Travestie der Liebe

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Aus der Reihe: Wiener Literaturen
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VOR DEM KINO

Ich sah die beiden in der Straßenbahn.

Er – scharfgeschnittenes, junges Technikergesicht – fein angezogen. Spitze Lackschuhe. Rock – Hut – tadellos. Hellgelbe Wildlederhandschuhe. Seidenes Taschentuch. Sie – hasenverbrämtes graues, billiges Mäntelchen, konfektioniert – schlecht passend, Samthütchen neuester Mode. Ungeschminkte Lippen, ungepuderte Wangen, ungefärbtes Haar. Im blassen Gesicht dunkle, glückliche Augen.

Im geschützten Winkel des halbleeren Wagens finden sie zwei Plätze. Schüchtern schlägt sie ein Bein über das andere, deckt gleich das Kleid darüber. Und sieht ihn von der Seite an. Sie setzen ein Gespräch fort.

»– – Ich hasse es, dutzendmäßig behandelt zu werden. Mir einreden zu wollen, eine solche Handtasche wäre schön. Phrasen zu gebrauchen wie: Das ist sehr beliebt – wir haben schon viele Hunderte verkauft.«

»Ärgere dich deswegen nicht.«

»Einfach eine Gemeinheit, einem das zu erzählen – faustdicke Lügen.«

»Das macht ja nichts.«

»Wieso? Tut es dir nicht leid, daß ich dir die Tasche nicht gekauft habe?«

»Nicht ein bißchen.«

»Du siehst also ein, daß sie nicht schön war.«

»Ich sehe es ein.«

»Und daß sie nichts Ordentliches dort hatten.«

»Ja – gewiß –«


»In welches Kino wollen wir gehen?«

»In irgendeines, wo es dir gefällt.«

»Und nachher kommst du wieder zu mir?«

»Wenn du es willst – –«

»Nur so auf Besuch – nichts anderes.«

Sie schwieg.

»Mir kommt vor, du gingst nicht mehr so gern zu mir – –«

»Aber – –«

»Vielleicht irr’ ich mich.«

»Vielleicht irrst du dich.«

»Und du siehst mich dann wieder so fragend an.«

? – – –

»Jetzt wieder.«

»Macht es dich nervös?«

»Nicht gerade nervös – aber ich vertrag’ es nicht.«

»Du verträgst es nicht?«

»Nein, das vertrag’ ich nicht, so fragend angesehen zu werden, oder tut es dir vielleicht leid?«

Sie schüttelt zaghaft den Kopf.

»Das wollt’ ich eben wissen – denn weißt du – es wäre mir unangenehm – das Bewußtsein, daß du ein Opfer bringst.«

»Opfer? – nein – aber –«

»Aber?«

»Du mußt wissen, was ich meine. Sagen kann ich das nicht.«

»Du verlangst doch nicht, daß ich dir ewige Liebe schwöre?«

Schweigen.

»Ich hoffe, du bist nicht so altmodisch. Ich hab’ dich gern; du gefällst mir; das muß dir genügen.«

»Und die Zukunft?«

»Was für eine Zukunft? Was für lächerliche Grillen? Wir sind beide jung genug –«

»Sag’, was ist dein Vater?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Ich möcht’ es wissen.«

»Direktor einer Aktiengesellschaft.«

»Was für Branche?«

»Kohle.«

»Ihr habt eine Villa?«

»Eine Sommervilla auf dem Lande.«

»Und deine beiden Schwestern wohnen ebenfalls im Sommer mit ihren Familien in Villen?«

»Hab’ ich es dir erzählt, wird es wohl so sein.«

»Und du wirst wahrscheinlich auch eine heiraten, deren Eltern eine Villa haben.«

»Ich denk’ noch nicht ans Heiraten.«

»Da muß ich dir auch sagen, wie es mit meinen Familienverhältnissen steht. Mein Vater ist Briefträger.«

Schweigen.

»Wir wohnen in der Vorstadt.«

»Ich weiß. Hab’ dich ja nach Hause begleitet. Was macht es mir, da du mir gefällst –«

»Und ich habe zwei Schwestern. Die eine ist Stickerin, die andere Näherin. Der Bruder ist Schlosserlehrling.«

»Ich kenne nur dich –«

»Ja, aber, ich muß an die Zukunft denken. Wir alle müssen arbeiten, uns gesund erhalten an Leib und Seele.«

»Mache ich dich krank?«

»Vielleicht.«

Er lacht.

»Ich versichere dir, daß du von mir nicht krank wirst. Bin vorsichtig. Lebe sehr hygienisch. Hätte dich auch vor acht Tagen im Kino nicht angesprochen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß du ein anständiges Mädchen – – kann mich auf meinen Spürsinn verlassen.«

»Das meinte ich nicht.«

»Brauchst nicht rot zu werden. Kommt alles vor.«

»Ich meinte, ich könnte seelisch erkranken; es könnte mir ergehen wie meiner Freundin, die sich aus dem Fenster stürzte.«

»Weshalb?«

»Aus unglücklicher Liebe.«

»Ach so.«

»Ja, das meine ich.«

»Wieso?«

»Weil wir doch ein so ungleiches Paar sind.«

»Versteh’ ich nicht – wir beide sind jung, haben einander gern – ist das nicht genug?«

»Nein –«

»Weiß nicht, was du eigentlich willst? Ich hole dich täglich vom Geschäft ab; wir gehen ins Café, ins Kino, du kommst ein wenig zu mir – dann begleite ich dich vor zehn Uhr nach Hause – geschieht nicht alles, was du willst?«

»Was du willst.«

»Was wir beide wollen. Ich frage dich nochmals: Tut es dir leid? – Wenn es dir leid tut, dann – –«

Sie wird plötzlich todbleich – Lippen fahl, Augen wie gebrochen.

»Siehst du, daß du nicht mehr von mir los kannst. Erspar’ es künftig mir und dir, solche Gespräche über die Zukunft – – wo doch die Gegenwart für uns schön ist.«

»Nein.«

»Ist unsere Liebe nicht schön?«

»Für mich nicht. Da sie mir keinen Frieden und kein Glück gibt Ich bin viel zu unruhig, habe zu viel Angst – und weiß niemals, ob ich dich morgen wiedersehe.«

»Wenn ich dir verspreche, daß ich morgen wiederkomme, kannst du mir es glauben.«

»Aber eines Tages wirst du es nicht mehr versprechen.«

»Wie kann ich wissen, was eines Tages sein wird? Ich sagte dir bereits, ich kann nicht ewige Liebe schwören. Wenn du das von mir verlangst, ist es besser, du entscheidest dich …«

Die Straßenbahn hält vor dem Kino. Die beiden steigen aus. Der Mann voran schreitet zur Kasse. Das Mädchen stand einen Augenblick im Lichtschein der Reklamen – von grünen, gelben, roten Strahlen übergossen – unbeweglich, starr, mit halbgeschlossenen Augen wie eine Hypnotisierte.

Der Wagen fuhr weiter. Das Paar entschwand meinem Blick.

FANNY

Fannys Mutter war Handarbeiterin. Seit Fanny sich erinnern konnte, hatte die Mutter an feinen Brautausstattungen gearbeitet Einen Vater kannte Fanny nicht. Sie war die älteste von vier Geschwistern.

Die Leute sagten von Fannys Mutter: Man weiß nicht, wie es zugeht bei dieser stillen Frau; sie ist so brav und rechtschaffen, und von einem liederlichen Lebenswandel könnte selbst ihr ärgster Feind nichts merken – und doch haben sich im Laufe einiger Jahre vier Kinder angesammelt, und einen Vater sah man nie …

Der Bahnadjunkt, ein besserer Mensch, bemerkte einmal: Ist sie nicht wie eine brave, gute Henne, die still und vernünftig dahinlebt, niemand etwas zuleide tut … Keiner hat etwas bemerkt, und eines Tages hat sie liebe, kleine Hühnchen um sich.

Fannys Mutter war eine ehrliche Frau. Ihre vier Kinder erhielt sie durch ihrer Hände Arbeit. Die Kinder gediehen gut. Zwei erlernten schon ein Gewerbe. Der Fünfzehnjährige wurde Mechaniker; die siebzehnjährige Fanny, die manches von der Mutter geerbt zu haben schien, wurde Stickerin. Schon als neunjähriges Kind hatte sie der Mutter geholfen, wenn diese »Postarbeit« gehabt. Nun war es selbstverständlich, daß sie Stikkerin wurde. Was sollte man ein Mädchen lernen lassen?, hatte sich die Mutter seufzend gefragt. Es gab überall so viel Gefahren.

Die Berufe Kindermädchen, Kellnerin waren vielleicht noch das Schlimmste. Sollte eine Mutter siebzehn Jahre lang Tag und Nacht bis zum Umsinken und halbblind sich gearbeitet haben, um am Ende ihr Kind irgendwo schutzlos hinauszustellen, wo jeder angetrunkene Bürger sie in den Arm kneifen konnte. Auch Maschinenstickerin, Buchbinderin waren keine guten Aussichten.

Und auf Ladenmädchen, Verkäuferin legte die Mutter nicht viel Wert; das waren unsichere Beschäftigungen. Vornehm hingegen war der Beruf einer Gobelinstickerin – dazu eignete sich Fanny am besten.

Und jetzt war sie schon das dritte Jahr dabei und freigesprochen.

In der Werkstätte waren außer Fanny noch vierzehn Arbeiterinnen beschäftigt.

Manchmal versuchten es einige der Mädchen, schüchtern zu singen. Aber sie fanden bald, daß das nicht ging. Sie stickten nach riesigen Gobelinvorlagen und mußten zählen – einen Irrtum hatten sie schwer zu büßen. Darum war auch meist eine große Stille im Raum.

Sie konnten auch während der Arbeit nicht ihren Träumen nachhängen. Diese stecknadelkopfkleinen Querstiche nahmen ihre ganze ungeteilte Aufmerksamkeit für sich in Anspruch.

Sie arbeiteten neun Stunden im Tag. Dann waren ihre Augen wie blind. Wenn sie in das helle Licht sehen sollten, schmerzte es. Alle Mädchen litten an den Augen. Alle hatten geschwächte Sehnerven.

»Wenn Sie vierzig Jahre alt sein werden, wird Ihre Sehkraft vollständig geschwunden sein«, sagte der Arzt zur ältesten Arbeiterin, die jetzt fünfunddreißig war.

Die Mädchen dachten nicht daran, aufzuhören und eine andere Arbeit zu suchen. Es war eben ihr Schicksal, daß sie an Augenschwäche litten.

Fanny erzählte zu Hause ihrer Mutter: »Wir haben einen großen Auftrag bekommen: ein Engländer, der eine Amerikanerin geheiratet hat, läßt sein Schloß mit Gobelins schmücken.«

Und die Mutter nickte stolz und zufrieden über ihr Kind, dessen Handarbeit sogar bis nach England ging …

 

An einem Sonntagnachmittag wurde Fanny von einer Freundin abgeholt.

Der Mutter wurde gesagt: Spaziergang – und vielleicht ein wenig zuschauen in einer Tanzschule.

»Sei mir nur pünktlich vor zehn Uhr wieder zu Hause«, rief die Mutter ihr nach.

Auf dem Wege kicherten die beiden. Sie beeilten sich, sie liefen fast. Ja, es war höchste Zeit, daß das Leben begann. Siebzehn Jahre waren bereits vorbei.

HERR JANEK

Juliane sagte zu mir: »Ich seh’ es dir an, du hast ein Geheimnis.«

»Kannst du es mir ansehen?«

»Mit Leichtigkeit. Du lächelst ja immer, und manchmal hast du Tränen. Gewiß hast du einen Geliebten. Ist es der Pole? Herr Janek?«

»Noch nicht.«

»So so, also doch!«

»Laßt mich in Ruh’! Ich weiß nichts.«


Sonntagnachmittag gingen wir alle miteinander zum Tanz. »Herr Janek sitzt wie immer in seiner ’Loge’, wartet, daß die Mädchen ihn anschmachten!« Das sagte Juliane.

»Sieh’, wie er dasitzt, wie ein Pascha; schön gebeten will er sein. Warum geht er, der ein Herr ist, dorthin, wo Fabrikmädchen tanzen?«

»Er kommt deinetwegen«, antwortet die kluge, ernste, ein wenig schiefschulterige Oliva und heftet ihre Augen durchbohrend fest auf mich.

Ja, vielleicht ist es wahr. Und ich drücke das Brieflein, das ich unter der Bluse trage, an mein klopfendes Herz. Ich wurde um eine Zusammenkunft gebeten, diesen Sonntag, in den Rosensälen … und um einen Tanz …

Er sieht sich im Saale um; ich merke es. Meine Wangen und Ohren wurden rot, als hätte ich Grog getrunken. Mein Mund strömte Wärme aus, als fieberte ich; Schleier zogen vor meinen Augen, daß ich nichts sah.

Dann tanzte ich mit ihm.

Weiße Handschuhe streiften meine Schulter. Das Ende eines weißen Batisttüchleins sendete mir Wohlgeruch in die Nase. Er sah mich an und fragte: »Wollen Sie essen? Ein Roastbeef?« und sagte noch lächelnd dazu: »Das kriegen Sie nicht alle Tage.«

Ich sitze da, verweigere Essen und Trinken. »Vielleicht eine Tüte Bonbons?« Ich schüttle den Kopf.

O je, dachte ich, diese Bonbons, die wir jahrein, jahraus herstellen – uns wird übel, wenn wir den süßen Geschmack verspüren.

»Warum nicht? Bonbons?«

»Danke, ich kann nicht. Ich arbeite in einer Schokoladenfabrik.«

Wieder lachte er. Dann freilich versteh’ ich den Widerwillen. »Vielleicht eine Erfrischung? Limonade?«

Ich nickte. Oder nickte ich nicht?

Man stellte ein Glas eisgekühlte Limonade mit Strohhalm vor mich hin.

Ich fühlte, daß mir nicht gut war, stand vom Tisch auf, grüßte, sagte, ich müsse gehen. Juliane und Oliva begleiteten mich. Ich bin sehr schwach. Den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen. Denn ich hatte mir am Samstag für einen großen Teil des Wochenlohnes in der Abteilung für Gelegenheitskauf eine neue Bluse (schadhaft) gekauft, sie an einer rissigen Stelle mit Goldborte benäht, Knöpfchen und so weiter … Es war eine blaugrüne Bluse zu meinem blonden Haar.

Dann kam wieder der Sonntag, und ich hatte wieder ein Briefchen. Und diesmal hatte ich Olivas Rat befolgt und mit Glyzerin die Hände bestrichen, in Handschuhen geschlafen und den halben Sonntag in der verdunkelten Stube verbracht, damit meine Augen, statt abends rötlich entzündet, frisch glänzend sein sollten, wie die Augen glücklicher junger Mädchen, die vom Fabrikstaub nichts wissen. Auch auf Juliane hatte ich gehört und eine teure Schönheitsseife gekauft, die die Haut weich wie Samt, rosig und weiß macht.

Und weiße Spitzen gekauft und an die blaugrüne Bluse genäht, denn die grüne Farbe macht mich nur noch blässer. Und Samstagvormittag hatte ich zum letztenmal gegessen, und Sonntag fast gar nichts.

»Wollen wir tanzen?«, fragte Herr Janek.

Ja, wenn ich es nur aushalte!, dachte ich; ich bin so müde und schwach.

»Ich frage Sie nicht mehr, ob Sie essen wollen, denn Sie verneinen stets. Vielleicht wieder Limonade?«

Ich glaube, daß ich nickte.

Er sah mich an: »Merkwürdig sind Sie. Andre Mädchen in Ihrem Alter sind lustig, genießen das Leben – die Jugend vergeht.«

Was wußte er von mir ? Ich schwieg; hätte ich sprechen wollen, hätte mein volles Herz mich verraten.

»Wie ist es?«, fragte Juliane. »Ist er bereits dein Geliebter?«

»Du siehst nicht aus wie jemand, der glücklich ist«, sagte Oliva. »Vor dir hatte er eine andre, sie heißt Lina, ging aufrecht, schlank, hatte dunkle Augen und lachte. Jetzt geht sie nicht mehr aufrecht und schlank – in der Weinstube schenkt sie Getränke ein – sie hatte nur einmal am Sonntag mit ihm getanzt und war dann sein. Nach dir kommt wieder eine andre. Auguste! Sie hat ein Briefchen von ihm bekommen. Dort geht sie und lächelt und freut sich.«

Wer ist Herr Janek?

Hat er kein Herz?

Vielleicht wird er einmal eine Familie gründen, Gattin und Kinder liebhaben und für sie sorgen. Uns will er in sich verliebt machen, uns will er unglücklich machen, weil wir arm sind.

Da nahm ich mein Herz in beide Hände, drückte es zu Boden und stampfte mit allen Schmerzen meine Liebe heraus. Und nach dieser Befreiung fühlte ich mich nicht durch Liebe erlöst, aber in Menschenwürde errettet.

ABENTEUER

Annette, ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren, war in Stockholm im Bureau einer Zellulosefabrik angestellt. Mit ihr war ihre Freundin Lieschen, genau zehn Jahre älter als sie. Beide stammten aus Hamburg. Die Fabrik Hamburg hatte sie beide auf ihren Wunsch in die Zweigfabrik Stockholm versetzt.

Annette hatte in Hamburg ihr liebes Heim verlassen. Sie wohnte im Gewerbemuseum, ihr Vater war dort Hausaufseher und trug eine Kappe mit Goldschnur; ihre Mutter war die Hausfrau, eine kleine, alte, zärtliche Person. Annette hatte Abschied genommen von ihrem Klavier und von ihrem französischen Cercle (einmal wöchentlich).

Lieschen hatte weniger zurückgelassen. Sie hatte eines Tages den schmalen Schrank in ihrem möblierten Zimmer ausgeräumt, zwei Koffer gepackt, und niemand hatte ihr mit Tränen in den Augen nachgeblickt.

Es schien ihnen schön und wunderbar, die Welt zu sehen. Nun waren sie seit Monaten in Stockholm. Hatten sich zusammen eingemietet; die beiden Freundinnen in der Fremde. Sie verdienten etwas mehr als daheim. Hatten ihr Auskommen. Im Sommer kauften sie sich hübsche, helle Kleider, bunte Hüte, spinnwebdünne Strümpfe und Lackhalbschuhe für alle Tage. Die Frauen trieben hier einen Luxus, und sie wollten nicht nachstehen. Es blieb ihnen die Freude, auf der Straße hübsch angezogen zu gehen. Sie arbeiteten über Mittag im Bureau; das gab Überstundenbezahlung. Bald kamen sie darauf, daß sie von der Welt nicht viel zu sehen kriegten.

Ihre beiden Schreibmaschinen standen in einem Verschlag, der nicht größer als zwei Quadratmeter war und kein Fenster hatte. Den größten Teil des Tages verbrachten sie in diesem Raume, und abends waren sie so müde, daß sie nur den einen Wunsch hatten, sich irgendwo hinzulegen und zu schlafen. Sie waren wie dürre Früchte, welk, um Kraft und Leben gebracht.

Wenn sie am Abend zusammensaßen, sagte Lieschen: »Sollen wir keine Freude haben? Nichts?«

Und Annette sagte: »Ja, wir könnten etwas unternehmen, unsere Lebensgeister zu erfrischen. Wie wäre es, wenn wir uns über den Sommer auf dem Lande einmieteten?«

Mutig überwanden sie alle Schwierigkeiten. Selbst die Aussicht, täglich zweimal eine Stunde Dampferfahrt in die Stadt ins Bureau und zurück, bedeutete eher ein Vergnügen als eine Last.

Sie hatten es sehr gut getroffen, ein großes Zimmer auf einem Landgut, das gleichzeitig an Gäste vermietete, gefunden. Dort wollten sie bis in den Herbst hinein bleiben, bis es kalt würde. Wenn sie das Bureau um sechs Uhr verließen und noch den Dampfer erreichten, konnten sie um sieben Uhr abends auf dem Lande sein. Es waren die aufregenden Tage der Mitternachtssonne, die weißen Nächte.

Sie saßen in ihrem Zimmer, auf dem Erker, und übersahen das weite, felsige Land, sahen die Wälder und den See. »Es ist doch gut, daß wir Mut hatten und die Stelle annahmen, wir wären sonst ewig in Hamburg festgesessen.« »Jawohl«, sagte Lieschen. »Aber ich bin schon zu müde. Die hellen Kleider machen mir keine Freude mehr; die letzten zehn Jahre, die vergangen sind, haben all meine Jugend mitgenommen. Nun werde ich alt und grau, o wie traurig …«

Annette blitzte sie mit ihren Augen an und sagte: »Nein, warte nur …« Aber Lieschen schüttelte den Kopf.

Und der Abend verging ihnen wie gewöhnlich, indem sie über die Liebe redeten – was hätten sie anderes tun sollen? »… Es soll ein Glück geben«, sagte Lieschen mit verhängter Stimme, »ich weiß es nicht. Zwanzig Jahre Bureau habe ich hinter mir, zwanzig Jahre Schreibmaschine. Was kommt dabei heraus? Ich sah es, wie unser Geschäft vergrößert, Aktiengesellschaft wurde, wie es sich ausbreitete über Länder; wir sind in Deutschland, in Schweden, in Spanien, in England. Ich habe an der Schreibmaschine meine ersten weißen Haare bekommen; meine Wangen sind verblüht, meine Augen sind schwach, sie sehen kaum den Frühling noch; mein Herz ist traurig und vereinsamt.«

Eines Abends saßen sie wieder beisammen; sie sprachen von einem Fremden, der seit einigen Tagen im Hause war und der immer allein an seinem Tische saß. Ein ungewöhnlich schöner Mensch, jung, mit hellbraunem Haar, und herrlich groß und schlank gewachsen. Er hatte ein Leiden und hinkte ein wenig. Er trug grauen Sportanzug und Cowboyhut. Man sagte, daß er Turnlehrer sei und in der Stadt eine Anstalt für schwedische Gymnastik habe.

Nachts im Bett setzte sich Lieschen auf; sie seufzte ein paarmal; es war, als stöhnte sie. Es blieb so hell, daß man nicht einschlafen konnte.

Annette hob den Kopf, sah hinüber zu Lieschen und lachte. Der Fremde im Hause hatte sie fröhlich gemacht.

Lieschen aber verbarg das Gesicht in den Händen. »Ach«, sagte sie und begann leise zu plaudern, »eine Erinnerung verfolgt mich. Das Grausigste, das ich je sah. Ich war achtzehn Jahre alt, da kam zu unseren Unterhaltungsabenden eine Dame. Sie war mehr als vierzig, machte sich aber mit allen Mitteln jung, so daß sie glaubte, wie dreißig auszusehen, und benahm sich auch danach. Sie drängte sich zur Jugend, und als einmal jemand Klavier spielte und getanzt werden sollte, stellte sie sich in die Reihen der Tanzenden. Alle wurden geholt, nur sie blieb allein. Und den ganzen Abend sprach nicht ein einziger Mensch ein Wort zu ihr. Man lachte und verhöhnte sie. Sie schien es nicht zu merken und kam jedesmal wieder und saß allein, ging allein weg. An sie habe ich nie aufgehört zu denken, und manchmal ist es mir, als wäre ich es selbst, dann muß ich weinen vor Gram …« Sonntag früh ging Lieschen auf die Erdbeerwiese. Die Sonne kam weiß aus weißen Wolken hervor, legte sich mit all ihrer Breite über den See. Es roch nach Rosen und Erdbeeren. Die großen Lupinen welkten unten am Stamme, während oben neue Blüten wuchsen. Lieschen ging in ihrem weißen Kleid über die Wiesen. Mit festgeschlossenem Munde summte sie heute ein Lied.

Auf einer Bank in der Sonne saß der Fremde, als sie vorbeikam, stand er auf und grüßte. Er fragte sie in schwedischer Sprache, ob sie sich nicht ein wenig niedersetzen wolle. Sie konnte gar nichts anderes tun. Er sprach lange zu ihr, sie wußte kaum, was er sagte. Sie betrachtete sein braunes, zärtliches Gesicht. Zum Schluß hielt er ihre Hand und ließ sie nicht los. Einmal fragte er nach Annette. Aber gleich darauf beugte er sich über ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. Ein Mann kann die Hand einer Frau küssen, und es kann sein, als küßte er ihre Lippen. Seine Augen konnten dabei sprechen: noch darf ich deine Lippen nicht berühren, darum berühre ich deine Hand. Lieschen riß sich los. Sie lief davon. Sie rannte am Ufer des Sees hin. Sie stieg die Klippen hinauf, immer höher, bis sie an einer Felswand stand. Daneben wuchs Gras, Blumen standen im Schatten: Enzian. Lieschen glitt nieder, drückte ihr Gesicht auf die kühlen Pflanzen und weinte; und als sie ihren Kopf hob, lachte sie in zitternder Freude, während noch Tränen über ihre Wangen rollten. Nun hab’ ich es und bin verrückt, dachte sie.

Aber dann nahm sie sich zusammen und ging langsam und ruhig nach Hause.

Ehe sie bei Annette anklopfte, legte sie ihr Gesicht in trübe Falten, damit diese ihr nicht das Glück anmerke.

 

Um drei Uhr nachmittags, als Lieschen auf dem Sofa schlief oder nur so tat, um ungestört träumen zu können, lag Annette im Garten in der Hängematte. Der Fremde saß bei ihr und sprach mit ihr von seiner Liebe. Er lud Annette für heute nacht zu einer Fahrt im Motorboot ein. Diese letzte Gnade erbitte er sich vom Schicksal, setzte er dazu. Annette sah ihn erschrocken an, gab ihm die Hand, die er an sein Herz drückte. Sie war von dieser Minute an in ihn verliebt.

Die Gäste saßen bei der Jause. Der Fremde saß wie gewöhnlich allein und an einer gesonderten Stelle; für ihn wurde allein gedeckt.

Da trat ein Gast, ein vornehmer Herr, Kurhausbesitzer und Herausgeber der Bäderzeitung, zu Lieschen und Annette und hielt eine feierliche Ansprache: »Meine Damen, hier treibt ein junger Mann sein Wesen; es ist nicht ratsam, ihm für seine Torheiten Gehör zu schenken. Wir sahen, daß er sich an Sie heranschlich, um Ihnen Schmeicheleien zu sagen und Sie für seine Absichten, die dunkler Art sind, zu gewinnen. Um es kurz zu sagen, wir warnen Sie, mit dem jungen Mann zu sprechen. Unter dem Vorwand einer Turn- und Tanzschule betreibt er etwas ganz anderes in der Stadt. Er besucht alle möglichen Orte und sucht Damenbekanntschaften zu machen. Doch alles dient ihm nur für sein Geschäft. Er annonciert auch in den Tageszeitungen, er suche eine Vorsteherin – jawohl, eine Vorsteherin für ’sein Haus’. Hier deckt man für ihn allein. Man kann nach den Gesetzen ihm nicht den Aufenthalt verbieten; man meidet ihn; jetzt wissen Sie alles, meine Damen …«

»Ich werde dir etwas sagen«, redete Lieschen die schweigende Annette vor dem Einschlafen an. »Kann es nicht ebensogut Klatsch sein? Was verpflichtet mich, zu glauben, was man sagt, und wäre es wahr! Finden nicht auch Männer, die ein ’schlimmes Gewerbe’ betreiben, Frauen, die liebend zu ihnen halten; werden Wucherer, Diebe, Betrüger, ja sogar Mörder nicht von Frauen geliebt? Gibt es ein Gestrüpp menschlicher Verderbnis, wo nicht die Liebe hinkommt?«

»Sprichst das du?«, erwiderte Annette. »Mit deinen achtunddreißig Jahren, mit deinem streng geschlossenen Munde! …« Sie sagte nichts mehr.

Später zogen sie die Vorhänge etwas dichter zu, um von der hellen Nacht nicht gestört zu sein. Annette schlief wirklich ein; sie war ein gesunder, junger Mensch mit gutem Schlaf, mit einem normalen Herzen. In Lieschen wirkte der Zauber fort. Sie lag wach und träumte sich in ein heißes Empfinden hinein. Über ihre Seele war die Offenbarung der Liebe gekommen. Nun war sie bereit, alles zu tun …

Es war zwei Uhr nach Mitternacht, als sie an ihrer Tür klopfen hörten.

Lieschen hörte es zuerst. »Wer ist es?«, rief sie, sprang auf und schlüpfte in die Kleider. Es schien ihr nicht verwunderlich, als der Fremde bat, sie möge ihn einlassen. Hatte sie ihn mit ihren starken Träumen gerufen? Ein schauderndes Gefühl kam über sie. Sie zitterte so heftig, daß sie kaum ein Wort herausbrachte. Welch ein Abenteuer! Sie ließen ihn ein.

Wie erschraken sie. Er sah furchtbar aus. An der Stirn hatte er einen blutigen Streifen. Sein Gewand war schmutzig, verstaubt; seine Haare zerzaust; das Gesicht totenbleich; er war atemlos mit fiebrigen Augen,

Stockend erzählte er: »Da Sie für mich nicht sichtbar waren, fuhr ich in die Stadt. Ich hatte Geschäfte. Mit dem letzten Dampfer fuhr ich zurück. Ich war nicht allein. Die Matrosen, die das letzte Schiff bringen, sind meist betrunken. Ich kenne sie; ich habe das schon oft erlebt. Es waren vielleicht ein Dutzend Leute auf dem Schiff; die stiegen nach und nach aus. Als wir hierherkamen, landeten sie nicht, sondern fuhren weiter. Ich bat den Kapitän, das Schiff halten zu lassen, doch sie hörten nicht auf mich. Ich hatte anfangs heftigen Streit mit ihnen, und sie machten Anstalten, mich ins Wasser zu werfen. Darum schwieg ich und wurde höflich. Endlich setzten sie mich ans Land. Es war fast Mitternacht. Vor mir lagen Sümpfe, und graue Dünste stiegen auf, legten sich vor meine Augen, daß ich nichts sehen konnte. Ich watete, war in Gefahr, zu versinken. Endlich fühlte ich trockenen Boden. Ich befand mich auf einem blühenden Kartoffelfeld, dem schloß sich ein Flachsfeld an; dann kam eine große Kleewiese. Ich rannte vorwärts – heute war es etwas weniger hell als sonst, aber man konnte alles deutlich sehen. Im Grase sah ich etwas Weißes liegen, eine Gestalt. Ich bückte mich und sah, daß es ein junges Mädchen war in weißem Kleid. Sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Ich saß lange bei ihr und sah sie an. Sie war wunderbar schön. Endlich wagte ich, ihr Gesicht zu berühren; ihre Wange fühlte sich kalt und ledern an; da sah ich, daß das Mädchen tot war. Rasch sprang ich auf und rannte weiter. Es wurde ganz hell, und ich hatte den Weg gefunden.

Plötzlich hörte ich in einer Entfernung Männer schreien: ›Dort läuft der Mörder, er kam mit dem letzten Schiff; die Matrosen kennen ihn …‹ Nach zwei Stunden kam ich hier an … Laßt mich nur ein wenig ausruhen, denn wenn es Morgen wird, muß ich auf der Flucht sein.«

»Warum fliehen?«, rief Annette. Sie war weiß bis in die Lippen. »Sie sind ja kein Mörder!«

Zwischen den Zähnen, leise und furchtbar, stieß er hervor: »Vielleicht bin ich einer!« Annette schrie auf.

»Jedenfalls muß ich mich verstecken«, fuhr er ruhiger fort; seine Stimme hallte unheimlich tief und fest in dem großen, stillen Zimmer. »Will denn keine von euch mir helfen?«

Lieschen stand schon angezogen da. In der Hand hatte sie ihre Reisetasche.

»Kommen Sie, ich will Ihnen helfen.«

Und sie ging mit dem Fremden zur Tür hinaus; er sah sich noch einmal um, nach Annette!

Annette lag wach und wagte nicht zu atmen. Alles war so rasch gekommen. Sie stand auf und ging umher, sie wartete, daß Lieschen zurückkomme. So verging eine Stunde; sie wußte nicht, was sie anfangen sollte. Legte sich hin, schlummerte vor Müdigkeit ein.

Endlich war es Morgen. Lieschen war nicht wiedergekommen; sie war verschwunden. Annette schlug Lärm, erzählte vor den versammelten Gästen die Geschichte der Nacht und von dem toten Mädchen.

Die Leute lachten. »Ach«, sagten sie, »sein altes Spiel; wieder diese Geschichte von dem letzten Schiff, den betrunkenen Matrosen und dem toten Mädchen auf der Kleewiese. Daran ist natürlich kein wahres Wort. Ebensowenig wie an seinem hinkenden Bein etwas ist. Bald taucht er irgendwo auf, den Arm in der Schlinge, bald trägt er schwarze Brillen und erzählt seine Geschichten. Er wählt die abenteuerliche Stunde der Nacht. Mitleid und Liebe sucht er bei Frauen zu erwecken, und viele werden seine Opfer.«

Annette beteuerte, daß die Geschichte von dem toten Mädchen wahr sein müsse.

Sie war so erregt, daß man ihr versprechen mußte, die Polizei zu verständigen.

Im Laufe des Tages erschien denn auch ein Polizeibeamter; aber er erklärte, daß eine Mädchenleiche in der Umgebung an dem bezeichneten Orte nicht gefunden wurde und auch eine Abgängigkeitsanzeige nicht erstattet worden war … Lieschens Verschwinden anzuzeigen, ging nicht an; sie war freiwillig gegangen, und sie war ein reifer Mensch, der seine Handlungen verantworten mußte.

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