Love – Konsequent scheitern (Band 2)

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Manuel hob den Persönlichkeitstest bei ElitePartner hervor, der nach seiner Meinung etwas profunder vorgehen würde, weil er beziehungsrelevante Persönlichkeitsmerkmale abfragen würde, etwa persönliche Kompetenzen und Interessen. Ein Matching-System würde dann die Antworten mit denen von anderen Nutzern vergleichen und Prozentwerte ermitteln. Je höher dabei der erreichte Prozentwert einer Übereinstimmung sei, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit für eine gelingende Partnerschaft, so die Theorie. Ob man aber wirklich zu einem anderen Menschen passen würde, nur weil eine 99-prozentige Übereinstimmung erzielt würde, bezweifelte Manuel stark. Weil zu viel Harmonie und Übereinstimmung die lebendige Dynamik in einer Beziehung vernichten würde, sowie Leidenschaft und Erotik. „Wenn erotische Langeweile um sich greift, enden die Liebesbeziehungen direkt im Grab. Die lässt sich auch bei einer 100-prozentigen Übereinstimmung nicht herbeizaubern.“ Manuel drehte sich halb um die eigene Achse, um sich zu vergewissern, dass ihm auch alle zuhörten, fragte dann, ob noch etwas von der Limo übrig sei. Sein Mund sei völlig ausgetrocknet. Clarissa nickte, nahm den Krug und schenkte ihm den Rest von der Kräuterlimonade ein.

Mara zog sich in den Schatten zurück, weil sie die Hitze nicht mehr so gut vertragen würde wie früher, meinte sie. So gut es ging, machte sie es sich in einem Korbsessel bequem und streckte die Beine aus. Es war Sonntagnachmittag und am Himmel war kein Wölkchen zu sehen.

„Apropos erotische Langeweile“, begann Manuel kurze Zeit später, denn das Thema ließ ihm einfach keine Ruhe. „Monogamie droht doch auszusterben, seitdem es die Partnersuche im Netz gibt.“ Der leichte Zynismus in seiner Stimme war nicht zu überhören, als er fortfuhr: „Wie man hört, sind wir Männer im Netz auf einem anderen Kurs – dem bequemeren und billigeren. Dort draußen leben wir angeblich freier und ungehemmter unsere Triebe aus, jagen lustvoll nach gebärfähigen Frauen, die sich mühelos von uns abschleppen lassen. Ob man den virtuellen Frauenverschleiß, sei er nun tatsächlich oder eingebildet, als eine Art moderne Männlichkeitsdarstellung bezeichnet oder als eine einsame Art zu leben, das, hm, das weiß ich selbst nicht.“ Manuel nervten derartige stereotype Denkschablonen gewaltig und er nutzte die Gunst der Stunde, sie mit subtilem Sarkasmus zu kritisieren, ohne dabei seine Stimme zu erheben und in Wut zu geraten.

„Mein Mitbewohner behauptet ständig, das ewige Eheversprechen gehöre ins letzte Jahrhundert und in einer festen Beziehung könne man ganz selbstverständlich Nebenbeziehungen pflegen“, sagte Clarissa darauf, die selbst wenig überzeugt davon klang.

„Ziemlich selbstgefällig und herablassend“, kommentierte Giulia, die aber meinte, dass Monogamie nichts mit Liebe zu tun hätte. Mit zwei Fingern kramte sie das Handy aus ihrer löchrigen Jeanshose heraus.

„Aber so einfach ist das nicht“, funkte Mara dazwischen. Sie erhob sich aus dem Korbsessel und ging schnurstracks auf Manuel zu. „Fakt ist doch“, brachte sie mit starker Stimme hervor, „dass sich im Netz sexistische und über Jahrzehnte verinnerlichte Plattheiten über veraltete Frauenbilder geradezu pandemisch über den Globus verbreiten, ohne dass daran irgendjemand Anstoß nimmt.“

Giulia legte ihr Handy auf den Tisch, stand auf und rannte zum Pool. Statt die Dinge auszudiskutieren, Meinungen und Interessen auszugleichen, brauchte sie jetzt eine Abkühlung. In voller Montur sprang sie kopfüber in das kühle Nass hinein und quietschte vor Freude, als sie den Kopf wieder aus dem Poolwasser rausstreckte. Die Freunde nahmen keine Notiz von ihr und redeten einfach weiter. Die Welt um sie herum schien vergessen.

„Ich habe nicht an die Männer gedacht, die einen Event daraus machen, Frauen zu betrügen, zu belügen, ihnen nachzustellen, sie abzuschleppen. Es ging mir um die viel-beschworene Treue in einer Langzeitbeziehung. Ähm, darum, wie man Sex und Erotik darin am Leben erhalten kann, ohne sich laufend auf Nebenschauplätze einlassen zu müssen“, verteidigte sich Manuel. „Das ist doch ein quälend-lähmender Marathon, wenn man sich aus reinem Pflichtgefühl ein Leben lang mit ein und derselben Person abrackern muss. Außerdem hast du vorhin selbst gesagt, dass Affären neuen Schwung in Beziehungen bringen. Oder habe ich da was falsch verstanden?“

„Nein, hast du nicht. Davon bin ich nach wie vor überzeugt, vorausgesetzt etwaige Affären werden offen angesprochen und konstruktiv aufgearbeitet. Eine Geheimnistuerei zerstört doch die emotionale Sicherheit in einer Beziehung“, konterte Mara.

„Emotionale Sicherheit?“ Auf Manuels Stirn bildeten sich Denkerfalten. Er wirkte etwas desillusioniert, auf eine Art, die man nicht richtig bestimmen konnte. Mara begründete: „Heutzutage geht es in den Beziehungen nicht mehr um die wirtschaftliche Sicherheit, die früher bei einem Seitensprung in erster Linie gefährdet war, sondern um die emotionale Sicherheit, die, wenn sie zerstört ist, eine Identitätskrise bei der betroffenen Person auslösen kann. Weil dann das Bild zerstört ist, dass man alles für den Beziehungspartner ist – Sexpartner, Freund, Seelenklempner, Kumpel – und man seine Erwartungen und Ansprüche analysieren und kritisch hinterfragen muss.“ Mit unbeteiligter Miene beobachtete sie Clarissa, die intensiv mit ihrem Handy beschäftigt war, erhob sich und sagte nachdenklich: „Aber du hast recht, Manuel. Auch ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich meine, wie es zu schaffen ist, Erotik in einer langen Beziehung am Leben zu erhalten?“

„Erotische Intelligenz.“ Clarissas Kommentar überraschte sie, vor allem, weil er so unerwartet kam. Sie legte das Handy zur Seite und gestand ein, dass sie mit Dennis eine Paartherapie machen wollte. „Schon mal was davon gehört?“, fragte sie. Manuel schüttelte den Kopf. Mara verneinte ebenfalls. Offensichtlich konnte Clarissa gleichzeitig Nachrichten auf ihr Smartphone eintippen und zuhören. Denn sie wusste genau, worüber die beiden sprachen, als sie fortfuhr: „Auch mir stellt sich die Frage, wie es Leute schaffen, über Jahrzehnte die Lust und Erotik in einer Partnerschaft aufrechtzuerhalten. Doch als mich Giulia auf Esther Perel aufmerksam machte, begann ich mich mit ihren Ansätzen zu beschäftigen und wurde fündig.“

„Klingt spannend. Erzähl“, sagten die beiden wie aus einem Mund.

„Hm. Perel sieht in Affären und Seitensprüngen nicht das Ende einer langjährigen Beziehung, sondern Chancen auf eine Neuausrichtung, auf Wachstum, Selbstentdeckung und auf mehr Lustgewinn. Verständlich, dass ihre progressiven Ansätze nicht überall auf Zustimmung stoßen und sie sich mit Hassmails der übelsten Art auseinandersetzen musste. Sie ließ sich jedoch nicht entmutigen und ging mit dem sehr emotionalen Thema ,Untreue in traditionellen Beziehungen‘ an die Öffentlichkeit. Sie gründete einen Podcast und stellte immer wieder die simple Frage: Where should we begin? In ihren Vorträgen können die Zuhörer eigene Ideen und Konzepte auf einer großen Bühne präsentieren. Weltweit motivierte sie Paare, an ihren öffentlichen Therapiesitzungen teilzunehmen. Auch wenn die vollständige Anonymität dabei nicht garantiert war, breiteten Millionen von Menschen ihr innerstes Gefühlsleben aus und redeten über intimste Beziehungsprobleme. Zwar sind die Ansätze von der Therapeutin nicht neu, aber das digitale Angebot ist einzigartig.“ Clarissa beteuerte, dass sie davon zwar fasziniert sei, da es sich theoretisch gut anhören würde, doch sexuelle Untreue und mangelnde Verlässlichkeit hätten ihr schon immer schwer zu schaffen gemacht, und das Thema würde sie nach wie vor ziemlich belasten.

„Affären, Erotik, Sex – das sind mächtige Beziehungsthemen“, brachte sich Giulia ein, die wieder unter ihnen weilte und gleich wusste, worum es ging. Sie hatte sich zurechtgemacht und sah in der weißen Sommerbluse zum Anbeißen aus. „Ehrlich, das ist auch der Grund, warum ich mich auf Lucas nicht einlassen will. Weder läuft die Sache rund, noch sind die Chats mit ihm befriedigend. So ist es unmöglich herauszufinden, was wirklich los ist. Ist es der Reiz des Verbotenen? Der Durst nach Abenteuer und Abwechslung? Will er gewisse unerfüllte Sehnsüchte mit Erfolg krönen?“ Zwanglos plauderte Giulia heraus, worüber sie sich im Moment in dieser Liebesangelegenheit den Kopf zerbrach.

„Der Mann soll sich besser auf Tinder umschauen. Dort kann er sich nach Lust und Laune austoben“, riet ihr Clarissa unverhohlen.

„Bei Tinder findet er jede Menge Frauen, die Lust auf schnellen Sex haben, wenig Wert auf persönliche Ansprachen und das romantische Drumherum legen. Man muss sich weder auf den anderen einlassen, noch eine Einladung für ein Abendessen oder ins Kino aussprechen“, bekräftigte Mara, die wieder im Korbsessel im Schatten saß, und, wie es den Anschein hatte, schon praktische Erfahrungen mit der Dating-App gemacht hatte.

Manuel hörte angespannt zu. Doch er ließ Mara erst ausreden, bevor es regelrecht aus ihm herausplatzte: „Wisst ihr, dass sich bei Tinder so mancher Flirt als Betrug entpuppt und im Stalking endet?“

„Darüber habe ich mir echt noch keine Gedanken gemacht.“ Clarissa schaute Giulia an, die verneinend den Kopf schüttelte.

Manuels Beschützerinstinkt erwachte. Wild entschlossen fing er an: „Probleme gibt es vor allem dann, wenn ein Mann eine Zurückweisung nicht verkraftet, seine Machtposition aber mit aller Gewalt verteidigen will.“ Er machte eine Pause, atmete tief ein und fuhr mit leiser Stimme fort. „Das Prinzip von Tinder ist denkbar einfach: Wenn eine Frau einem Mann gefällt, dann wischt man rechts über das Display und ein grüner Kasten erscheint mit dem Wort: Like. Gefällt ihm eine Frau nicht, wischt er sie nach links, und weg ist sie. Wenn sich zwei Personen ein ‚Like‘ schenken, kommt es zu einem ‚Match‘. Der Love-Chat kann beginnen.“

 

„Für Menschen ab dem dreißigsten Lebensjahr, die in der Leistungsmaschine gefangen sind, ist Tindern ein extrem bequemes und billiges Mittel auf der Suche nach Liebe“, äußerte sich Clarissa dazu.

„Ganz genau. Denn persönliche Treffen ergeben sich gewöhnlich sehr schnell, auch wenn man bis zuletzt nicht weiß, wer einem dann tatsächlich im realen Leben begegnen wird“, bekräftigte Manuel spontan und führte aus, dass es den Leuten meist um Sex gehen würde, so lange, bis ein Partner anfängt, unbequeme Fragen und Forderungen zu stellen. „Wenn einem das dann zu viel wird, holt man sich den nächsten Partner, die nächste Partnerin. Zweifellos kann man auf diese Weise jede Menge von unterschiedlichen Bekanntschaften machen. Selbst, wenn man an One-Night-Stands kein Interesse hat.“

„Warum kennst du dich bei Tinder so gut aus?“, fragte Giulia neugierig und setzte sich gerade auf.

Aus der zerknautschten Zigarettenschachtel vor ihm fischte Manuel abermals eine Zigarette heraus. Anstatt sie jedoch anzuzünden, hielt er sie zwischen den Fingern. Er antwortete: „Mein Sohn.“ Es dauerte eine Weile, bis er mit etwas mehr Details herausrückte: Dass sein Ältester der App verfallen wäre und ihm nichts anderes übrig geblieben sei, als sich damit auseinanderzusetzen. Da er den Kontakt zu Tobias nicht verlieren wollte. Und mit einem sachlichen Vatergesicht bemerkte er: „Im europäischen Vergleich gehören Deutschland und Großbritannien zu den größten Tinder-Märkten. Seit der Jahrtausendwende sind in diesen Ländern weit über 100 Millionen Profile angelegt worden. Bei Tinder werden oft Leute aus der unmittelbaren Umgebung angezeigt, was für die schnelle Erreichbarkeit dienlich ist. Natürlich kann jede Person selbst entscheiden, was und wie viele Informationen man über die persönliche Wohnsituation, über Vorlieben und Interessen preisgegeben will. Kinder und Jugendliche kommen damit aber nicht zurecht. Da sie doch schnell und freiwillig alles über sich herausrücken, wenn es um Liebe und Erotik geht.“

Manuel betonte, dass er das Suchen nach Liebe in der digitalen Welt keineswegs per se verteufeln würde, und dass nicht hinter jedem digitalen Liebesprofil gleich eine Enttäuschung lauern würde, aber die Sache mit seinem Sohn würde ihn sehr beschäftigen. Seit Monaten würde er sich überwiegend in seinem Zimmer verschanzen, egal wo, in Kopenhagen bei ihm oder in Hamburg bei seiner Ex. Es war ihm anzusehen, dass ihm die Sache unter die Haut ging.

Giulia zeigte sich verständnisvoll und lenkte das Thema in eine andere Richtung, indem sie darauf hinwies, dass die sozialen Medien einem auch Möglichkeiten eröffnen würden, neue, weltumspannende Räume zu entdecken. Sie argumentierte vor allem damit, dass man im Internet binnen Sekunden mit befreundeten Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt treten könne. Und dass in Zeiten von hohen Leistungsanforderungen, internationaler Mobilität und persönlichen Verpflichtungen das Internet eine effiziente Sache sei, sich schnell zu informieren und umzuschauen, wenn man mit einer bestehenden Beziehung unzufrieden sei, einen Abbruch verkraften müsse oder sich einfach nur neu orientieren wolle. „Zweifelsohne haben Google, Facebook, Instagram und alle anderen auch Vorteile“, folgerte sie.

Clarissa, die sich aus guten Gründen zurückgehalten hatte, wandte sich höflich an Manuel: „Du lebst in Kopenhagen. Deine Söhne pendeln zwischen Hamburg und Kopenhagen hin und her. Deine Freunde sind auf der ganzen Welt verstreut und …“

„Diese Beziehungen sind aber alle in der Realität gewachsen“, unterbrach er sie energisch.

„Und, ähm, in solchen Fällen ist das Internet einfach spitze. Was ich kritisiere und noch mehr bezweifle, ist, dass wegen eines bloßen digitalen Kontaktes eine Liebesbeziehung entwickelbar ist, die in der Realität über einen längeren Zeitraum hinweg Bestand hat.“

„Die digitalen Medien haben aber auch meine in der Realität gewachsenen Kontakte ganz schön im Griff.“ Diesen neuen Aspekt brachte Giulia ein.

„Hm. Wie soll man das verstehen?“, fragten Manuel und Clarissa gleichzeitig.

Sie würde die Leute in ihrem privaten Umfeld immer weniger oft in der Realität treffen, erläuterte Giulia ihre Gedanken und fuhr fort: „Wir chatten inzwischen doch alle quasi Tür an Tür. Stundenlange persönliche Gespräche. Das Zusammensitzen wie früher, in denen die Tagesaktivitäten besprochen oder Gedanken geordnet wurden, wenn die Emotionen hochschlugen, gehören heutzutage doch zu einer aussterbenden Kommunikationsform.“ Wohingegen man auf diese Nähe in der Kommunikation doch schlecht verzichten könne, wenn man beispielweise Vertrauen und soziale Sicherheit in einer Liebesbeziehung nach einem Seitensprung zurückgewinnen möchte. „Überhaupt, was heißt denn früher? Die Zeit ist ja gerade so mal vorbei.“ Giulia schnippte mit den Fingern, als ob sie die alten Zeiten herbeizaubern wollte. „Vor ein paar Jahren war es noch egal, was man füreinander tat. Wichtig war, dass jemand da war, wenn man jemanden brauchte, und dass man sich darauf verlassen konnte. Heute findet man diesen Jemand immer weniger oft in der Realität als im Internet. Das ist doch verrückt!“

„Die Medien wirbeln unser soziales Miteinander ganz schön durcheinander. Verhaltensweisen, Werte. Ähm, all das verändert sich massiv.“ Clarissa fasste sich an die Brust, wo ihr Herz saß, war es doch genau das, was ihr in ihrer Ehe mit Dennis am meisten fehlte: Gehaltvolle Gespräche am Tisch, anstelle von endlosen WhatsApps und Mails. Ihr fehlten die einfachen Rituale in ihrer Beziehung: Gemeinsam positiv in den Tag starten, einen gemeinsamen Abend genießen, die ein oder andere Zärtlichkeit im Alltag, der Anruf, wenn es eine Terminänderung gibt. War sie zu Hause, stand Dennis in der Küche seines Sternerestaurants, instruierte das Personal, sprach mit den Gästen, saß bis tief in die Nacht im Büro. War er zu Hause, arbeitete sie in der Kanzlei, hastete von einem Gerichtstermin zum anderen. Kommuniziert wurde via Handy – zu Hause war man allein. Und weil Clarissa dieser Kopfzirkus zu viel wurde, stand sie wortlos auf und verschwand.

„So schwer es fällt. Wir kommen nicht umhin, unsere Beziehungen in der Realität zu pflegen“, betonte Giulia. „Auf Dauer kommt doch keine Beziehung ohne nachhaltige, reale Kontakte aus. Wie soll man ein anderes Leben sonst verstehen?“ Giulia saß Manuel gegenüber und fragte ihn unverblümt: „Wie oft hast du deine Ex in den Arm genommen, einfach so, ohne Grund, und ihr gesagt, dass es schön ist, dass sie da ist?“ Sie beugte sich etwas nach vorn, weit genug, sodass er tief in ihren Ausschnitt schauen konnte, wich wieder zurück und richtete sich kerzengerade auf.

Manuel ließ das Feuerzeug aufflammen und zündete sich die Zigarette an, die er zwischen den Fingern hielt. Ungerührt sah er Giulia an, zuckte mit den Schultern und sagte in einem pathetischen Ton: „Vergangene Erlebnisse reichen auch nicht aus, um eine Beziehung nachhaltig zu pflegen. Auf der Basis von gegenwärtigen Momenten planen wir doch Zukünftiges. Menschen, die wir lieben, mit denen wir zusammenleben und zusammenarbeiten, müssen wir daran teilhaben lassen.“

Während diese und die anderen Dialoge sehr berührend waren und zum Nachdenken anregten, war es ziemlich bedauerlich, dass Manuel danach verstummte, was wohl daran lag, dass sich Mara im Korbsessel regte. Wie eine Katze streckte sie sich, während sie herzhaft gähnte. Manuel schien total fasziniert davon zu sein, wie geschmeidig sie ihren superschlanken Körper von links nach rechts drehte.

„Habe ich was verpasst?“, fragte sie spitzbübisch, als sie mit ihrer Darbietung fertig war, und erklärte, dass sie vor sich hingedöst und sich nicht auf die Konversation konzentriert hätte.

Giulia antwortete. „Wir sprachen über Love-Apps – Tinder und Co, darüber, dass man sich in der Liebe auf keine normierten Abläufe festlegen kann und dass …“ Mitten im Satz brach sie ab. In ihrer Haut fühlte sie sich unwohl, obschon sie von Natur aus zuvorkommend und gefällig war. Die Rolle der braven Schülerin, die Rede und Antwort stand, sobald man sie fragte, hatte sie hinter sich gelassen. Manuel könne doch berichten, sagte sie schnippisch, stand auf, um nach Clarissa zu suchen, die wie vom Erdboden verschluckt war.

Eilig ging sie in die Küche, danach durch den Garten die Treppen zum Pool hinunter. „Vielleicht füttert sie ja die Fledermäuschen im Keller, am Hang, unterhalb vom Pool“, rief ihr Mara heiter hinterher.

Der Erdkeller stand offen. Giulia ging langsam und in leicht gebückter Haltung hinein. Ihr Blick wanderte herum. Es schien sich um einen zweckentfremdeten Lagerraum zu handeln, in dem der Gärtner, der auch für die Poolanlage zuständig war, seine Gerätschaften in einer Ecke aufbewahrte. In der gewölbten Decke klafften Risse, und im Gemäuer gab es unzählige Nischen und Löcher durch die Sonnenlicht drang und die kleinen Vampire rein- und rausfliegen konnten. Von einem befreundeten Biologen wusste sie, dass die nachtaktiven und streng geschützten Tierchen auch Gebäude besiedelten, um sich dort tagsüber in den Mauerrissen zu verstecken und sich vor Eindringlingen zu schützen. Der Eigentümer der Finca muss ein Tierschützer sein, überlegte sie, weil er die Nachtjäger nicht aus ihrem Kellerquartier verjagte. Ob sie sich gerade an der Decke kopfüber schlafend festhielten oder im Gemäuer versteckten, konnte Giulia beim besten Willen nicht erkennen. Und ganz gewiss wollte sie die Kerlchen nicht aufscheuchen. Zumal ihr bei dem Gedanken, sie könnten jederzeit über ihren Kopf hinwegfegen, unheimlich wurde und sie sich deshalb auf und davon machte. Als Giulia draußen um die Ecke in Richtung Pool ging und Clarissa mit einer Sichel in der Hand, einem Küchensieb und Beutel wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte, stieß sie einen lauten erschreckten Ton aus.

„Hast du ein Eis dabei?, scherzte Clarissa.

„Nee. Ich habe nach dir gesucht. Und bei der Gelegenheit erfahren, dass sich im Keller Fledermäuse eingerichtet haben. Was machst du hier unten?“

Giulia ließ sich die Furcht vor den Tierchen nicht anmerken und tat so, als sei nichts geschehen. Ihre Freundin liebte Tiere. Fledermäuse genauso wie Lino, den Esel auf dem Nachbargrundstück, den sie täglich mit einem Apfel fütterte.

„Ich sammle Kräuter für die nächste Runde Limo. Die ersten zwei Liter gingen ja weg wie nichts. Außerdem lenkt mich das ab.“

„Aha. Brauchst du Hilfe?“

„Nein. Bin gleich fertig.“

Giulia stieg die Natursteintreppen zur Terrasse wieder hoch. Schon von weitem erkannte sie, dass Mara nach ihr Ausschau hielt. Und als sie an den Tisch trat, warf sie ihr einen fragenden Blick zu. Clarissa würde im Garten Kräuter sammeln, erwiderte Giulia sogleich und fragte Mara leicht provozierend, ob sie denn was verpasst hätte? Mara ging auf ihre Anspielung mit keinem Wort ein, während sich Giulia an die Kopfseite des Tisches setzte, wo sie die Geschehnisse im Blick hatte. Sie war immer noch etwas verstimmt, was sie auf Maras affektiertes Getue zurückführte. Mal sitzt sie da, mal dort. Mal schläft sie, mal beteiligt sie sich, sodass sie stets die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Kennt jemand John Wilson?“, fragte Manuel plötzlich aus heiterem Himmel und unterbach Giulias wirren Gedankenstrom. Gleich darauf lief er ins Haus und kam mit einem Buch unterm Arm rasch zurück. „Ich liebe dich so, wie du bist‘“, sagte er und verriet, dass er das unscheinbare Büchlein vorgestern im Bücherregal entdeckt hätte. Seither würde er zwischendurch zwei, drei Seiten darin lesen. Schneller wäre der kompakte Stoff nicht zu schaffen. Er blätterte ein paar Seiten um, dann wieder zurück, bis er die gesuchte Stelle fand, mit der er sich intensiver auseinandergesetzt hatte. Und zitierte: „dass, wenn die Partner über keine individuellen Fähigkeiten verfügen würden, über Eigenschaften, die dem anderen fehlen und nach denen er sich sehnt, …“ Manuel hielt kurz inne, bevor er weiterlas: „dass dann die erotische Spannung und das Begehren nicht ausreichen würden, die Liebe zwischen zwei Menschen nachhaltig zu nähren.“ Aus einer Beziehung würde vielleicht Harmonie, Wohlwollen, Teilhabe, gegenseitiges Interesse, aber es würde keine elektrisierende Kraft entstehen, wie sie nur zwischen zwei gegensätzlichen Polen aufkommen könne und die für romantisch Liebende von größter Bedeutung sei. Lust und Erotik allein würden auf Dauer zwar stimulierend wirken, in leidenschaftlichen Beziehungen könne das aber zu erotischer Eifersucht und problematischen Machtkonflikten führen, fasste Manuel am Schluss zusammen. Dann legte er das Buch auf den Tisch, die aufgeschlagenen Seiten nach unten und schob sein leeres Glas beiseite. „Beim Lesen ging mir durch den Kopf, dass es dem Millionengeschäft der Onlinepartner-Industrie schnurzpiepegal sein kann, ob diese elektrisierende Kraft zwischen zwei Liebenden entsteht, oder nicht. In erster Linie muss die Kasse stimmen. Den Konzernen und Verlagen, die sich dahinter verstecken, geht es um wirtschaftliche Interessen, darum, jährliche Umsätze in zweistelliger Millionenhöhe zu generieren, weit weg von jeglicher Gefühlsduselei. Und weit weg von philosophisch-schöngeistigen Ansätzen.“ Manuel sah zu Giulia hinüber, gespannt darauf, wie sie sich dazu äußern würde. Ihre freigeistige Haltung schien im gut zu gefallen, da sie horizonterweiternde Beiträge jenseits des Mainstreams in die Gespräche einbrachte, ohne verkrampft und starrköpfig zu wirken. Giulia wiegte sich gerade rhythmisch im Takt der Musik, die aus der Küche drang. Sie machte aber keine Anstalten irgendetwas darauf sagen zu wollen.

 

„Hits aus den 80ern und 90ern.“ Clarissa tänzelte barfuß mit einem Tablet aus der Küche und schenkte am Tisch die frisch angesetzte Kräuterlimonade in vier Gläser ein.

„Was für eine Wohltat“, schwärmten alle und bedankten sich fast schon überschwänglich für das durstlöschende Getränk.

„Wir haben schon vernommen, dass du im Garten auf der Suche nach Kräutern unterwegs warst“, sagte Mara bestens gelaunt.

„Vegan, durch und durch“, antwortete Clarissa stolz. Sie erhoben ihre Gläser und stießen auf ihr Zusammensein an – den eigentlichen Zweck des Kurztrips.

„Nun sag schon, Giulia, wie findest du die Aussagen von Wilson?“, fragte Manuel sie direkt, „ich würde gern darüber diskutieren.“

„Nun ja. Alex kam mir in den Sinn. Die vielen Machtkonflikte, der Beziehungsstress und, und, und.“ Giulia bedankte sich für den Literaturtipp und meinte, darüber intensiver nachdenken zu wollen. Während sie nach dem Buch griff, das vor ihr auf dem Tisch lag.

„Und du, Mara?“

Manuel war wirklich erpicht darauf, weiter darüber zu diskutieren. Doch Mara zögerte, schaute zur Seite. Es war ein ungewohntes Bild, das die sonst redselige 46-Jährige abgab.

„Was ist?“ Ungeduldig wippte Manuel mit dem rechten Fuß, während Mara schwieg.

„Lass doch“, kritisierte Giulia sein Verhalten. Sie hätte ihn schließlich wegen des Zustands seines Sohnes auch nicht gelöchert. Eher intuitiv nahm sie Mara in Schutz. Am Tisch wurde es still. Nur Lino schrie ein paarmal. Als Manuel im Begriff war wegzugehen, räusperte sich Mara und fing leicht nervös an: „Wilsons Ansätze klingen plausibel. Und, ähm, meine Ex-Beziehung war weder erfüllend noch elektrisierend. Obwohl wir uns gegenseitig respektierten, es harmonisch zuging. Hm. Bis mir schließlich bewusst wurde, dass ich auf Frauen stehe, und ich mich dieser Tatsache stellen muss.“

„Frauen?“, unterbrach Manuel, dem erst einmal die Sprache wegblieb.

Maras Stimme klang jetzt rau und belegt, worauf ihr Clarissa Limonade nachschenkte. Sie nahm das Glas, leerte es in einem Zug und gestand, dass sie sich zunächst heimlich auf verschiedenen Plattformen umgeschaut und gezielt nach Frauen gesucht hätte.

Manuel griff nach der zerknautschten Zigarettenschachtel, drehte sie auf dem Tisch hin und her.

„Ehrlich?“

„Maximal ehrlich!“

Mara hatte sich wieder gefangen, und ihre Stimme klang klar und kräftig wie eh und je. Ihr spontanes Coming-out kam für alle überraschend. Im Gegensatz zu Clarissa und Giulia war Manuels seelisches Gleichgewicht doch ein wenig aus dem Lot geraten.

„Aha, jetzt verstehe ich auch deinen Kommentar, dass Frauen ohne romantisches Brimborium Lust auf Sex haben können. Ich habe mich schon gefragt.“ Clarissa fasste sich an den Kopf, so als ob sie gerade eine wichtige Entdeckung gemacht hatte.

„Bi oder lesbisch?“, fragte Manuel mit einem angespannten Gesicht. Es fiel ihm schwer zu glauben, was er gerade gehört hatte. Und zweifellos musste er jetzt seine Hoffnungen begraben.

„Lesbisch. Seit zwei Jahren wohne ich mit Linda zusammen, und, ähm, bald wird geheiratet. Endlich habe ich mein Glück gefunden und den Menschen, der mir guttut. Mit meinem Ex-Mann verschwendete ich viele Jahre meines Lebens. Immer fehlte mir etwas, das, was man das Gelbe vom Ei nennen könnte. Als schließlich eine neue Kollegin in meine Abteilung kam, geschah es: Ich verliebte mich. Konnte nichts dagegen tun. Mein Single-Leben in London und meine Sucherei im Internet waren auf einen Schlag beendet – obschon es nicht leicht war, mich einer jüngeren Frau zu öffnen, die bereits mit einer Frau verheiratet war, ähm, und über jede Menge lesbischer Erfahrungen verfügte.“

Mara war sichtlich erleichtert und atmete tief ein, als sie aufstand, auf Manuel zuging und ihn von hinten umarmte. Aus ihrem Innern strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus.

„Das muss ich erst mal verdauen.“ Manuel blieb teilnahmslos auf seinem Stuhl sitzen und starrte vor sich hin.

„Ich weiß. Aber danke, dass du nicht locker gelassen hast.“ Mara legte ihm fürsorglich eine Hand auf die Schulter. Um ihrer Freundschaft willen hätte sie ihm das längst sagen sollen, da ihr seine Aufmerksamkeiten und sehnsüchtigen Blicke nicht entgangen seien, erwähnte sie.

Manuel hatte sich gefangen, wirkte selbstsicher und doch betroffen. „Seit der Schulzeit kennen wir uns. Ähm. Damals bin ich voll auf dich abgefahren. Jetzt schäme ich mich über meine Teenagerfantasien und dass ich diesen noch nachhänge. Am meisten bedaure ich aber, dass ich dir keinen Raum ließ, dich mir frei und ohne Zwang anzuvertrauen.“

„Wow. Was für eine großzügige Geste.“ Giulia war begeistert, auch wenn Manuels Worte etwas kitschig und übertrieben klangen. „Und ich dachte, Himmel, was für eine Romanze. Da konnte man schon richtig neidisch werden“, kommentierte sie offen die neue Realität.

„Was soll’s! Hauptsache der Liebeshimmel tut sich über einem auf – ob nun schwul, lesbisch, hetero oder was auch immer. Warum zum Teufel stellen wir uns die Liebe immer nur zwischen zwei Heteros vor?“ Clarissas versöhnlichen Worten, stimmten alle ohne Wenn und Aber zu.

„Dann, dann wollte ich noch was sagen, nämlich, ähm.“ Maras Stimme überschlug sich fast vor Freude. „Nämlich, dass ich mich, ähm, weil ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen wollte, bei ElitePartner angemeldet hatte. Auch, hm, weil ich nach ein paar Jahren ohne feste Beziehung selbstbewusster mit meinen Bedürfnissen und meiner Neigung umgehen – unbeschwerter und freier nach einer Frau suchen konnte. Ich musste erst innerlich heranreifen und mit mir selber klarkommen, bevor ich mich auf das Neue einlassen konnte. Und nun bin ich guten Mutes und kann behaupten, dass jeder Mensch selbst herausfinden muss, was er braucht und ihm guttut. Mit Linda habe ich meine Lebensendliebe gefunden. Sie betreibt inzwischen eine kleine Kunstgalerie in London. Nachdem wir unsere Beziehung etabliert hatten, verließ sie meine Abteilung und fand das, was sie immer schon machen wollte: Moderne Kunst sammeln und verkaufen.“

Giulia eilte in die Küche, holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und brachte sie zusammen mit vier Sektgläsern auf einem Tablett auf die Terrasse. Am Tisch löste sie die Agraffe und ließ den Korken mächtig knallen.

„Darauf stoßen wir jetzt an – auf ein langes Beziehungsglück für Mara und Linda. Auf uns alle. Möge uns die Liebe zufallen, und wir den Mut finden, uns darauf einzulassen.“ Giulia jubelte, als Clarissa einschenkte und Manuel feierlich seine Stimme erhob: „Auf Freundschaft, Liebe und das Leben.“ Offen sprach er dann über seine Liebesbrüche. Und dass er nach der letzten Schlappe eine innere Schutzwand aufgebaut hätte. Er sei zwar kein typischer Casanova, aber mal die, mal jene, das wäre aktuell die einzige Option, auf die er sich einlassen würde. Eine feste Beziehung würde er nicht vermissen. Dagegen das Gefühl von Vertrautheit und Innigkeit, das schöne Gefühl von Gemeinsamkeit, abends auf dem Sofa und morgens beim Aufwachen. Das, ähm, das würde er ehrlich vermissen. Und ließ seinen Blick über seine Zuhörerinnen schweifen.