Five Nights at Freddy's

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Five Nights at Freddy's
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FIVE NIGHTS AT FREDDY’S von Scott Cawthon

Romane

Band 1: Die silbernen Augen

ISBN 978-3-8332-3519-1

Band 2: Durchgeknallt

ISBN 978-3-8332-3616-7

Band 3: Der vierte Schrank

ISBN 978-3-8332-3781-2

Band 4: Fazbear Frights 1 – Ab in die Grube

ISBN 978-3-8332-3948-9

Comics

Graphic Novel 1: Die silbernen Augen

ISBN 978-3-7416-2001-0

Nähere Infos und weitere spannende Romane unter

www.paninibooks.de


Roman

Von Scott Cawthon
und Elley Cooper

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Amerikanische Originalausgabe: „Five Nights at Freddy’s: Fazbear Frights #1 – Into the Pit“ by Scott Cawthon and Elley Cooper published in the US by Scholastic Inc., New York, 2020.


Copyright © 2020 Scott Cawthon. All rights reserved.


Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70 176 Stuttgart.


Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: marketing@panini.de)

Presse & PR: Steffen Volkmer


Übersetzung: Robert Mountainbeau

Lektorat: Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln


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ISBN 978-3-7367-9894-6


Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3948-9

1. Auflage, September 2020


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AB IN DIE GRUBE!

„Die tote Beutelratte liegt immer noch da.“ Durch das Beifahrerfenster musterte Oswald den pelzigen Kadaver am Straßenrand. Irgendwie sah er noch toter aus als gestern. Der Regen während der letzten Nacht hatte es auch nicht besser gemacht.

„Nichts sieht toter aus als eine tote Beutelratte“, meinte Oswalds Vater.

„Abgesehen von dieser Stadt“, murmelte Oswald, während sein Blick über die mit Brettern vernagelten Ladenfronten und die Schaufenster glitt, in denen lediglich Staub zu sehen war.

„Was ist das?“, fragte sein Vater. Er trug bereits diese dämliche rote Weste, in die man ihn steckte, wenn er an der Feinkosttheke im Imbiss-Center arbeitete. Oswald wünschte, er hätte sie erst angezogen, nachdem er ihn an der Schule abgesetzt hatte.

„Diese Stadt …“, sagte Oswald, diesmal lauter, „diese Stadt sieht noch toter aus als eine tote Beutelratte.“

Sein Vater lachte. „Das lässt sich kaum bestreiten.“

Vor drei Jahren, als Oswald sieben gewesen war, hätte man hier noch etwas unternehmen können – es hatte ein Kino gegeben, ein Glückwunschkartengeschäft und eine Eisdiele mit unfassbar guten Waffelhörnchen.

Doch dann war die Fabrik geschlossen worden. Die Fabrik war mehr oder weniger die Existenzgrundlage der Stadt gewesen. Oswalds Vater hatte seinen Job verloren wie auch die Mütter und Väter Hunderter anderer Kinder. Viele Familien waren weggezogen, einschließlich die von Ben, Oswalds bestem Freund.

Oswalds Familie war geblieben, weil seine Mutter einen sicheren Arbeitsplatz im Krankenhaus hatte und sie nicht weit weg von Großmutter ziehen wollten. Also nahm Oswalds Vater am Ende einen Teilzeitjob im Imbiss-Center an, bei dem er fünf Dollar pro Stunde weniger verdiente, als er in der Fabrik bekommen hatte, und Oswald musste zusehen, wie die Stadt Tag für Tag immer ein bisschen mehr starb.

Ein Geschäft nach dem anderen schloss, weil niemand mehr das Geld hatte fürs Kino, um zu spielen oder für tolle Waffelhörnchen.

„Freust du dich, dass heute der letzte Schultag ist?“, erkundigte sich sein Vater. Es war eine dieser Fragen, die Erwachsene immer stellten, wie zum Beispiel: „Wie war dein Tag?“ und „Hast du dir die Zähne geputzt?“

Oswald zuckte die Achseln. „Ich denke schon. Aber ohne Ben ist einfach nichts los. Die Schule ist langweilig, aber zu Hause ist es auch langweilig.“

„Als ich zehn war, bin ich im Sommer nie zu Hause gewesen, bevor ich zum Abendbrot gerufen wurde“, meinte sein Vater. „Ich bin Fahrrad gefahren und habe Baseball gespielt und jede Menge Blödsinn gemacht.“

„Willst du damit sagen, ich sollte Blödsinn machen?“, erwiderte Oswald.

„Nein, ich sage, du sollst einfach Spaß haben.“ Sein Vater bog in die Kurzparkzone vor der Westbrook Grundschule ein.

Spaß haben. Bei seinem Vater klang das so einfach.

Oswald ging durch die Doppeltür der Schule und stieß dort sofort auf Dylan Cooper, den letzten Menschen, den er sehen wollte. Oswald war allerdings offenbar genau der Mensch, den Dylan sehen wollte, denn er grinste sofort breit. Dylan war der größte Schüler in der fünften Klasse, und er genoss es eindeutig, seine Opfer zu überragen.

„Wenn das nicht Oswald der Ozelot ist!“, meinte er, und sein Grinsen wurde tatsächlich noch breiter.

„Der Witz ist auch nie zu blöd, oder?“ Oswald grinste ebenfalls und ging an Dylan vorbei. Er war erleichtert, als sein Peiniger sich dazu entschied, ihm nicht zu folgen.

Als Oswald und seine Klassenkameraden aus der Fünften noch in die Vorschule gegangen waren, hatte es im Kinderkanal eine Zeichentrickreihe über einen großen pinkfarbenen Ozelot namens Oswald gegeben. Deswegen hatten Dylan und seine Freunde ihn seit dem ersten Tag im Kindergarten „Oswald der Ozelot“ genannt und nie damit aufgehört. Dylan war ein Junge, der sich sofort über alles lustig machte, was anders war. Wäre es nicht Oswalds Name gewesen, dann seine Sommersprossen oder seine Stirnlocke.

Dieses Jahr waren die Beschimpfungen noch schlimmer geworden, als sie in Geschichte lernten, dass der Mann, der John F. Kennedy erschossen hatte, Lee Harvey Oswald hieß. Aber Oswald wollte lieber ein Ozelot sein als ein Attentäter.

Da es der letzte Schultag war, versuchte niemand, noch ernsthaft zu lernen. Mrs Meecham hatte am Vortag verkündet, dass die Schüler ihre Handys, Tablets, Laptops und Spielkonsolen mit in die Schule bringen durften, solange sie die Verantwortung dafür übernahmen, wenn etwas kaputt oder verloren ging. Schon aus dieser Ankündigung war zu ersehen, dass keinerlei Unterricht mehr stattfinden würde.

Oswald besaß keine modernen elektronischen Geräte. Sicher, es gab zu Hause einen Laptop, aber den teilte sich die ganze Familie, und er durfte ihn nicht mit zur Schule nehmen. Er selbst besaß ein Handy, aber es war ein ziemlich armseliges, völlig veraltetes Modell, und er wollte es niemandem zeigen, denn er wusste, jeder Schulkamerad, der es sah, würde sich darüber lustig machen. Während also die anderen auf ihren Tablets oder mit ihren Konsolen spielten, saß Oswald einfach nur da.

Als er das nicht mehr ertrug, nahm er sich einen Notizblock und einen Bleistift und begann zu zeichnen. Er war nicht sonderlich begabt, doch er zeichnete gut genug, dass man seine Bilder erkennen konnte, und ihr Comic-Stil gefiel ihm. Das Beste am Zeichnen aber war, dass er sich vollkommen darin verlieren konnte. Es fühlte sich an, als würde er in das Papier versinken und zu einem Teil der Szene werden, die er zeichnete. Es war eine sehr willkommene Flucht.

Er wusste nicht warum, aber in letzter Zeit hatte er angefangen, mechanische Tiere zu zeichnen – Bären, Kaninchen und Vögel. In seiner Fantasie waren sie so groß wie Menschen und bewegten sich ruckartig wie Roboter in einem altmodischen Science-Fiction-Film. Außen waren sie pelzig, doch der Pelz bedeckte ein hartes, metallenes Skelett voller Getriebe und Stromkreise. Manchmal zeichnete er auch eben dieses nackte Skelett oder skizzierte sie mit heruntergezogenem Pelz, um die Mechanik in ihrem Innern zu zeigen. Das sah ziemlich gruselig aus, als würde man den Schädel eines Menschen ohne Haut sehen.

Oswald war so versunken in seine Zeichnung, dass er zusammenzuckte, als Mrs Meecham das Licht ausschaltete, um einen Film zu zeigen. Filme schienen immer die letzte Verzweiflungstat eines Lehrers am letzten Tag vor den Ferien zu sein – ein Versuch, die Schüler anderthalb Stunden lang ruhigzustellen, bevor man sie in den Sommer entließ. Der Film, den Mrs Meecham ausgesucht hatte, war Oswalds Meinung nach zu kindisch für eine fünfte Klasse. Er handelte von einer Farm mit sprechenden Tieren, und er hat ihn schon einmal gesehen, doch er sah ihn sich erneut an an, denn was hätte er sonst auch tun sollen?

In der Pause standen Kinder herum, warfen einen Ball hin und her und redeten darüber, was sie im Sommer machen würden:

„Ich fahre ins Football-Camp.“

„Ich fahre ins Basketball-Camp.“

„Ich bin am Pool bei uns in der Nähe.“

„Ich besuche meine Großeltern in Florida.“

Oswald setzte sich auf eine Bank und hörte zu. Für ihn würde es keine Camps geben und kein Schwimmbad und keine Ausflüge, weil kein Geld da war.

Also würde er zeichnen, seine alten Videospiele spielen, die er schon Tausende von Male gewonnen hatte, vielleicht in die Bücherei gehen.

Wenn Ben noch da wäre, würde alles anders sein. Auch wenn sie nur das tun würden, was sie immer getan hatten, würden sie es zumindest zusammen tun. Und Ben konnte Oswald immer zum Lachen bringen, wenn er sich über Figuren aus Videospielen lustig machte oder einen ihrer Lehrer perfekt nachahmte. Ben und er hatten immer Spaß, völlig egal, was sie machten. Doch jetzt gähnte ihm ein Sommer ohne Ben entgegen.

 

Oswalds Mutter arbeitete in der Regel von zwölf bis Mitternacht, weswegen sein Vater meistens das Abendessen machte. Oft gab es Tiefkühlgerichte wie Lasagne oder Auflauf mit Hühnchen, oder Aufschnitt und Kartoffelsalat von der Feinkosttheke, die immer noch gut genug waren, um sie zu essen, aber nicht mehr gut genug, um sie zu verkaufen. Wenn sein Vater kochte, dann waren das normalerweise Sachen, für die er nur Wasser heiß machen musste.

Während sein Vater das Essen vorbereitete, war es Oswalds Aufgabe, Jinx zu füttern – ihre ausgesprochen verwöhnte schwarze Katze. Oswald dachte oft, dass er auch keine größeren Kochkünste bewies als sein Vater, wenn er das stinkende Katzenfutter für Jinx öffnete.

An diesem Abend gab es Käsemakkaroni mit Käse und dazu Dosenmais, den Vater in der Mikrowelle heißgemacht hatte. Es war eine ziemlich gelbe Mahlzeit.

„Weißt du, ich habe nachgedacht“, meinte sein Vater und verteilte Ketchup über seine Käsemakkaroni. (Warum noch mehr Käse?, fragte sich Oswald.) „Ich weiß, du bist alt genug, um auch mal allein zu bleiben, aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass du den ganzen Tag allein zu Hause bist, während deine Mutter und ich bei der Arbeit sind. Ich habe mir gedacht, du könntest immer morgens mit mir in die Stadt fahren, und ich setze dich dann an der Bücherei ab. Du könntest lesen, im Internet surfen …“

Diesen Fauxpas konnte Oswald nicht durchgehen lassen. Wie altmodisch war sein Vater eigentlich? „Niemand sagt heute mehr ‚im Internet surfen‘, Dad.“

„Jetzt schon … denn ich habe es ja gerade gesagt.“ Sein Vater lud ein paar Makkaroni auf seine Gabel. „Jedenfalls habe ich mir gedacht, du könntest immer morgens in der Bibliothek deine Zeit verbringen. Wenn du Hunger bekommst, gehst du einfach zu Jeff’s Pizza und holst dir ein Stück und eine Limo. Und sobald meine Schicht um drei vorbei ist, hole ich dich ab.“

Oswald dachte einen Moment nach. Jeff’s Pizza war ein ziemlich seltsamer Laden. Es war dort nicht dreckig, aber die Pizzeria wirkte ziemlich heruntergekommen. Das Kunstleder auf den Sitzen war mit Klebeband geflickt, und einige Plastikbuchstaben der Speisekarte über dem Tresen waren heruntergefallen, sodass es Zutaten gab wie Peperon und …am…urger. Man sah, dass Jeff’s Pizza früher besser und größer gewesen war als heute. Es gab jede Menge Platz, der nicht genutzt wurde, und viele Steckdosen an der Wand. Am anderen Ende des Raums befand sich außerdem eine kleine Bühne, auch wenn es keinerlei Vorstellungen gab, nicht einmal eine Karaokenacht. Alles wirkte schäbig, und das Restaurant war nicht mehr das, was es einmal gewesen war, genauso wie der Rest der Stadt.

Trotzdem war die Pizza nicht schlecht und, was noch wichtiger war, es war der einzige Laden in der Stadt, wo es Pizza gab, wenn man die tiefgefrorenen aus dem Imbiss-Center nicht mitrechnete. Die wenigen guten Restaurants, einschließlich Gino’s Pizza und Marco’s Pizza (die im Gegensatz zu Jeff’s die Namen richtiger Pizzabäcker trugen), hatten ihre Türen kurz nach der Mühle geschlossen.

„Gibst du mir das Geld für Pizza?“, fragte Oswald. Seit sein Vater seinen Job verloren hatte, war Oswalds Taschengeld praktisch nicht mehr existent.

Vater lächelte – aber irgendwie traurig, schien es Oswald. „Mein Sohn, wir sind im Moment schlecht dran, aber wir sind nicht so schlecht dran, dass ich dir nicht Geld für ein Stück Pizza und eine Limo geben könnte.“

„Okay“, meinte Oswald. Es war schwer, ein warmes Stück Pizza mit viel Käse abzulehnen.

Da am nächsten Morgen keine Schule war und auch länger nicht mehr stattfinden würde, blieb Oswald noch auf, nachdem sein Vater ins Bett gegangen war und sah sich einen alten japanischen Monsterfilm an, während Jinx schnurrend auf seinem Schoß lag. Oswald hatte eine Menge japanischer B-Movies aus dem Horror-Genre gesehen, aber dieser, Zendrelix vs. Mechazendrelix, war ihm neu. Wie immer sah Zendrelix aus wie ein riesiger Drache, aber Mechazendrelix erinnerte ihn an die mechanischen Tiere, wenn er sie ohne Fell zeichnete. Umso mehr lachte er über die Spezialeffekte des Films – der Zug, den Zendrelix zerstörte, war eindeutig ein Spielzeug – und darüber, dass die Lippenbewegungen der Schauspieler nicht zu der englischen Synchronisation passten. Aber irgendwie fieberte er jedes Mal mit Zendrelix mit. Obwohl der nur ein Typ in einem Gummikostüm war, gelang es ihm, eine Menge Persönlichkeit zu entwickeln.

Als Oswald im Bett lag, versuchte er, sich alles vor Augen zu führen, was gut war. Ben war nicht da, aber er hatte Monsterfilme und die Bücherei und es gab Pizza zum Mittagessen. Das ist besser als nichts, doch es würde ihn nicht den ganzen Sommer über beschäftigen. Bitte, flehte er mit fest zusammengepressten Lidern. Bitte lass irgendetwas Interessantes passieren.

Der Duft von Kaffee und gebratenem Speck weckte Oswald. Auf den Kaffee konnte er gut verzichten, aber der Speck roch herrlich. Das Frühstück bedeutete immer, dass er Zeit mit seiner Mutter verbringen konnte. Bis zum Wochenende war es die einzige Möglichkeit. Nach einem kurzen, nicht aufzuschiebenden Halt, lief er den Flur entlang in die Küche.

„Sieh mal einer an! Mein baldiger Sechstklässler hat sich erhoben!“ Seine Mutter stand in ihrem rosafarbenen Bademantel über den Herd gebeugt, das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, und wendete … Oh, lecker, waren das Pfannkuchen?

„Hi Mom.“

Sie breitete die Arme aus. „Ich verlange morgens eine Umarmung.“

Oswald seufzte, als würde ihm das auf die Nerven gehen, aber er umarmte sie. Es war schon lustig. Seinem Vater sagte er immer, er sei zu alt für solche Umarmungen, aber den ausgebreiteten Armen seiner Mutter konnte er nie widerstehen. Vielleicht kam das daher, weil er sie während der Woche nicht oft sah, wohingegen er und sein Vater so viel Zeit miteinander verbrachten, dass sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen.

Er wusste, dass seine Mutter ihn vermisste und das sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie immer so lange arbeitete. Aber er wusste auch, dass Vaters Arbeit im Imbiss-Center nur ein Teilzeitjob war und sie durch Mutters lange Arbeitszeiten die meisten Rechnungen bezahlen konnten. Mutter sagte immer, als Erwachsener würde man ständig um Geld und um Zeit kämpfen. Je mehr Geld man verdiente, um Rechnungen und das Lebensnotwendige zu bezahlen, desto weniger Zeit konnte man mit seiner Familie verbringen. Die Balance hinzubekommen, war gar nicht so einfach.

Oswald setzte sich an den Küchentisch und bedankte sich bei seiner Mutter, als sie ihm seinen Orangensaft eingoss.

„Der erste Tag der Sommerferien, was?“ Mutter ging zurück zum Herd und nahm einen Pfannkuchen aus der Pfanne.

„Mhm.“ Er hätte wahrscheinlich versuchen sollen, begeisterter zu klingen, aber die Energie dafür konnte er einfach nicht aufbringen.

Sie ließ den Pfannkuchen auf seinen Teller rutschen und legte ihm zwei Streifen gebratenen Speck dazu. „Ohne Ben ist es nicht dasselbe, oder?“

Stumm schüttelte er den Kopf. Er wollte auf keinen Fall heulen.

Seine Mutter fuhr ihm durchs Haar. „Ich weiß. Es ist blöd. Aber vielleicht zieht ja jemand Neues in die Stadt.“

Oswald sah die Hoffnung, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. „Warum sollte irgendjemand hierher ziehen?“

„Okay, ich verstehe, was du meinst“, erwiderte seine Mutter und brachte ihm einen weiteren Pfannkuchen. „Aber man weiß nie. Vielleicht lebt ja sogar schon jemand hier, der cool ist. Jemand, den du noch gar nicht kennst.“

„Vielleicht, aber ich bezweifle es“, meinte Oswald. „Die Pfannkuchen sind toll.“

Seine Mutter lächelte und fuhr ihm erneut durchs Haar. „Möchtest du noch mehr Speck? Wenn ja, schnapp ihn dir lieber, bevor dein Vater kommt, und den Rest inhaliert.“

„Klar.“ Frisch gebratenen Speck lehnte Oswald nie ab.

In der Bücherei gefiel es ihm eigentlich immer. Er fand das neueste Buch aus einer Science-Fiction-Serie, die er mochte, und ein Manga sah auch interessant aus. Wie immer musste er Ewigkeiten warten, bis er mal an einen Computer konnte, denn sie waren alle von Leuten besetzt, die wirkten, als hätten sie kein Zuhause. Männer mit struppigen Bärten und Schichten von schäbiger Kleidung übereinander, zu dünne Frauen mit traurigen Augen und schlechten Zähnen. Höflich wartete er, bis er an der Reihe war. Er wusste, dass diese Leute den Tag über in der Bücherei Schutz suchten und die Nacht dann wieder auf der Straße verbrachten.

Jeff’s Pizza war immer noch so schräg, wie er den Laden in Erinnerung hatte. Der weiträumige Bereich hinter den Tischen wirkte wie eine Tanzfläche, auf der niemand tanzte. Die Wände waren in einem blassen Gelb gestrichen, aber es war offenbar billige Farbe verwendet worden oder man hatte nur einmal übergestrichen, denn es war immer noch erkennbar, dass sich vorher etwas an den Wänden befunden hatte. Manchmal versuchte Oswald herauszufinden, was genau das gewesen war, aber es gelang ihm nicht.

Und dann war da noch die Bühne, die nie genutzt wurde. Leer lag sie da, schien aber auf irgendetwas zu warten. Und in der hinteren rechten Ecke befand sich etwas, das noch seltsamer war als die Bühne. Es war ein großer rechteckiger, brusthoher Kasten, umgeben von gelben Netzen, aber alles war mit Seilen abgesperrt, und daran hing ein Schild, auf dem stand: Kein Zutritt. Der Kasten selbst war mit roten, blauen und grünen Plastikbällen gefüllt, die früher wahrscheinlich einmal in den verschiedensten Farben geglänzt hatten, jetzt aber ausgeblichen und staubig waren.

Oswald wusste, Bällebäder waren in Spiellandschaften sehr beliebt gewesen, doch man hatte sie wegen hygienischer Bedenken irgendwann abgeschafft – wer wollte schon all diese Bälle desinfizieren? Oswald hatte keine Zweifel, wären Bällebäder noch beliebt gewesen, als er klein war, seine Mutter hätte ihn nicht darin spielen lassen. Und wenn er sich beschwert hätte, dass sie ihm keinen Spaß gönne, hätte sie gesagt: „Weißt du, was gar keinen Spaß macht? Bindehautentzündung.“

Abgesehen von der leeren Bühne und dem Bällebad war das seltsamste Inventar in Jeff’s Pizza Jeff selbst. Er schien der Einzige zu sein, der dort arbeitete, deswegen nahm er am Tresen die Bestellungen entgegen und bereitete auch die Pizzen zu, doch der Laden war nie so voll, dass dies zum Problem werden konnte. Heute, wie auch an allen anderen Tagen, sah Jeff wieder aus, als habe er eine Woche lang nicht geschlafen. Sein dunkles Haar klebte ihm überall am Kopf, und er hatte erschreckende Tränensäcke unter den blutunterlaufenen Augen. Seine Schürze war voller Tomatenflecken neuerer und älterer Natur. „Was darf ich dir bringen?“, fragte er Oswald und klang gelangweilt.

„Ein Stück Pizza Margherita und eine Orangenlimo bitte“, antwortete Oswald.

Jeff starrte ins Nichts, als müsse er erst darüber nachdenken, ob die Bitte angemessen war oder nicht. Schließlich sagte er: „Okay. Drei fünfzig.“

Etwas zumindest konnte man von Jeffs Pizzastücken guten Gewissens behaupten: Sie waren riesig. Jeff servierte sie auf einem dünnen weißen Pappteller, der schnell voller Fettflecken war, und die Enden hingen immer über den Rand.

Mit seinem Stück Pizza und der Limo rutschte Oswald in eine der Sitznischen. Der erste Biss – die Spitze des Dreiecks – war immer der beste. Aus irgendeinem Grund schmeckte man dort sämtliche Zutaten in einem perfekten Verhältnis zueinander. Er genoss den warmen, schmelzenden Käse, die würzige Soße und die angenehm ölige Kruste. Während er aß, ließ er seinen Blick über einige der anderen Gäste schweifen. Die Mechaniker aus der Autowerkstatt hatten ihre Peperonipizzen zusammengeklappt und aßen sie wie ein Sandwich. Ein ganzer Tisch voller Büromenschen machte sich unbeholfen und mit Messern und Gabeln aus Plastik über ihre Pizza her, damit sie nicht auf ihre Krawatten und Blusen kleckerten, vermutete Oswald.

Nachdem Oswald aufgegessen hatte, wäre ihm ein Nachschlag gelegen gekommen, aber er wusste, dass er dafür kein Geld mehr hatte, deswegen wischte er sich die fettigen Finger ab und zog sein Buch hervor, dass er aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Er trank von seiner Limo und las. Schnell war er in eine Welt versunken, in der Kinder mit geheimen Kräften auf eine spezielle Schule gingen, um zu lernen, wie man das Böse bekämpft.

„Junge.“ Eine männliche Stimme riss Oswald aus seiner Geschichte. Er blickte auf, und vor ihm stand Jeff in seiner Schürze voller Soßenflecken. Oswald vermutete, dass er zu lange geblieben war. Er hatte jetzt zwei Stunden dort gesessen und gelesen, nachdem er für weniger als vier Dollar gegessen und getrunken hatte.

 

„Ja, Sir?“, antwortete Oswald, denn Höflichkeit konnte nie schaden.

„Ich habe noch ein paar Stücke Pizza, die ich über Mittag nicht verkaufen konnte. Willst du sie haben?“

„Oh“, erwiderte Oswald. „Nein, danke, ich habe kein Geld mehr.“ Allerdings wünschte er sich, er hätte noch welches.

„Geht aufs Haus“, meinte Jeff. „Ich muss sie ohnehin wegwerfen.“

„Oh, okay. Klar. Danke.“

Jeff griff nach Oswalds leerem Becher. „Ich schenke dir auch deine Orangenlimonade nach, wenn ich sowieso schon dabei bin.“

„Danke.“ Es war komisch. Jeffs Gesichtsausdruck änderte sich nie. Er wirkte müde und unzufrieden, selbst dann, wenn er besonders nett war.

Jeff brachte ihm zwei Stück Pizza, die er auf einen Pappteller gestapelt hatte, und dazu einen Becher Orangenlimo. „Bitte sehr, Junge“, sagte er und stellte den Becher und den Teller ab.

„Vielen Dank.“ Oswald fragte sich einen Moment, ob Jeff Mitleid mit ihm hatte, weil er vielleicht dachte, dass Oswald fürchterlich arm war wie die Obdachlosen, die sich den ganzen Tag in der Bücherei herumdrückten statt wie die normalen armen Leute, die aber knapp über die Runden kamen und zu denen er gehörte.

Doch dann dachte sich Oswald, wenn man eine Pizza geschenkt bekam, war es nicht der richtige Zeitpunkt, sich über die Gründe dafür Gedanken zu machen.

Oswald bereitete es kein Problem, die beiden großen Stücke zu verspeisen. In den letzten paar Monaten war sein Appetit nicht zu bremsen gewesen. Wenn seine Mutter ihm morgens stapelweise Pfannkuchen machte, sagte sie immer, er müsse einen Wachstumsschub haben, weil er wie ein Scheunendrescher futtere.

Gerade als er den letzten Schluck seiner Limo in sich hineinschüttete, vibrierte das Handy in seiner Tasche. Er warf einen Blick auf die SMS seines Vaters: Bin in zwei Minuten vor Jeff’s.

Perfektes Timing. Was für ein gelungener Tag.

Die Tage, die Oswald in der Bücherei und in Jeff’s Pizza verbrachte, wurden mehr und mehr. Die ersten zwei Wochen waren toll gewesen, aber jetzt stand in der Bücherei das nächste Buch in der Reihe, die er gerade las, nicht zur Verfügung, und das Fantasy-Game, das er online spielte, langweilte ihn allmählich. Obwohl es als gratis angekündigt worden war, konnte er auf einmal nicht mehr weiterspielen, ohne etwas zu bezahlen. Er war es allmählich leid, dass es niemanden in seinem Alter gab, mit dem er etwas unternehmen konnte. Die Pizza war er allerdings noch nicht leid, doch er konnte sich langsam vorstellen, dass auch das irgendwann einmal der Fall sein würde.

Heute stand der Familienabend an. Je nach Mutters Arbeitszeiten fand er einmal in der Woche statt. Als es die Fabrik noch gegeben hatte, waren sie am Familienabend in ein Restaurant zum Essen gegangen – Pizza oder Chinesisch oder Mexikanisch. Und danach hatte man irgendetwas unternommen. Sie hatten sich irgendeinen kinderfreundlichen Film im Kino angesehen, und wenn dort nichts lief, waren sie Bowlen gegangen oder auf die Rollschuhbahn, an der sich seine Mutter und sein Vater immer getroffen hatten, als sie noch auf der Highschool waren. Seine Eltern konnten toll Rollschuhlaufen, ganz im Gegensatz zu Oswald, doch sie nahmen ihn in die Mitte, hielten ihn an der Hand und stützten ihn. Beendet wurde der Abend dann normalerweise mit einem Eis in der Innenstadt. Oswald und seine Mutter machten sich immer über seinen Vater lustig, weil es völlig egal war, welche Geschmacksrichtungen die Eisdiele anzubieten hatte, er nahm stets Vanille.

Doch seit die Fabrik geschlossen war, wurden die Familienabende zu Hause verbracht. Seine Mutter machte dann etwas zum Abendessen, das einfach herzustellen, aber möglichst doch ein bisschen besonders war wie Tacos oder Hotdogs. Sie aßen und spielten dann Brettspiele oder sahen sich einen Film an. Natürlich machte auch das Spaß, doch manchmal sagte Oswald, dass er sich die alten Zeiten zurückwünsche, in denen sie im Kino neue Filme gesehen und danach ein Eis gegessen hatten, und sein Vater musste ihn dann daran erinnern, dass es hauptsächlich darauf ankam, gemeinsam Zeit zu verbringen.

Wenn das Wetter schön war, packten sie für den Familienabend ein Picknick aus kaltem Braten und Salaten zusammen, die aus dem Imbiss-Center stammten, und fuhren ins Naturschutzgebiet. Dort aßen sie dann an einem Holztisch und beobachteten die Eichhörnchen und Vögel und Waschbären. Danach wanderten sie noch über einen der ausgeschilderten Wege. Diese Ausflüge waren immer eine schöne Abwechslung, aber Oswald war auch bewusst, warum dies die einzigen Familienabende waren, die außerhalb des Hauses stattfanden: Picknicks kosteten nichts!

An diesem Abend blieben sie zu Hause. Seine Mutter hatte Spaghetti und Knoblauchbrot gemacht. Sie hatten eine Runde Cluedo gespielt, die seine Mutter wie gewöhnlich alle gewonnen hatte, und jetzt fläzten sie sich zusammen im Pyjama auf der Couch, hatten eine große Schüssel Popcorn zwischen sich stehen und sahen sich die Neuverfilmung eines alten Science-Fiction-Films an.

Als der Film vorbei war, meinte sein Vater: „Das war nicht schlecht, aber nicht so gut wie die richtige Version.“

„Was meinst du mit ‚richtiger Version‘?“, wollte Oswald wissen. „Das war die richtige Version.“

„Nicht wirklich“, entgegnete sein Vater. „Ich meine, es hat im gleichen Universum gespielt wie die richtige Version, aber es war irgendwie ein billiger Abklatsch von dem Film, der herausgekommen ist, als ich noch ein Kind war.“

Sein Vater war immer so starrsinnig. Er konnte sich nie etwas ansehen und es einfach nur genießen. „Die besten Filme sind also die, die du als Kind gesehen hast?“, fragte Oswald.

„Nicht immer, aber in diesem Fall schon.“ Oswald merkte, dass sein Vater sich innerlich auf etwas vorbereitete, das er besonders mochte: ein gutes Streitgespräch.

„Aber die Spezialeffekte in der Originalversion sind mies“, wandte Oswald ein. „All diese Puppen und Gummimasken.“

„Mir sind Puppen oder kleine Modelle viel lieber als diese Computertricks“, meinte sein Vater, lehnte sich auf der Couch zurück und legte seine Füße auf den kleinen Tisch. „Die sind immer viel zu perfekt. Da gibt es überhaupt keine Wärme, alles ist so aalglatt. Und außerdem magst du die alten Zendrelix-Filme, und deren Spezialeffekte sind furchtbar.“

„Ja, aber ich sehe sie mir an, um mich darüber lustig zu machen“, entgegnete Oswald, obwohl er Zendrelix ziemlich cool fand.

Seine Mutter kam mit Schüsselchen voller Eiscreme aus der Küche. Natürlich war die nicht so gut wie aus der Eisdiele, aber auch nichts, was man verschmähen sollte. „Okay, wenn ihr beide diese Hardcorefan-Streitereien nicht lasst, suche ich den nächsten Film aus, und das wird dann eine Liebeskomödie.“

Oswald und sein Vater verstummten auf der Stelle.

„So habe ich mir das gedacht“, meinte seine Mutter und verteilte die Schüsseln mit der Eiscreme.

Als Oswald im Bett lag und seine mechanischen Tiere zeichnete, vibrierte auf dem Nachttisch sein Smartphone. Außer seinen Eltern gab es nur einen einzigen Menschen, der ihm je schrieb.

Hey, hatte Ben getippt.

Hey zurück, gab Oswald ein. Wie läuft dein Sommer?

Super. Urlaub in Myrtle Beach. Ist echt cool. Überall Minigolf und Spielhallen.

Neid, tippte Oswald und meinte es auch so. Ein Strand mit Spielhallen und Minigolf klang wirklich super.

Schade, dass du nicht hier bist, schrieb Ben.

Ja, schade.

Wie läuft dein Sommer?

Okay, tippte Oswald. Er war kurz versucht, seinen Sommer besser klingen zu lassen, als er war, aber Ben hatte er noch nie anlügen können. War viel in der Bücherei und hab in Jeff’s Pizza gegessen.

Das ist alles?

Im Vergleich mit einem Familienausflug an den Strand klang es tatsächlich kläglich. Er schrieb: So ziemlich, ja.

Tut mir leid, tippte Ben. Und dann: Der Pizzaladen ist gruselig.

Sie chatteten noch eine Weile, und obgleich Oswald sich freute, von Ben zu hören, stimmte es ihn auch traurig, dass sein Freund so weit weg war und ohne ihn so viel Spaß hatte.

Es war Montagmorgen, und Oswald hatte schlechte Laune. Da halfen nicht einmal Mutters Pfannkuchen. Im Auto drehte sein Vater das Radio zu laut auf. Es war irgendein dämlicher Song über einen Traktor. Oswald stellte ihn leiser.

„Hey, der Fahrer bestimmt die Musik. Das weißt du“, mahnte sein Vater. Dann drehte er den fürchterlichen Song noch lauter als vorher.

„Das ist ganz schlechte Musik“, entgegnete Oswald. „Ich versuche nur, dich vor dir selbst zu schützen.“

„Also ich mag diese Songs aus den Videospielen, die du dir anhörst, auch nicht“, meinte sein Vater. „Aber ich platze trotzdem nicht einfach in dein Zimmer und stell sie aus.“