun. Ich denke, das hat sie sich jetzt gemerkt.

Ich habe meinen Urlaubsantrag eingereicht und einen Reisepass beantragt. Wie üblich fiel mir erst vier Tage vor der Abreise – als ich die Fahrkarte schon gekauft hatte – ein nachzuschauen, ob mein Pass nicht vielleicht abgelaufen sei. Natürlich war er abgelaufen. Sogar schon letztes Jahr. Nachweislich war ich in den letzten fünf Jahren nur vier Mal verreist, nun musste ich 63 Lewa bezahlen, um innerhalb von drei Tagen einen neuen Pass ausgestellt zu bekommen. Warum passiert so etwas immer nur mir?

Auch diesmal war es nicht mit nur einem Gang getan, obwohl ich mir wirklich Mühe gab. Ich hatte im Bürgeramt angerufen. Als endlich jemand ans Telefon ging, fragte ich, was ich mitbringen müsse – nur den Personalausweis und den alten Pass. Und 63 Lewa. Gut. Als ich hinkam, stand an der Tür: Personalausweis, alter Pass und ein aktuelles, höchstens sechs Monate altes Passfoto.

Na gut. Teils gut, teils schlecht. Es klappte also nicht im ersten Anlauf. Andererseits wollte ich sowieso schon lange ein anderes Passbild machen lassen, weil ich an jeder Grenze entsetzt angeschaut werde und Schwierigkeiten bekomme. An der serbischen Grenze wurde ich einmal mitsamt Gepäck aus dem Zug geholt, mein Pass wurde irgendwohin gebracht. Ich fragte, was passieren würde, wenn der Zug abfährt, worauf sie sagten, dass ihnen das egal sei. Der Zug hatte fünfundzwanzig Minuten Aufenthalt, ich bekam meinen Pass in der vierundzwanzigsten zurück. Denn ich habe keine Hakennase. Mit Sicherheit habe ich keine Hakennase, doch die Ausleuchtung auf dem Foto war so, dass ich aussehe wie eine durchgeprügelte Bosnierin auf der Flucht, noch dazu mit Hakennase.

Deshalb freute ich mich zunächst. Ich ging in den nächstbesten Fotoladen und sagte, dass ich Passbilder haben wolle. Sie sagten mir, ich solle mich fertigmachen, und sperrten mich in ein kleines Zimmer ohne Lüftung, mit einem Spiegel und zwei eingeschalteten Scheinwerfern. Wir schrieben immerhin den 28. Juli und die Temperatur betrug 36 °C. Ich wartete etwa zehn Minuten und sah dann in den Spiegel. Mein Gesicht war vollkommen nass, der Schweiß lief mir in die Augen. Bekanntlich reizt Schweiß die Augen und lässt sie rot werden. Deshalb verließ ich das Zimmer und ging Bescheid sagen, dass ich nun fertig sei. Die freundliche junge Frau war jedoch gerade dabei, irgendwelche Rahmen zu verkaufen. Da kam die mürrische junge Frau, sagte: „Kein Problem, ich mache die Fotos“ und schob mich wieder in den Gaswagen. Sie fragte, ob ich fertig sei, und ich war so dumm zu antworten, dass ich mir gern mit irgendetwas das Gesicht abwischen würde, denn dieser ganze Schweiß glänzte gewiss. Unwillig warf sie mir ein gut verschlossenes Päckchen zu, an welchem ich von allen Seiten zu ziehen begann; meine Hände waren jedoch schweißig und ich bekam es beim besten Willen nicht auf. Wie sich herausstellte, handelte es sich um „Feuchttücher“ und in diesem Staat weiß scheinbar jeder, wie sie zu öffnen sind. Außer mir. Im Prinzip war das auch egal, denn mein Gesicht war ohnehin total feucht, noch feuchter hätte es nicht werden können, deshalb setzte ich mich auf den Stuhl und blickte finster ins Objektiv. Die mürrische junge Frau sagte, ich solle den Kopf etwas neigen und das Kinn heben. Ich versuchte, beide Aktionen gleichzeitig durchzuführen. Ich gab mir echt Mühe, was auf dem Foto durchaus zu sehen ist, weil am Hals zwei Sehnen wie dicke Seile hervortreten.

(Das Telefon klingelt wie verrückt. Ich gehe einfach nicht ran, denn ich wische gerade den Fußboden, was ich für spätestens halb vier am Nachmittag eingeplant hatte.)

Die Frau knipste und knipste einfach nicht, schon wieder verlangte sie, ich solle den Kopf etwas neigen und das Kinn anheben. Schließlich fragte sie: „Soll ich das Foto so machen?“ Ich antwortete: „Egal, ich heule sowieso schon.“ Dann drückte sie endlich auf den Auslöser, sagte, ich solle mir das Foto auf dem Bildschirm ansehen und ihr sagen, ob es mir tatsächlich gefalle; ohne hinzuschauen sagte ich, dass es mir gefalle.

Erst auf der Straße sah ich es mir an. Es war schlimmer als das frühere, aber das liegt womöglich daran, dass ich älter geworden bin.

Die Abreise aus Sofia war schrecklich. Ich hatte Mischo dann doch gebeten, mich zum Busbahnhof zu fahren, obwohl ich wusste, dass er sauer war. Er war in bester saurer Verfassung. Die ganze Zeit war er am Meckern – gleich geraten wir in einen Stau, gleich wird der Ventilator seinen Geist aufgeben und der Motor wird sich überhitzen, wir werden ohnehin zu spät kommen, weil es absolut nicht ausreicht, eine Stunde vorher da zu sein. Eine Stunde vorher sei viel zu spät. Dabei dachte ich, dass es auch genügen würde, zehn Minuten vorher da zu sein, denn schließlich ist das kein Flugzeug, sondern ein Bus nach Zagreb. Ich werde ohne alle Zoll- oder Passkontrollen einreisen können, muss lediglich meine Reisetasche zum Gepäckraum des Busses schleppen. Doch genau das erwies sich als kritisch.

Wir kamen eine Stunde vor Abfahrt an und waren in keinen einzigen Stau geraten – man hätte sich schon große Mühe geben müssen, um am Sonntagnachmittag um drei in einen Stau zu geraten. Dann musste ich herausfinden, in welcher Baracke sich das Büro der Firma befand, bei der ich die Fahrkarte gekauft hatte, dort würde man mir sagen, wo der Bus stand. Mischo wollte im Auto auf mich warten. Den Parkplatz fanden wir sofort, obwohl er sich die ganze Zeit Gedanken gemacht hatte, ob es dort wohl einen Parkplatz gäbe. Es gab einen. Aber der Onkel vom Parkplatz meinte, dass er doch lieber gleich hier auf der Straße parken könne, statt zwei Lewa Gebühren zu zahlen. Also parkte er gleich da. Ich stürzte los, um das Büro zu suchen, verlief mich natürlich zwischen den Baracken und wusste überhaupt nicht mehr, wie die verdammte Firma hieß, denn die heißen doch alle gleich und immer fängt der Name mit „I“ an und ist ganz kurz. Ich ging in die Baracken von „Ina“, „Iva“, „Ivette“, „Irene“, „Ivy“ und „Inko“, erkundigte mich überall, doch schlussendlich stellte sich heraus, dass ich zur Firma „Elen“ musste, dort nämlich hatte ich meine Fahrkarte gekauft. Der Name fing gar nicht mit „I“ an, oder jedenfalls fast nicht. All das absolvierte ich im Schnelldurchlauf, wie in einem Charly-Chaplin-Film. Genau zehn Minuten später rannte ich außer Atem auf das Auto zu und wusste bereits, welcher mein Bus war und wo er stand. Jetzt muss ich aber noch meine Reisetasche hintragen. Und die ist ziemlich schwer, weil ich die Absicht habe, eineinhalb Monate wegzubleiben. Deshalb ist Mischo sauer, und ich weiß, dass er recht hat. Außerdem sind Bücher in der Reisetasche sowie Zigaretten für eineinhalb Monate, pro Tag eine Schachtel. Ich habe auch verschiedene Cremes und Reinigungsmilch eingepackt, damit ich sie dort nicht kaufen muss. Dann noch geschlossene Schuhe für Regen, Sandalen, Sportschuhe und Badeschlappen. Zwei Handtücher und einen Anorak, und einen dicken Pullover, für alle Fälle. Hosen für den Strand und für kalte Tage, Strandkleider, sogar eine Haartönung, denn in eineinhalb Monaten könnte ich so etwas vielleicht gebrauchen. Außerdem sind drei Mappen mit CDs drin und überhaupt ist die Tasche schrecklich schwer. Deshalb bat ich Mischo, mir zu helfen. Eigentlich liegt es eher in meiner Natur, sie mir selbst über die Schulter zu werfen und loszurennen, denn dies scheint mir der leichteste Weg zu sein. Diesmal aber bat ich ihn, mir zu helfen. Wir fassten jeder auf einer Seite an und trugen sie zum Bus, der auf dem Busparkplatz stand, fünfzig Meter entfernt. Meiner Meinung nach dauerte das dreißig Sekunden, aber das war Zeit genug: Als wir die Reisetasche auf den Boden stellten und hochblickten, sah ich den Abschleppdienst. Der Kran hatte das Auto bereits am Haken und war eben dabei, es anzuheben. Wir ließen die Reisetasche auf den Asphalt fallen und stürzten wie die Wahnsinnigen hin. Der Parkplatzwächter war natürlich verschwunden. Ich vermute, er selbst hat sie per Handy gerufen, kaum dass Mischo ausgestiegen war.

Die Leute vom Abschleppdienst waren von der verständigen Sorte – sie machten das Auto los und ließen sich von uns nur 30 Lewa geben, ohne Rechnung. Das handelte Mischo aus, nachdem er sich lang und breit entschuldigt hatte. Aber er sah überhaupt nicht zufrieden aus und fuhr sofort los. So verabschiedeten wir uns für eineinhalb Monate, ohne Kuss.

Jeden Morgen stehe ich um sechs Uhr auf, ziehe die Laufkleidung an und gehe zum Jogging-Platz. Der nächstgelegene passende Ort ist für mich der Westpark. Eine abscheuliche Gegend, aber wenn man die Welt um sich herum unter Kontrolle hat, schafft man es, nur die Dinge zu sehen, die man sehen will, und das, was man nicht sehen will, nicht zu sehen.

Meine Joggingausrüstung ist wirklich hübsch – keine Markenkleidung, doch die Farben sind mit Liebe gewählt und selbst das Stirnband hat genau die Farbe der Sportschuhe. Sobald ich im Park bin, beginne ich zu laufen, und zwar exakt dreißig Minuten auf der Strecke, die ich zuvor geplant habe. Manchmal bin ich schon in sechsundzwanzig Minuten durch, doch normalerweise bemühe ich mich, das Tempo nicht zu erhöhen. Das Tempo muss immer gleich bleiben, außerdem ist dreißig eine gute Zahl. Nach genau dreißig Minuten verlasse ich den Park und mache mich auf den Heimweg. In meiner wunderschönen Joggingausrüstung gehe ich zwischen grauen, unansehnlichen Menschen, die bereits auf dem Weg zur Arbeit sind. Sie sehen mich nicht besonders freundlich an, denn gerade in diesem Stadtteil sind sie es nicht gewöhnt, Joggingkleidung zu sehen. Aber ich bin noch schlimmer – ich würdige sie gar keines Blickes. Ich sehe zu, dass ich sie nicht sehe.

Nachdem ich die Stufen voller Katzenpisse hinaufgestiegen bin – das Treppenhaus ist noch immer so vollgepinkelt und ich habe bisher keine Idee, wie ich das ändern könnte – schließe ich die Tür auf und bin BEI MIR.

BEI MIR ist es anders.

Auf das elende Bad habe ich völlig verzichtet, die Wanne steht jetzt im großen Wohnraum. Sie ist sehr schön und teuer. Ich drehe den Wasserhahn auf und stelle den Teekessel auf den Herd. Am Morgen trinke ich stets eine Tasse heißes Wasser, bevor ich frühstücke. Das reinigt mich von innen. Genau dann, wenn das Wasser zu kochen beginnt, ist auch die Wanne vollgelaufen. Ich gieße mir eine Tasse ein und lege mich in die warme Wanne. Seife oder Duschgel benutze ich nie – nur warmes Wasser von innen und außen. Es tut gut, den Tag so zu beginnen. Ich blicke nach oben, wo über meinem Kopf ein farbiges Glasmosaik angebracht ist. Gern würde ich in den Himmel schauen, doch das geht nicht, weil über mir noch zwei Stockwerke sind. Ich greife nach der Fernbedienung auf dem Fußboden und stelle Elvis an. Natürlich keine Rocksongs, nur die wirklich guten Sachen. Seine sanften Lieder höre ich gern, wenn ich in der sanften Wanne liege. Das warme Wasser trinke ich in kleinen Schlucken, so, wie es der Naturheiler Dimkov empfiehlt. Wenn ich ausgetrunken habe, beginnt genau das Badewasser abzukühlen, denn die gesamte Zeit ist exakt berechnet. Dann steige ich aus der Wanne und schlüpfe in den zyklamroten Bademantel.

Das Frühstück muss ich mir nicht erst zubereiten, denn es ist schon lange fertig. Nie kaufe ich fertige Haferflocken, die wie Popcorn aus Schaumgummi sind. Ich weiche Getreide ein. Ich kaufe ein Kilo Getreide und weiche es ein, sodass ich eine Woche lang davon essen kann. Ich lasse es keimen, und jeden Tag ist die Keimung ein wenig weiter vorangeschritten. Diesem Wochenrhythmus muss ich einmal nachgehen, mir scheint, er birgt etwas, das ich noch erkennen muss. Vielleicht sind die Tage, an denen die Sprossen am längsten sind, die wichtigsten. Oder es ist umgekehrt – wichtig sind die Tage, an denen der Prozess gerade erst beginnt. Es gibt noch so vieles, das ich nicht weiß.

Heute ist Sonntag und das Getreide ist ganz am Anfang des Zyklus. Ich frühstücke langsam, esse nie in Eile. Ich habe Zeit.

Wenn ich fertig bin, kommt der wichtigste Moment – der des Einreibens. Bodylotion ist zu teuer, es gibt sowieso keine gute. Ich verwende Olivenöl, dem ich jedoch eine selbst gemachte Kräutermischung beifüge. Ich versuche gar nicht, nach Nivea zu riechen, meine Duftkombination ist wirklich seltsam, das kommt daher, dass ich sie nicht mit der Nase, sondern mit dem Verstand auswähle. Ich will wissen, was ich auf mir verreibe. Ich habe eine genaue Vorstellung von jedem Detail und was es bedeutet.

Nun brauche ich noch dreißig Minuten zum Trocknen, denn Olivenöl zieht nicht so schnell ein. Zehn Minuten mache ich Atemübungen und danach meditiere ich zwanzig Minuten. Dabei verwende ich den Satz „Ich kontrolliere diese Welt und ich habe sie erschaffen.“