Buch lesen: «Das heimliche Spiel»
Erstmals erschienen diese Erzählungen 1941 unter dem Titel Il gioco secreto bei Garzanti in Mailand. 1963 veröffentlichte Elsa Morante daraus die hier vorliegende Auswahl unter dem Titel Lo scialle andaluso bei Giulio Einaudi Editore in Mailand. Die erste deutsche Ausgabe dieser Erzählungen erschien 1966 bei Claassen in Düsseldorf unter dem Titel Der andalusische Schal.
E-Book-Ausgabe 2020
© 1963 The Estate of Elsa Morante
© 2005 für die durchgesehene Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach,Emser Straße 40/41,10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung des Bildes Femme assise le dos tourné vers la fenêtre von Henri Matisse, 1949 © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2005.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 4291 7
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3194 4
Der Dieb der Totenlichter
Obwohl ich noch keine genügende Zahl von Jahren gelebt habe, um es glauben zu können, bin ich doch beinahe sicher, daß ich jenes kleine Mädchen gewesen bin. Deutlich sehe ich die enge, schmutzige Straße, wo die Risse in dem alten Verputz Figuren und Flecken zeichneten. Das fünfstöckige Haus, in dem meine Familie das oberste Stockwerk bewohnte, war das höchste der Straße. Am Ende stand die Synagoge.
Ich war nicht älter als sechs Jahre. Von den Fenstern aus sah ich die bleichen Männer vorübergehen, die dunkelhaarigen Frauen mit fast immer vulgärem oder finsterem Gesichtsausdruck, die halbnackten Kinder, die grau waren vom Staub. Gegenüber sah ich ein gelbliches Haus mit Strohmatten vor den Fenstern, und an der Seite einen geräumigen Hof, in dem kein Gras wuchs.
Oft wartete in diesem Hof eine Reihe Männer, meistens Soldaten. Einer nach dem andern traten sie für wenige Minuten in das Haus und entfernten sich dann, indem sie Sticheleien austauschten oder schwatzten. An den Fenstern im ersten Stock zeigten sich immer geheimnisvolle, lachende Frauen mit geröteten Gesichtern, schwarz umrandeten Augen und lauten, entschlossenen Stimmen. Besonders nachts hörte ich die leisen Rufe ihrer Stimmen. Wenn mein Vater aus dem Café zurückkam, forderten sie ihn auf, obwohl er nur ein buckliger Alter war: »Willst du nicht heraufkommen, schöner Junge? Komm doch!«
Meine Mutter, noch jung und schlank, hatte ein anmutiges, aber vom Kummer zerstörtes Gesicht. Bei jeder Gelegenheit schlug sie sich wütend mit den Fäusten gegen die Stirn, und wenn ich etwas falsch machte, pflegte sie mich in einem feierlichen Hebräisch zu verfluchen, wobei sie ihr verblühtes Gesicht zur Synagoge hinwandte. Dann war ich bestürzt, weil ich wußte, daß die Verfluchungen der Väter und Mütter, als Echo widerhallend, immer zu Gott gelangen.
Sobald es dunkel wurde und mein Vater sich zu seinem Café aufmachte, ging sie mit meiner älteren Schwester, die schön und hochmütig war, auf dem Stadtwall spazieren. Ich blieb zu Hause, um die Großmutter nicht allein zu lassen, denn die Alte war taub und wie aus Holz. Eine Folge von unzähligen Jahren hatte sie langsam ausgesogen, bis sie nur noch ein kleines hölzernes Skelett war, das vielleicht nicht einmal mehr sterben konnte. Ihr Kopf war beinahe kahl, und die dunklen Augenlider waren immer gesenkt. Die Hände mit den blau unterlaufenen Nägeln ließ sie reglos an den Seiten herabhängen. Zu meinem Erstaunen hatte ich entdeckt, daß sie sich Brust und Hüften umwickelte, wie man es bei kleinen Kindern macht, und über all diese Wickelbinden zog sie weite graue Lumpen. Man sagte, daß sie reich sei.
Sobald die andern ausgegangen waren, befahl sie mir mit verstümmelten Worten, die sie mühsam zwischen ihrem Zahnfleisch hervorpreßte, das Licht zu löschen; es sei unnütz, für uns beide allein Petroleum zu verschwenden. Dann wurde sie stumm und unbeweglich. Ich gehorchte, obwohl ich zitterte. Kaum hatte ich nämlich das Schräubchen an der Lampe herabgedreht, richtete sich das Gespenst der Finsternis und der Angst hinter meinem Rükken auf und zeigte an der Stelle der Augen zwei schwarze Löcher. Und ich kauerte mich ganz nah ans Fenster, um ein bißchen Helligkeit zu haben.
Die Geschichte ereignete sich vor mehr als fünfzig Jahren.
Vom Fenster aus konnte ich die Synagoge sehen, ihre wuchtige Kuppel, die Stufen und die langen Fenster mit den bunten Scheiben; und durch das Glas erspähte ich den trüben, rötlichen Schimmer der Totenlampen. Diese schmiedeeisernen Ampeln hingen im Innern der Synagoge, und wer einem Toten ein solches Licht stiften wollte, mußte dem Wächter Jusvin etwas bezahlen, damit er die Lampe mit Öl versorgte und aufpaßte, daß sie weder am Tag noch in der Nacht erlosch. Die Toten waren in ihrer Finsternis sehr viel ruhiger, wenn sie eine Lampe besaßen.
Nur von meinen Fenstern aus konnte man das Innere der Synagoge mit den roten Lichtern wahrnehmen. Ich sah den Wächter Jusvin jeden Abend die Stufen hinaufsteigen, um das Öl nachzufüllen und die Synagoge abzuschließen. Er war ein dunkelhäutiger Mann, der schön und feierlich aussah, mit schwarzen Augen und lockigem Haar und Bart. So dunkel, wie er war, glich er im Dämmerlicht einem Propheten oder einem Engel, wenn er mit seinem schwankenden Schritt zur Synagoge hinaufstieg und die schweren Schlüssel trug. Eines Abends jedoch sah ich, bald nachdem er eingetreten war, wie die Lampen eine nach der andern erloschen; dann kam er vorsichtig mit seinem Löschhütchen heraus, ein ungeheures Dunkel hinter sich lassend.
»Großmutter!« schrie ich, »Jusvin hat alle Totenlichter ausgemacht!«
»Nein«, brummelte die Schwerhörige, »es wird kein Petroleum verschwendet, die Lampe wird nicht angezündet.«
»Verstehst du nicht?« schrie ich, am ganzen Leibe zitternd, »Jusvin hat die Lichter gelöscht, die Lichter!«
»Ja, ja, Marianna wird bald zurückkommen«, er widerte sie.
Da verzichtete ich darauf, ihr jenes Geheimnis mitzuteilen. Rings um mich her sah ich die Gestalten der Finsternis, und ich zitterte vor Angst, daß sie ihre Münder öffnen und zu mir sprechen könnten. Mir graute vor dem, was sie mir vielleicht sagen würden, und vor dem, was Gott der Herr sagen würde.
Von diesem Tage an sah ich jeden Abend, wie Jusvin das Portal der Synagoge hinter sich abschloß und die Lichter löschte. Er tat es, um Öl zu sparen und an den Beträgen, die er für die Versorgung der Lampen erhielt, zu verdienen. So erklärte es mir meine Mutter; sie sagte auch, ich solle schweigen, denn der Mann habe sechs kleine Kinder, und durch eine Anzeige würde er seine Stellung verlieren. Also Stillschweigen. Gott sah ihn, und er würde daran denken, den zu bestrafen, der den Toten das Licht stahl. Gott würde Gerechtigkeit üben.
»Dieb! Dieb!« schrien all meine Sinne, wenn ich jenen Schatten langsam die Treppe hinaufsteigen sah. Ich wartete ängstlich darauf, daß seine Hände abfielen wie zwei Fetzen. Am liebsten wäre ich zur Synagoge gerannt und hätte laut gerufen: »Ich sehe dich! Ich sehe dich, wenn du den Toten das Licht stiehlst! Hast du keine Angst … vor Gott?« Doch ich blieb reglos und wie gelähmt an der Fensteröffnung stehen. Ich dachte an die Toten unter der Erde, so ganz ohne Licht. Und um nichts sehen zu müssen, bedeckte ich mein Gesicht, bis ich von neuem angezogen war von dem langen Schatten, der jetzt mit seinem Löschhütchen herabkam und in den Gassen verschwand.
Eines Abends kam er nicht, und die roten Flämmchen leuchteten ruhig hinter den Fensterscheiben. Als er nach mehreren Tagen wieder erschien, konnte er nicht mehr sprechen. Mühsam brachte er aus seiner Kehle heisere Laute und ein Gestammel hervor und riß dabei die Augen auf mit den Gebärden eines Hampelmanns, wie es die Stummen machen. Und eines Tages hallten die Gassen wider von einem tierischen Brüllen und Röcheln. Es war der sterbende Jusvin. »Das ist die Gerechtigkeit des Herrn«, sagten die Leute. Der Finger Gottes hatte seine Zunge berührt, und Jusvins verfluchte Zunge wurde nun zu einer furchtbaren Wunde. Es war ein Leiden, das die Leute nur mit Angst zu nennen wagten (mich ließ sein phantastischer Name an die Welt der grausamen Meerestiere und an eine Wendekreis in Afrika denken), und jene Schreie liefen durch alle Straßen, es war ihnen anzuhören, daß der Leib des Sünders sich wand und krümmte. Und sie gaben keinen Augenblick Ruhe, bis sie verstummten.
»Er wird niemals Frieden finden«, sagten die Leute und schüttelten den Kopf, »er nicht und auch seine Kinder nicht.«
Oft, wenn ich zur Schule ging, begegnete ich seinen Kindern, besonders Angiolo und Esther. Sie sahen sehr schön aus, ob wohl sie schmutzig und halbnackt waren. Angiolos große Augen glichen zwei Feuern, und wenn er lachte, hatte er Grübchen in den Wangen. Esther hatte wundervolle Locken, schlanke Beine, und ihr rundes Gesicht glich einer Frucht. Ich beobachtete sie voller Angst. Ich glaubte, der Finger Gottes würde auch ihre Zungen berühren, wie er die des Vaters berührt hatte, dem dann das seltsame afrikanische Tier die Zunge zerfraß, und sie würden hinterher nicht mehr sprechen können, sondern nur noch traurige Laute von sich geben. Stumm, mit einer Wunde im Mund, wür den Jusvins Kinder und Kindeskinder eines nach dem andern vor Gott dem Herrn vorübergehen müssen.
Dieses Schauspiel quälte mich in meiner kindlichen Einsamkeit und erschien immer wieder in meinen Träumen. Aber an einem Sommerabend in der Nähe der Synagoge kam mir etwas Deutlicheres zum Bewußtsein.
Mir war ein schlimmes Mißgeschick passiert: Mein Vater hatte mir ein Geldstück gegeben und mir aufgetragen, drei Zahlen im Lotto zu spielen. In Phantastereien versunken, hatte ich auf dem Rückweg vom Lottobüro den gekauften Zettel mit den Zahlen verloren. Fieberhaft war ich durch alle Straßen geirrt, hatte leise schluchzend den Staub durchwühlt. Nichts. Dann hielt ich inne, kauerte mich im nächtlichen Schatten der Synagoge neben die hohe Mauer. Ich überlegte mir, daß ich nicht mehr nach Hause zurückkehren, aus dem Ghetto fortgehen, die Stadt verlassen und sterben würde. In dieser Stunde und bei diesem Gedanken rief ich meinen Vater mit dem Spitznamen, den die Leute ihm gegeben hatten: »Krummbuckel«. Wie oft war ich gefragt worden: »Bist du die Tochter vom Krummbuckel?« Und jetzt in meiner Angst gingen mir neue Gedanken wie frevelhafte Blitze durch den Sinn: »Der Krummbuckel wird mich schlagen. Warum darf er mich eigentlich schlagen? Ich bin klein, aber hübsch, ich habe zwei lange Zöpfe und kann lesen. Er ist bucklig. Ich will nicht von ihm geschlagen werden. Aber ich habe den Lottozettel, der vielleicht gewonnen hätte, verloren. Ich habe etwas Schlimmes angestellt; der Zettel gehörte ihm, und deshalb wird er mich schlagen. Und meine Mutter wird mich verfluchen. Das ist die Strafe. Ich bin herumgestreunt und habe die Häuser, die Fenster und Gesichter angeschaut, ohne an den Zettel zu denken; ich habe gesündigt. Auch Jusvin hat gesündigt, und Gott hat ihn bestraft.«
Ich sehe Jusvin im Angesicht des Herrn. Der Herr hat weder Leib noch Gesicht; er ist wie eine Gewitterwolke, wie der Schatten eines Berges: »Erbarmen, Herr, ich habe es für meine Kinder getan! Wasser für meine Zunge, Schlaf für meine Augen, Mitleid mit meinem ruhlosen Wandern, das mich die friedvollen Toten beneiden läßt.« Dies sind die Worte, die sich niemals auf seinen Lippen formen und die er in seiner Kehle begräbt. Sein Mund verzerrt sich, stößt gurgelnde Laute aus; Jusvin gestikuliert und windet sich. Aber Gott, der Gestaltlose, antwortet nicht. Sein Schweigen bedeutet: Du bist ein Dieb.
Unterdessen sind viele andere dazugekommen, sind schweigsam aus den Mauern der Synagoge hervorgetreten. Ihre Leiber sind eine dunkle Masse, ihre Gesichter Masken mit leeren Augenhöhlen, und doch scheint es mir, als erkenne ich manche. Dies ist die alte Mitilda, die Kürbiskerne kochte und die dann – so erzählte man mir – in den Himmel kam. Aber doch ist sie hier, mit zerrissenen Schuhen und einem Tuch um ihr augenloses Gesicht. Und dies ist Lazzarino und sein Sohn Mandolino, beide ganz lang und hager, mit langen Armen, Zylinderhüten über den ausgezehrten Gesichtern. Ja, sie sind es, und andere kenne ich nicht, aber alle gleichen sie einander und schleppen ihre schweren Füße an den düsteren Mauern entlang. Einige tragen sonderbare Gewänder, aus Lumpen gemacht, in bunten und verblichenen Farben, oder sie haben Fetzen aus Stoff um den Oberkörper gewickelt und alle möglichen Hüte auf dem Kopf, wie man sie im Theater sieht. Manche Frauen tragen weite Kleider, die lautlos über den Boden streifen, und haben schwarz geschminkte Augen und Rouge auf der Haut. Andere wieder sind halbnackt und bleich.
Es sind die Toten, sie tappen unsicher umher und öffnen die Lippen, wie um zu trinken, und verlangen nach dem Licht ihrer Lampen. Keiner von ihnen hat Flügel; sie sind wie Maulwürfe, die aus der Erde hervorgekrochen sind. Gewiß glaubten sie unter der Erde, in jenem Licht noch den Tag zu sehen, und jetzt suchen sie tastend nach ihm. Nur die Lebenden können das Licht anzünden und löschen; so will es Gott, der Schweigsame, der die Lebenden züchtigt und die Toten in der Erde einschließt.
So war mein Gott; und jenes kleine Mädchen war ich oder vielleicht meine Mutter oder vielleicht auch die Mutter meiner Mutter. Ich bin gestorben und wiedergeboren, und bei jeder Geburt nimmt ein neuer, ungewisser Verlauf seinen Anfang. Und jenes kleine Mädchen ist immer noch dort in seiner unbegreiflichen Welt und stellt ängstliche Fragen im Schatten des richtenden Gottes, inmitten der Stummen.
Der Mann mit der Brille
Am dritten Dezember, es war ein Donnerstag, trat der Mann aus seinem Studierzimmer, einem düsteren Raum am Ende der Stadt. Sein Haar war zerzaust, der lange Bart von der Kälte gesträubt, und die Augenringe legten einen schwarzen Schatten auf seine Wangen. Er hatte die undeutliche und beinahe fremde Empfindung, als schwanke er, und das Knarren der Holztreppe klang wie ein nahes Dröhnen in seinen Ohren.
An der Haustür hielt die Pförtnerin, die mit einer Schaufel den Schnee beiseite schob, inne und sah ihn aufmerksam an:
»Wieviel Uhr ist es?« fragte er. »Neun«, gab sie zur Antwort und folgte ihm neugierig mit ihren geröteten Augen. »Seid Ihr in den letzten Tagen auswärts gewesen?« fragte sie schließlich. »In welchen Tagen?« sagte er, und es kostete ihn ungeheure Mühe, die Worte auszusprechen, »ich habe mich nie aus der Stadt fortbegeben.« »War ja nur eine Frage, weil ich Euch nicht mehr gesehen habe«, erklärte die Pförtnerin.
Der Mann wollte sie eigentlich daran erinnern, daß er doch am Abend vorher vorbeigekommen sei, um in ihrer ärmlichen Kammer die Post zu holen, doch dann dachte er, es sei unnütz, sich mit so einer Hexe abzugeben. Und er ging weiter die vereiste Straße hinab, gefolgt von ihren dummen Blicken.
Es war neun Uhr; er würde in die Milchbar gehen, um zu frühstücken, und dann würde er versuchen, irgend wie die Stunden hinzubringen bis zu dem Augenblick, da er zu ihr gehen würde. Am Tag zuvor hatte er sie nicht sehen können, weil Feiertag war. »Gräßlich, so ein Sonntag«, dachte er. Er erinnerte sich, daß er den ganzen Tag durch die Straßen der Stadt geirrt war, an den hohen, finsteren Häusern entlang, im schmutzigen Schnee, und daß er versucht hatte, irgend wo jene rundlichen, nackten Waden, jene liebreizenden Vogelaugen zu entdecken. Vielleicht war er deshalb mit zerschlagenen Gliedern aufgewacht. Natürlich war gestern all sein törichtes Umherirren vergeblich gewesen; aber heute würde er sie sehen wie immer. Bei dieser Gewißheit legte sich ein Nebel über seine Augen, und das Blut strömte ihm zum Herzen, daß sein Atem stockte.
Er ging auf dem weichen Schnee, ohne sich umzuschauen, und oft sanken seine Füße in die schwarzen Hufspuren der Pferde ein. Hohe, schattenlose Bäume überragten die Häuser mit den weißen Dächern. Vor der Milchbar hatten drei Männer ein Feuer angezündet; er setzte sich an den gewohnten Platz, mit dem Rücken zum trüben Spiegel, und nahm die Brille ab. Eilfertig lief die Milchfrau zu ihm hin; aber er hatte das Gefühl, als sehe er die Gesichter um sich her seltsam verzerrt und verkrampft, voller Augen und ohne Lippen. Wieder war ihm, als ob er taumelte.
»Der Herr ist wohl krank gewesen in den letzten Tagen?« fragte die Stimme der Milchfrau. »Aber nein!« erwiderte er schroff, »Ihr werdet Euch erinnern, daß ich gestern abend hier war und daß es mir sehr gutging.« »Was!« rief die Frau bestürzt, »seit Sonntag seid Ihr nicht hier gewesen!« »Eben, gestern war ja Sonntag«, murmelte er erschöpft. »Aber heute ist Donnerstag«, fuhr die Frau fort.
Er schüttelte den Kopf und schwieg verächtlich. Niemand konnte sich besser als er daran erinnern, daß der Tag zuvor ein Sonntag gewesen war; niemand kannte wie er das schmachtende Fieber der Sonntage, das fortwährende Im- Kreise- Irren, das vergebliche Warten. Jetzt wurde der unbegreifliche Nebel dichter um ihn her, und er empfand eine dunkle Furcht, er würde an diesem Ort ohnmächtig werden. »Meine Stirn wird gegen den Marmor des Tischchens schlagen«, dachte er. Doch er spürte, daß seine Zähne in das frische Brot eindrangen und seine ausgetrocknete Zunge feucht wurde. Seine Hände zitterten, als er das Brot brach, und er schluckte mit Mühe. Hinter den trüben Fensterscheiben sah er die Bäume jetzt deutlicher, die großen, reglosen Vögeln glichen. Ihm war, als höre er das Pfeifen des Windes, und er ging auf die Straße hinaus; aus dem Milchladen folgten ihm mitleidige Blicke. »Heute ist Donnerstag«, dachte er, »und gestern war Sonntag. Das ist doch nicht möglich.« Und er lachte höhnisch über diese Sinnlosigkeit. »Sag mal, mein Junge, welcher Wochentag ist heute?« fragte er einen Stallknecht mit dem Gebaren eines Betrunkenen. »Donnerstag«, er widerte dieser und sah ihn finster und mißtrauisch an. »Mein Gott!« murmelte er und versuchte angestrengt, sich zu besinnen; er sah ganz deutlich den gestrigen Abend wieder vor sich, den Sonntagabend. Die geschlossenen Geschäfte, die Menschenmenge, seine Unruhe und wie er sich, als es Nacht wurde, in sein Zimmer einschloß, nachdem er bei der Pförtnerin die Post abgeholt hatte.
Er überquerte die Eisenbrücke mit dem arabeskengeschmückten Geländer, die über dem gefrorenen Fluß schwebte. Der grünlich schimmernde Himmel lastete schwer. Die Kuppeln und spitzen Kirchtürme der Stadt wurden sichtbar. »Wo sind nur diese drei Tage geblieben?« dachte er finster. Und er lachte schallend, als er seine Stimme über die leere Brücke hallen hörte. »Aber ich trinke doch nie«, sagte er laut, wie um sich zu rechtfertigen. Und plötzlich merkte er, daß er sich schon in der Nähe der Schule befand. Der Hof war sorgfältig gefegt, aber das Dach mit Schnee bedeckt. »Noch zwei Stunden, bis sie herauskommen«, dachte er verwirrt und ging im Schulhof auf und ab, mit herabhängenden Armen wie eine Marionette. Schließlich verließ er den Hof und ging träge die Wiese entlang, wobei er auf das quälende Knirschen des Schnees unter seinen Füßen lauschte. Unter einem niedrigen Baum mit dünnen, trockenen Zweigen blieb er stehen und lächelte bei dem Gedanken, daß er jetzt nur noch zu warten brauchte und sie dann sehen würde. Doch es schien ihm, als sähe er sein Lächeln neu und verzerrt wie in einem Spiegel vor sich, und er zuckte zusammen.
Nie ging jemand durch diese Straße; zuweilen vernahm er das gedämpfte Geräusch eines Wagens und Pferdehufe, die auf den Schnee aufschlugen. Aber all das war in weiter Ferne. Die Kälte und die Reglosigkeit machten ihn träge, und diese Trägheit erschreckte ihn. Doch der Gedanke, ein Glied seines Körpers zu bewegen, und sei es auch nur, die Hand zu heben oder mit den Wimpern zu zucken, erfüllte ihn mit noch größerem Schrecken. Er hatte das Gefühl, als halte er sich nur mühsam im Gleichgewicht vor einer ungeheuren Leere und als werde er bei der geringsten Bewegung über den Rand schlittern. »Jetzt verliere ich den Verstand, ich werde blind, ich werde fallen, ich kann es nicht hindern«, dachte er mit plötzlicher Hellsichtigkeit.
In diesem Augenblick hörte er die Schulglocke läuten. Gleich darauf vernahm er das Geschrei der Schülerinnen und sah die ersten herauslaufen mit ihren Regenmänteln und Mützen und den an den Riemen baumelnden Schulmappen. Sie redeten laut, lachten und hielten sich umgefaßt; ihm war, als sähe er jenes bestimmte Lächeln aufblitzen, und ein krampfartiges Zittern erfaßte ihn; aber er hatte sich getäuscht. Jetzt spürte er in seinem ganzen Körper eine Hitze aufwallen, außer in den Händen, die schweißnaß und eiskalt waren.
Endlich sah er ihre Gruppe herauskommen. Er erkannte die drei Mädchen sogleich, die jeden Tag mit ihr zusammen kamen, doch heute war sie nicht dabei. Sie gingen ruhig, ohne miteinander zu reden, und von weitem erkannte er den braunen Mantel der größten, ihre stolze Art zu gehen und dabei das Kinn vorzustrecken. Er spürte, daß er die Erwartung und den Zweifel keine Minute länger ertragen würde, aber er rührte sich nicht. Nun sah er deutlich, wie eines der drei Mädchen sich aus der Gruppe löste und in seine Richtung lief. Während diese kräftige Kleine allmählich näherkam, konnte er sie genauer betrachten, ihr rundes Gesicht mit den dunklen, lebhaften Augen und die rosigen Hände, die den Schulranzen trugen. Sie hatte einen kurzen Mantel an, unter dem ein Zipfel ihrer Schürze hervorschaute. Ihre Beine waren nicht nackt wie die der andern, sondern mit Wollstrümpfen bekleidet. Sie blieb vor ihm stehen und starrte ihn fragend an, während sie kaum die Lippen bewegte. Er hatte den verzweifelten Willen, eine Frage zu stellen, doch es drang kein Laut aus seiner Brust.
»Sie ist gestern gestorben«, sagte das Mädchen, ohne auf die Frage zu warten, »sie ist ganz plötzlich gestorben, aber sie war schon lange krank.«
»Wie?« fragte er und erschrak, als er seine Stimme klar und deutlich hörte.
»Der Lehrer hat über sie gesprochen, und wir sind alle aufgestanden«, fuhr das Mädchen fort. »Als ihr Name aufgerufen wurde, habe auch ich ›hier‹ gesagt.«
Während das Mädchen sprach, beobachtete es den Mann mit aufmerksamer Neugier. Er stand gegen den Baum gelehnt, und die beschlagene Brille verbarg seinen Blick; er war seltsam geschwollen an den Schläfen und auf der Stirn, und der Bart ließ sein schwammiges und krankes Gesicht grau erscheinen. Seine herabfallenden, farblosen Lippen stammelten leise, und sein Körper, an dem die schmutzigen Kleider wie angeklebt waren, schüttelte sich wie im Krampf; es sah aus, als klammerten seine Hände sich irgendwo im Leeren fest. Wortlos wandte er sich um, und das Mädchen sah ihn den Pfad hinuntergehen. Mit seinen schlenkernden Armen und den gebeugten Schultern schien er in schwerfälliger Plumpheit vorwärts zu fallen durch den Nebel.
Das Mädchen blickte zur Schule zurück; die Gefährtinnen, wohl müde geworden zu warten, waren fortgegangen, und die Fenster waren geschlossen; auch das Gittertor war geschlossen, und die Kleine wunderte sich, daß die Schule, die eben noch so voller Leben gewesen war, nach wenigen Minuten verlassen dalag. Es schien ihr, als habe sie eine lange Zeitspanne vor sich, und sie wußte nicht, was sie damit anfangen sollte. Ein unerwarteter, schwerer Nebel hatte sich über den tiefer gelegenen Teil der Stadt gelegt, aber die Kuppeln und Turmspitzen ragten noch heraus, und es schien, als schwebten sie in der Höhe. Von dem offenen Platz aus sah sie die Straßen, die Brücke und den Fluß, doch alles undeutlich und versunken. Sie wanderte zwischen den Bäumen hindurch, und schon war die Schule nicht mehr zu sehen. Auf einem unberührten Schneepfad beschleunigte sie den Schritt und dachte: »Ich gehe zu ihr.«
Der Ort, zu dem sie gelangte, war ihr unbekannt; er war von Nebel überflutet, und hohe Gebäude ragten auf, deren Umrisse und Farben man nicht erkennen konnte. Ein dunkles Volk lief dort in fieberhafter Eile umher, ohne daß jemand sich stieß oder stehenblieb. Es gelang ihr nicht, in dieser zahllosen Menschenmenge die Gesichter und Kleider zu unterscheiden; alle kreuzten oder überholten einander rings um sie her, und fortwährend ertönten die Schritte, einem Regen ähnlich und wie von einer unendlichen Entfernung gedämpft.
Auch sie fing an zu laufen. »Maria!« rief sie laut; und ihr Ruf kam als Echo zurück und dann ein zweites Mal aus weiterer Ferne. »Maria!« rief sie noch einmal und blieb verwirrt stehen. Eine Stimme, so erstickt und flüchtig, wie wenn man Verstecken spielt, antwortete schließlich: »Clara.« Sie lief ziellos durch die hastende Menge, die sie streifte, ohne sie zu berühren; immer wieder rief sie den Namen der Freundin, bis sie sie mitten zwischen den Leuten stehen sah. Sie erkannte sie ganz deutlich: Sie hatte nur ihre Schulschürze an, und ihre Augen waren starr und weit aufgerissen.
»Frierst du nicht?« fragte sie sie, er hielt aber keine Antwort. »Der Wind hat dich ganz zerzaust«, sagte sie.
Da strich sich Maria zerstreut mit den Fingern durch die Locken.
»Weißt du, daß ich ihn gesehen und mit ihm gesprochen habe?« fuhr Clara leise fort. Die Freundin trat von ihr weg mit verwirrtem Blick und schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir keine Angst machen«, entschuldigte Clara sich rasch, und eine schmerzende Beklommenheit erfaßte sie. Auf dem Gesicht ihrer Gefährtin waren Falten entstanden, ihre Augen hatten sich getrübt, und sie sah plötzlich viel magerer aus. »Das ist gewiß wegen der Krankheit«, dachte Clara.
»Er war es, der mich getötet hat«, sagte die Freundin sogleich mit einer so schrillen Stimme, daß Clara zusammenzuckte. Doch es war nicht mehr möglich, sich verständlich zu machen, ohne zu schreien; alle diese Menschen, die auf der Flucht zu sein schienen, verursachten nun ringsum einen tosenden Wind, und man mußte die Arme dicht an den Körper pressen, um die Kleider festzuhalten. »Warum willst du mitten unter all den Menschen reden?« fragte sie, »war um ziehen wir uns nicht in eine Ecke zurück?« Aber es gelang ihr nicht, ihre Frage und ihren vorwurfsvollen Ton hörbar zu machen.
Maria neigte den Kopf ernst und versunken wie jemand, den es große Mühe kostet, sich zu erinnern. Als sie wieder zu sprechen begann, dämpfte sie ihre Stimme, so daß ihre Worte sich im Sausen der Luft verloren und nur durch die Bewegung der Lippen verständlich waren. Sie schien den Nebel und die Flucht ringsumher nicht zu bemerken; bald sprach sie hastig, bald langsam, wie ein verirrter Vogel, der mit den Flügeln schlägt.
»Er wartete jeden Tag auf mich bei dem Baum«, murmelte sie, verstohlen um sich blickend.
»Jeden Tag bei dem Baum«, wiederholte die Freundin nachdenklich.
»Und als ich krank wurde«, fuhr die andere geheimnisvoll fort, »trat er plötzlich in mein Zimmer. Die Luft war nicht klar, und ich glaubte, ich sei mit euch auf der Straße, ihr lachtet über seine Brille, und ich rief euch zu, ihr solltet ihn davonjagen; aber dann erinnerte ich mich, daß ich wegen des Fiebers im Bett lag und daß dies mein Zimmer war. Er wurde immer größer wie ein schwarzer Fleck, der aus der Tiefe der Wand hervorkam, und sagte: ›Da bin ich, ich bin gekommen.‹ Seine Zähne schlugen aufeinander, während er zu lächeln versuchte. Ich schrie: ›Ich kenne dich nicht! Geh fort!‹
Da nahm er seine Brille ab, damit ich ihn erkennen sollte, und entblößte seine reglosen Augen. ›Warum starrst du wie ein Blinder?‹ fragte ich. ›Weil ich schlafe‹, antwortete er mir, ›ich bin müde. Gestern war Sonntag, du hattest frei, und ich bin bis zum Abend herumgelaufen, um dich zu finden, und habe im Schnee gesucht wie ein Hund, um die Spuren deiner Füße zu entdecken. Ich bin müde, meine Arme sind schwer, meine Knie versagen.‹ ›Geh fort‹, sagte ich zu ihm, ›dies Zimmer gehört mir. Ich habe Angst!‹
›Ich will dir Angst machen‹, er widerte er stotternd, ›aber noch wage ich nicht, dich zu berühren.‹ Und aus der Art, wie er mit den Händen fuchtelte, begriff ich, daß er mich töten würde. Ich schämte mich, mit meiner Mutter darüber zu sprechen, die ihn nicht sah, ob wohl er immerfort in einer Ecke stand. Den ganzen Tag und die ganze Nacht blieb er dort stehen, und ich starrte ihn an und konnte keine Minute schlafen, denn die Matratze brannte, und die Decken waren so schwer. Am nächsten Tag sagte er zu mir: ›Morgen‹, und immer leiser wiederholte er: ›Morgen.‹ Ich wollte auf die Straße fliehen, aber ich hatte keine Kraft mehr in den Beinen. Niemand befreite mich.
Alle gingen auf Zehenspitzen, und dann fing ich an zu schreien, denn das Zimmer wurde ganz leer, und ich sah nichts mehr, nur ihn. Er hatte einen schlechten Anzug an und war bleich, seine Augen starrten mich an, er taumelte, ballte die Fäuste und lächelte mir zu. Ich spürte den Schnee ringsum fallen, und die Wände bogen sich herab über mich und über ihn. Da sagte meine Mutter: ›Sogar mit all den vielen Decken friert sie noch. Sie zittert, die Kleine. Man muß ihr das andere Nachthemd anziehen, das wollene.‹
Als die zweite Nacht vorüber war, wur de der dritte Tag kurz wie eine Minute, und ich hörte, wie der Mann lachte mit einem tiefen Klang. Sein Lachen lief durch das Zimmer wie eine Maus, und es gelang mir nicht, sie fortzujagen, nicht einmal wenn ich mir die Ohren zuhielt. Ich hörte von ferne eure Stimmen, die von mir sprachen, und ich begriff, daß ihr um mein Bett standet. ›Es ist nicht möglich‹, dachte ich, ›daß sie ihm erlauben werden, sich mir zu nähern.‹ Aber im Gesicht spürte ich seinen Atem. ›Nein!‹ schrie ich, ›ich will nicht!‹ Er sagte nichts mehr, und nachdem seine Hände mich getötet hatten, blieben sie schlaff liegen wie Fetzen. Er ging davon auf einer fernen Straße, stieg eine Holztreppe hinauf bis zu einer Tür, und seine Augen schlossen sich vor Müdigkeit. Nun konnte ich mich von ihm entfernen.«