Problemzone Ostmann?

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Die Jahre des Studiums wurden zu einer großen Belastung für die ganze Familie und natürlich für mich. Ich musste die Ferien von 800 Kindern aus dem Bezirk Dresden in einem Zentralen Pionierlager retten. Die bisherige Leitung war überfordert. Aus dem einem Jahr wurden zwei Jahre, und dann pendelte ich zwischen Dresden (Wohnort), Leipzig (Studienort) und Güntersberge (Arbeitsort) hin und her. Zugabteile und Bahnhofswartesäle wurden meine Studierzimmer. Man kann sich leicht vorstellen, dass das für die Familie zu einer Festigkeitsprobe wurde. Das Fernstudium musste ich 1966/67 unterbrechen. Die Belastung war zu hoch. Im Februar 1968 legte ich in Leipzig noch das Staatsexamen in Russisch ab. Aber während der Schreiberei an meiner Diplomarbeit war ich gesundheitlich am Ende. Alfred ging zu Boden. Am 1. Oktober 1968 erfolgte meine Exmatrikulation.

Während meines Fernstudiums begann für mich bereits am 1. Dezember 1966 ein vollkommen neuer Lebensabschnitt. Mir wurde die Verantwortung über die größte Jugendherberge der DDR, die Jugendburg Ernst Thälmann in Hohnstein/Sächsische Schweiz, übertragen. Damit endete meine hauptamtliche Tätigkeit in der FDJ* und Pionierorganisation. Nach 17 Jahren wurde ich aus dem Verband verabschiedet und mit der höchsten Auszeichnung »Freund der Jugend« geehrt. Die Burg Hohnstein spielte in meinem Leben eine ganz besondere Rolle. Sie war eines der ersten Konzentrationslager in Deutschland, wurde im März 1933 eröffnet. Konrad Hahnewald hatte sie 1926 zur Jugendburg umgestaltet und wurde ihr erster Jugendherbergsleiter. Er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und weigerte sich, auf der Burg die Hakenkreuzfahne zu hissen. Er wurde dort einer der ersten Häftlinge. Meine Lehrmeister im Sachsenwerk/Niedersedlitz waren Überlebende dieses KZ und schlugen mich 1966 als Herbergsleiter vor. Diese große Herberge verfügte über 290 Plätze im Winter und 420 Plätze im Sommer. Das waren circa 5.600 Übernachtungen im Jahr. Auf einem internationalen Seminar der Jugendherbergsleiter in Warschau im Jahr 1969 stellte die DDR erneut den Antrag, Mitglied der internationalen Jugendherbergswerksföderation zu werden. Bis dahin waren alle Anträge auf Drängen der Bundesrepublik abgelehnt worden. Als Leiter der größten Jugendherberge sollte ich das Jugendherbergswesen der DDR vorstellen. Ich kannte ja nur meine Herberge und über unsere Jugendburg Hohnstein berichtete ich, wie wir das vielfältige Herbergsleben gestalteten, aber auch das antifaschistische Vermächtnis hochhielten. Die internationale Skepsis, vor allem die der anderen Deutschen, blieb. Daraufhin lud ich deren Generalsekretär ein, sich persönlich zu überzeugen. Er war Engländer, kam mit seiner Frau, blieb nicht wie geplant zwei Stunden, sondern einen ganzen Tag. Er hat für die Aufnahme der DDR gesorgt. Von da an war unsere Jugendherberge Treffpunkt für viele internationale Ereignisse. Hier waren wirklich Jugendliche aus der ganzen Welt.

Leider war die Jugendherberge immer eine große Baustelle und ich der Bauchef. Das hat mir die letzte Kraft genommen. Als mir mein Arzt sagte, dass ich aufhören müsste, sonst gebe es für mich nur noch Grab oder Klapsmühle, zog ich die Reißleine. In einer Abschiedsrunde mit all meinen Freunden, Mitarbeitern, Bauarbeitern ließ ich diese wichtigsten Lebensjahre Revue passieren. Dabei waren auch meine wissenschaftlichen Ratgeber der beiden Ausstellungen über das KZ und die Naturkunde, die wir gemeinsam dort gestaltet hatten. Wir packten unsere Koffer und stürzten uns in das nächste Abenteuer: die bedeutend kleinere Jugendherberge in Chorin. Der bisherige Leiter hatte nach dem Tod seiner Frau zu trinken begonnen. Die Jugendherberge war verwahrlost. Innerhalb weniger Wochen sollte ich sie in einen vorbildlichen Zustand bringen. Man gab mir 480.000 Mark, damit die Herberge für die Weltfestspiele im Sommer 1973 in Berlin als Reservequartier für ausländische Touristen bereitstand. Dazu musste eine Zufahrt für Busse gebaut werden. Ich schaffte es wieder. Die ersten Gäste wurden die normale Belegung, die Reserve wurde nicht nötig. Ausgelegt war die Herberge für 99 Betten. Ab 100 Betten hätte dem Herbergsleiter ein höheres Gehalt zugestanden. Nach unserer Silberhochzeit 1975 reichte es meiner Frau. Wir hatten seit 1966 nie mehr in einer eigenen Wohnung, sondern immer in Zimmern der Herberge gelebt. In den zurückliegenden zehn Jahren machten wir zweimal Urlaub, davon einmal in einer Herberge, in der wir die 14 Tage doch gearbeitet hatten. Sie stellte mich vor die Wahl: »Entweder, wir ziehen zusammen von hier weg, oder du bleibst allein hier.« Daraufhin habe ich das erste Mal in meinem Leben aus persönlichen Gründen gekündigt.

Ich schaute ins Protokoll des Parteitages, um nach einem Neubauwohngebiet zu suchen, in dessen Nähe ich Arbeit finden könnte. So kam ich auf Marzahn und die dortige Berliner Werkzeugmaschinenfabrik. Beim Kaderleiter fragte ich, ob er einen Werkzeugmacher gebrauchen könne. Als er hörte, wie lange ich aus dem Beruf war, schlug er mir vor, für die Produktionsvorbereitung die Produktionslenkung zu übernehmen. Die Erfüllung meiner zweiten Bitte, eine Wohnung zu bekommen, dauerte noch sehr lange. Schneller als alles andere wurde ich Innendienstleiter der Kampfgruppe* des Betriebes. Endlich, nach einem Jahr und Krach mit dem Kaderleiter, nahmen sie mich in die AWG* auf. Für eine Wohnungszuweisung war es notwendig, selbst Arbeitsstunden zu leisten. Die durfte ich nach Feierabend im Betrieb ausführen. In der Abteilung Feinmechanik habe ich nach meinem ersten Feierabend oft bis spät abends entgratet, und das ein halbes Jahr lang. Ich habe darüber Buch geführt. Ich bekam die Wohnung und suchte mir eine Zweizimmerwohnung mit Balkon aus. Wir dachten, dass unsere Tochter irgendwann ausziehen und es für uns reichen würde. Wichtig war der Fahrstuhl. Hier wohne ich noch heute. Ich hatte die Wohnung noch nicht bezogen, da kam die Partei und meinte: »Jetzt, wo du in der Nähe eine Wohnung in Aussicht hast, brauchen wir dich unbedingt für das Gebiet um das Dorf Marzahn als Parteisekretär.« Ich ließ mich breitschlagen und startete mit 18 Genossen verstreut über ganz Marzahn und Hellersdorf. Das habe ich bis 1990 gemacht. Dann waren wir 420 Genossen und ich schlug eine Teilung vor. Nachdem ich geholfen hatte, drei Leitungen zu bilden, vergaß mich meine Partei. Keiner war hier, niemand wollte meinen Parteibeitrag, lud mich zu Parteiversammlungen ein. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, vielleicht auch aus Selbstschutz. Mich sprechen die Leute bis heute an. Niemals ist mir einer blöde gekommen.

Anfang April 1995 kam Inge vom Briefkasten mit einem Schreiben vom FFO-Reiseclub. »Ich habe dir doch gesagt, dass du noch einmal nach Italien kommen wirst.« Sie erinnerte sich daran, dass ich 14-jährig ein paar Wochen im Postkinderaustausch in Pesaro und in Rom war. Alt war mein gehegter Wunsch, noch einmal an der Adria spazieren zu gehen. In Rimini kamen wir beim Strandspaziergang an einem Gebrauchtwagenhandel vorbei. Inge bemerkte als erste einen roten Opel Corsa Swing. »Das ist ein schöner Wagen: Fünftürer, Automatik-Getriebe ... Den müssen wir haben.« Im Autohaus in Marzahn fanden wir den Bruder. Mit unserem OCSI machten Inge und ich schöne Reisen. Gerade hatten wir die letzte Rate an die Bank bezahlt, da musste sich meine Inge für immer verabschieden. Der Krebs hatte zugeschlagen. Die Fahrt zum Balaton in Ungarn sollte die letzte sein. In den Folgejahren führte mich mein OCSI unfallfrei durch halb Europa. »Zoo-Safari« hießen die meisten Unternehmungen. Dazwischen, von 2001–2010, war er mein Transportmittel zur Arbeit in den Tierpark Berlin-Friedrichsfelde. 380-mal brachte er mich allein zu Einsätzen als Tierparkbegleiter in den größten Landschaftstierpark Europas. Zwischendurch klaute mir jemand auf dem Parkplatz die Kennzeichen und ›kaufte‹ dafür billig Sprit. 2013 sollte OCSI endgültig in Rente gehen, also in die Schrottpresse. Mein Nachbar hatte etwas dagegen: »Verkaufe uns doch den Wagen. Der Bruder in Armenien würde sich freuen.« Die Nachbarn sorgen sich liebevoll wie die eigene Familie um Opa Alfred. Ihre Angehörigen gehören zu meinem Freundeskreis. Es ist schön, dass solche Inseln des Zusammenlebens in der Gesellschaft mit den Ellenbogen erhalten blieben. Verschenken ging nicht, also verkaufte ich OCSI für einen Euro. Und er bekam ein zweites Leben. Im Container reiste er von Berlin über Hamburg mit dem Schiff bis ins Schwarze Meer nach Batumi (Georgien). Jetzt musste er nur noch 500 Kilometer mit eigener Kraft fahren. In der bergigen Gegend um Arteni in Armenien kann OCSI noch einmal so richtig zeigen, was in ihm steckt.

Von meiner Arbeit als Tierparkbegleiter sprach ich bereits. Begonnen hatte es mit einem Kleingartenfest in Marzahn, das der Tierpark Berlin unterstützte mit einem Stand, hinter den man mich stellte. Ich hatte doch keine Ahnung von Zoologie. Also bin ich einfach bei einer Führung mitgelaufen. Kurz darauf bat man mich, eine Führung selbst durchzuführen. Es war jemand erkrankt. Ich habe alles notiert, die Anlässe, die Teilnehmer und die Tiere, die wir besuchten. Von 2001 bis 2010 waren es 380 Einsätze mit 3.421 + X Personen, davon 2.099 plus X Kinder. Das Plus X steht für die, die ich nicht zählen konnte. Größter Renner waren die Kindergeburtstage. Die 171 Kindergeburtstage bei den Elefanten machten nur einen kleinen Teil aus. Das Geburtstagskind konnte sich sein Lieblingstier aussuchen, das wir besuchten. Die Runde dauerte immer eineinhalb Stunden. Am Anfang sagte ich immer: »Kinder, nehmt mir das nicht übel, aber ich habe keine Ahnung, fragt ruhig weiter. Wenn ihr morgen wiederkommt, kriegt ihr die Auskunft.« So fuhr ich jedes Mal vom Tierpark nach Hause und vervollkommnete mein Wissen über das Internet und Bücher. Im Jahr 2001 kam ich auf die Idee, eine Kollektion zum Anfassen aufzubauen. Die Kinder konnten dabei die unterschiedlichen Felle fühlen und streicheln. Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass ich persönlich 135 Zoos in vielen Ländern besucht habe. Heute helfe ich im Norden von Berlin noch einem Wildkatzenzentrum, schreibe die Schilder für die einzelnen Gehege. Jetzt fahre ich mit meinem Rollator. Nachdem meine Betreuerin mich morgens duscht, mache ich ein kleines Nickerchen. Danach setze ich mich täglich für ein paar Stunden an den Computer und arbeite vor allem an unseren Familienstammbäumen. Und da kann ich noch viel beisteuern.

 

Wolfgang, Jahrgang 1956 | 2 Kinder, verheiratet in erster Ehe

Ost: Lehrer, Schallplattenunterhalter, West: Lehrer, DJ

Mitarbeiter Kreiskabinett für Kulturarbeit, Heizer

Seit meiner Schulzeit
lege ich als DJ Musik auf

Ich bin in N. geboren und lebte bis auf die Jahre meines Studiums immer hier. Direkt nach dem Abitur ging ich nach Berlin an die Humboldt-Uni, um Lehrer für Mathe und Physik zu werden. Der Kelch der Armee ging zum Glück an mir vorbei. Anfänglich war ich sehr unsicher, was ich studieren sollte, Lehrer oder etwas Technisches. Dass meine Wahl gut war, merkte ich während meines ersten Praktikums. Ich konnte gut mit Kindern arbeiten und bekam ziemlich schnell ein Vertrauensverhältnis zu ihnen. Nach dem Studium kehrte ich an meine eigene Schule zurück und spürte bereits in der Vorbereitungswoche und im Gespräch mit dem Schulleiter Ablehnung wegen meines Äußeren. Er sagte: »So fangen Sie nicht an zu arbeiten. Die Haare sind zu lang, der Bart muss ab, und Sie ziehen etwas anderes an – keine Westjeans und Parka.« Das kümmerte mich wenig und ich erschien am ersten Schultag unverändert. Meine Auseinandersetzungen mit dem Direktor und später dem Schulrat waren völlig absurd.

Interessant war für mich nach der Wende, dass dieser Schulleiter IM* war. Immer wieder versuchte man, mich zu drangsalieren, und sei es, mich auf »freiwilliger Basis zur sozialistischen Hilfe« zu schicken. So lernte ich in meinen ersten zwei Jahren zehn Schulen im Umland von innen kennen, was eigentlich damals nach dem Absolventengesetz nicht zulässig war. Ich war also ständig zu Feuerwehreinsätzen unterwegs, wenn irgendjemand für längere Zeit erkrankte. Manchmal war ich an meiner Stammschule nur drei Tage in der Woche.

Seit meiner Schulzeit war und bin ich in meiner Freizeit in Sachen Musik unterwegs. In der DDR war ich als DJ staatlich geprüfter Schallplattenunterhalter. Seitdem lege ich fast ohne Unterbrechungen auf. Als Anfang der 1980er Jahre der städtische Jugendklub in unser eigentliches Kulturhaus umziehen sollte, sahen wir, zwei Freunde und ich, die riesige Chance, die Jugendkultur in der Stadt mitzugestalten. Zu dritt erarbeiteten wir eine ausführliche Konzeption für die Gestaltung, die Nutzung der Räumlichkeiten und die Programminhalte. Wir holten sogar Kostenvoranschläge von Firmen für den Umbau ein. Einige Gewerke konnten die später aktiven Jugendlichen nicht selbst erledigen. Völlig außergewöhnlich in der ansonsten zentralistisch durchorganisierten DDR wurde diese privat erstellte Konzeption als Vorlage in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht und einstimmig beschlossen.

So erhielten wir drei Privatpersonen den Auftrag, die Konzeption mit Jugendlichen umzusetzen. Völlig ohne die FDJ* begannen wir, Jugendliche zu gewinnen. Bei einer Werbeveranstaltung für das neue Projekt trugen sich fast 100 Jugendliche in Listen ein, um bei der Schaffung eines eigenen Jugendzentrums fernab des verordneten Kulturbetriebes mitzuarbeiten. Es galt, Wände rauszureißen, zu stemmen, diverse Farbschichten zu entfernen, Möbel und Lampen, eine Bühne zu bauen und und und. Nach einem Dreivierteljahr war am 1. Mai 1983 die Schlüsselübergabe. Ab dem Tag begann der Stress. Eine Woche später sollte in dem Kulturhaus eine DDR-weite Tagung zur Sozialistischen Fest- und Feiergestaltung stattfinden. Für diese Großveranstaltung sollten die Jugendlichen, die nun Mitglieder eines FDJ-Jugendclubs waren, Karten abreißen und die Garderobe besetzen. Das fiel aus und sorgte so für den ersten Konflikt.

Bis 1986 arbeitete ich als Lehrer. Wegen der vielen Querelen innerhalb der Schule mit Schulleiter, Schulamt, aber auch mit einigen aus dem Kollegium quittierte ich nach sechs Jahren meinen Dienst. Statt einer Kündigung musste ich allerdings eine Formulierung finden, die es mir erlaubte, nach dem Bruch mit der Schule überhaupt noch eine Arbeit zu bekommen und in der Jugendkulturarbeit weiterzumachen. Zur damaligen Zeit waren wir ein anerkannter Kulturträger in der Stadt mit ständig vollem Haus. Unsere diversen Veranstaltungen waren über die Kreis- und Bezirksgrenzen hinaus bekannt. Aufgrund der langjährig guten Erfahrungen in der inhaltlichen Arbeit mit der Jugendkultur wurde ich Mitarbeiter im Kreiskabinett für Kulturarbeit. Dort war ich verantwortlich für die Schulung ehrenamtlicher Jugendklubleiter, organisierte Beispielveranstaltungen und Lehrgänge. Ziemlich viel Kraft investierten ein Vertreter der FDJ-Kreisleitung* und ich in eine Untersuchung über die Durchsetzung des Jugendgesetzes in unserem Landkreis. Wir prüften, ob wirklich, wie es das Jugendgesetz der DDR verlangte, in jeder Gemeinde ein Jugendklub oder ein Jugendzimmer existierte. Das Ergebnis war ernüchternd. Von 72 Gemeinden fanden wir nur in 18 einen Jugendclub. Das Resultat dieser Untersuchung hat mein Vorgesetzter, der vordem mein Schuldirektor war, allerdings radikal verfälscht. Er drehte es einfach um und berichtete, dass nur noch in 18 Gemeinden etwas Nachholbedarf bestünde. Das reichte mir und ich kündigte diesmal – von heute auf morgen.

Es wäre durchaus möglich gewesen, von den Einkünften als Schallplattenunterhalter zu leben, jedoch benötigte man in der DDR als Amateur-DJ noch einen Hauptberuf. Die Hürden, als Diskjockey hauptberuflich arbeiten zu dürfen, waren hoch. Ganz besonders musste man politisch makellos und möglichst Parteimitglied sein. So fand ich als Hauptberuf einen Job als Heizer. In den Monaten von Oktober bis März oder April musste ich morgens in vier Verkaufsstellen des Konsum anheizen, damit die Kunden und die Angestellten es bei Verkaufsbeginn warm hatten.

Als Jugendclub im Stadtgarten waren wir in vielerlei Hinsicht abhängig vom Wohl und Wehe der dort tätigen Angestellten. Ein Rockkonzert musste um 23:45 Uhr beendet sein, sodass die letzten Gäste um Mitternacht raus waren. Bei einem Heavy-Metal-Konzert 1985 konnten wir das nicht durchsetzen. Die Musiker spielten und die Zuschauer forderten Zugaben. Um 23:55 Uhr sagte mir der Mitarbeiter: »Wenn nicht sofort Schluss ist, schraube ich die Sicherung raus.« Und er tat es. 250 bis 300 Leute standen in einem völlig dunklen Saal ohne Ton. Da kam Panik auf. Daraus wurde eine unglaubliche Story gesponnen und unter den Mitarbeitern und in den Parteigremien weitergetragen: In dieser brenzligen Situation wäre ich mit meinem Freund aus Protest auf die Bühne gesprungen, hätte den rechten Arm gehoben und begonnen, das Deutschlandlied zu singen. Absurd. Dennoch erhielten wir aufgrund dieser fingierten Vorwürfe Hausverbot – im eigenen Laden. Im Laufe der Jahre gab es immer wieder Versuche von offizieller Seite, uns als Jugendzentrum zu schaden. So hätten während eines Rockkonzerts bei uns im Saal angeblich Gäste einer anderen Veranstaltung, die räumlich direkt unter dem Saal an einer Bar saßen, sich durch die im Rhythmus unserer Musik schwingende Decke bedroht gefühlt und die Bar fluchtartig verlassen. Man ließ ein Gutachten erstellen, nach dem Einsturzgefahr bestünde. Fortan durfte in unserem Saal nicht mehr getanzt werden. Sämtliche Rockkonzerte und Veranstaltungen, bei denen es zu Bewegungen kommen konnte, wurden gestrichen. Wir machten aus der Not eine Tugend und entwickelten verschiedenste Formate für sogenannte sitzende Veranstaltungen. Wir suchten und fanden später einen Sachverständigen in der Bauakademie der DDR, der das Gutachten überprüfen sollte. Er vermutete spontan, dass das Gutachten falsch sei und wollte dafür den fachlichen Nachweis erbringen. Ihm könne man nichts mehr, er stehe kurz vor der Rente. Das Gutachten kam genau zu diesem Schluss. Demnach war es unbedingt notwendig, dass solche Böden schwingen konnten, das mussten sie sogar. Im Ergebnis konnten wir nach circa drei Jahren wieder tanzen. Das waren nur zwei von vielen Versuchen, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen und unser Jugendzentrum immer wieder an den Rand der Existenz zu bringen. Wir waren eine ziemlich verschworene Gemeinschaft. Ich bin sehr froh und auch stolz, dass der Laden trotz all dieser Versuche heute noch existiert, 30 Jahre nach der Wende – wenn doch mit vielen Höhen und Tiefen. Und sehr stolz sind wir, dass nachwachsende Generationen unseren Staffelstab übernommen haben und vor allem nach der Wende die Überführung eines FDJ-Jugendclubs in einen allseits anerkannten Verein gelang.

Meine Töchter sind 1982 und 1984 geboren. So um 1988/89, meine ältere Tochter ging schon zur Schule, stellten wir fest, dass es nur noch ein paar Lehrer gab, die wirklich Haltung zeigten in diesen mittlerweile aufregenden und von großer Unzufriedenheit und dem Wunsch nach Glasnost und Perestroika in der DDR geprägten Vorwendetagen. Da bekam ich Lust, wieder als Lehrer einzusteigen. Also schrieb ich im Sommer 1989 eine Bewerbung. Aus Zeitgründen schickte ich sie erst während unserer Urlaubsreise in Prag ab. Wir waren auf dem Weg nach Ungarn, wohin viele in diesem Sommer fuhren, um in den Westen zu gehen. Viele unserer Bekannten hatten uns abgeschrieben. Wir wollten jedoch nicht abhauen. Nach meiner Rückkehr war der Termin zu einem Vorstellungsgespräch längst verstrichen. Ich ging hin und man erklärte mir, unter welchen Bedingungen ich als Lehrer anfangen könnte: Erstens müsste ich mein Äußeres dem einer sozialistischen Lehrerpersönlichkeit angleichen, zweitens sollte ich ein klares Bekenntnis zu den Beschlüssen des gerade stattgefundenen IX. Pädagogischen Kongresses der DDR erklären, in dem Margot Honecker u.a. das Ziel festlegte, die Jugend müsse notfalls mit der Waffe in der Hand den Sozialismus verteidigen. Drittens müsse mir klar sein, dass ich wegen der drei Jahre Abstinenz vom Schuldienst Fortbildungen besuchen müsse und keine Zeit mehr für Kulturarbeit hätte, und viertens hätte ich kein Wunschrecht für die Einsatzschule. Meine Antwort: »Wir können über alles reden, aber die Schule möchte ich selbst bestimmen.« So wurde aus dem Neuanfang erst mal nichts.

In dieser Zeit trafen sich das erste Mal ein Dutzend Leute konspirativ in N. in einer Tischlerwerkstatt, um zu beraten, welchen Beitrag wir zu Veränderungen in der DDR leisten könnten. Wir organisierten gemeinsam mit Leuten von der evangelischen Kirche erste Montagsgebete mit anschließenden Demonstrationen. Ausgangspunkt war immer die Klosterkirche. Als DJ begleitete ich mit meiner Tontechnik fast alle diese Demonstrationen. So holten wir quasi das Neue Forum* nach N. Eine Reihe ganz profaner logistischer Probleme waren dabei zu überwinden. Die Mitgliederlisten mussten zum Beispiel von Bärbel Bohley aus Berlin geholt werden. In diese Listen mussten sich während des Montagsgebets bis zu 400 Menschen eintragen. Jeder fühlte sich danach zum Neuen Forum* und damit zur Opposition zugehörig.

Anfang 1990 wurde ich angesprochen, ob ich für die ersten freien Kommunalwahlen kandidieren würde. Ich war erst einmal überrascht, denn so weit hatten wir anfangs noch gar nicht gedacht. Letztlich bekamen wir unsere Wahllisten voll, um für das Neue Forum* zu kandidieren. Ich hatte nicht ansatzweise damit gerechnet, dass ich gewählt werden würde. Jedoch erreichte ich ein ziemlich gutes Wahlergebnis. Ich wurde als Mitglied des Kreistages und meine Frau zur gleichen Zeit in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Wir hatten unglaubliche Stapel Akten durchzuarbeiten. Es galt, das gesamte DDR-Verwaltungssystem in das bundesrepublikanische zu überführen und gleichzeitig aktuelle Kommunalpolitik zu machen. Das Verrückte war, dass ich mir damals nur vorstellen konnte, eine Wahlperiode im Kreistag zu sitzen. Danach sollten andere ran. Heute bin ich nach der siebenten Wahlperiode immer noch im Kreistag. Anfangs wollten wir als 89er in keine Partei, sondern unbedingt eine Bürgerbewegung bleiben. Das konnten wir nicht lange durchzuhalten, weil wir ein ganz großes Problem in unserer Region hatten, das in meinen Augen nicht allein mit Bürgerinitiativen zu lösen war. Es ging um den Luft-Boden-Schießplatz in der Kyritz-Ruppiner Heide. Seit 1945 wurde das Gelände von der Roten Armee expandierend genutzt. 1989/90 war es über 144 Quadratkilometer groß. Das Problem war, dass nach dem Abzug der russischen Armee sowohl die Bundeswehr als auch die 14 Anliegergemeinden Interesse an diesem Gelände hatten. Die Anwohner hatten nach 45 Jahren ›Krieg üben‹ vor der Haustür die Nase von donnernden Düsenjets und explodierenden Bomben gestrichen voll. Es lagen Ideen für die Nutzung zum Beispiel als Kiesgruben, für die Landwirtschaft oder den Naturschutz vor. Dem stand die Bundeswehr gegenüber, die die Heide wie bisher nutzen wollte. So formierte sich eine einzigartige ständig wachsende Bürgerinitiative, die Freie Heide. Nach 17 Jahren Kampf für eine nichtmilitärische Nutzung der Region verzichtete der damalige Verteidigungsminister letztlich auf die Pläne des Bundes. Nicht nur wegen des Ergebnisses, sondern auch wegen der vielen fantasievollen gewaltfreien Aktionen war das absolut außergewöhnlich. Die Auseinandersetzungen wurden mit diversen Verteidigungsministern geführt. Dazu bedurfte es einer Partei, die im Bundestag vertreten war. Für mich kam nur eine Partei dafür infrage, die Grünen. Wir haben mit der Freien Heide wirklich was geschafft. Und das auf drei Ebenen: Auf der einen Seite nutzten wir natürlich die Straße mit Demonstrationen und Kundgebungen. Es war imposant, dass anfangs jeden Monat vielleicht 200 bis 300 Leute demonstrierten, was auf Dauer nicht durchzuhalten war. Es gab eine ganze Reihe von Aktionen zivilen Ungehorsams. Um nur eine zu erwähnen: Wir errichteten in einer Nacht- und Nebelaktion mitten auf dem Bundeswehrgelände eine Gedenkstätte für die Opfer der letzten Kriegstage. Hier kreuzten sich nämlich die Wege von versprengten Wehrmachtseinheiten, Flüchtlingen aus den Ostgebieten und ehemaligen KZ-lern. Mitstreiter unserer Bürgerinitiative berichteten, dass sie in den letzten Kriegstagen als 15-Jährige gezwungen wurden, dort Leichen zu verscharren. Neben der Straße war das Parlament eine wichtige zweite Säule unseres Protestes. Über alle Parteien hinweg haben wir es erreicht, dass sich der Bundestag damit beschäftigte, ob die militärische Nutzung gegen sämtliche Anliegergemeinden, Kreistage bis zum Land Mecklenburg-Vorpommern durchgesetzt werden konnte. Die dritte Schiene war die juristische. Wir hatten Unterstützung durch die besten Rechtsanwälte in der Bundesrepublik, die u.a. gegen das Atomkraftwerk Wyhl in den 1970er Jahren erfolgreich geklagt hatten. Von über fünfzehn Prozessen haben wir fast alle uneingeschränkt gewonnen. Die Bundeswehr mit ihrer Sonderstellung in diesem Land hatte bis dahin bei solchen Auseinandersetzungen immer Recht bekommen. Dementsprechend überheblich traten deren Rechtsanwälte vor Gericht auf und wurden immer wieder in die Schranken verwiesen.

 

Zum absoluten Höhepunkt entwickelten sich unsere Ostermärsche. Beim letzten bestand für mich die Herausforderung, mit meiner Diskotechnik 15.000 Menschen zu beschallen. Wir hatten Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet, internationale Presse, bis zur japanischen. Mich beeindruckte am meisten, dass wir so viele Engagierte mit unterschiedlichsten Motiven zusammenbrachten. Dabei waren Anwohner, die 40 Jahre lang russische Tiefflieger und Bombenabwürfe ertragen mussten, Leute, die 1947 unter vorgehaltener Kalaschnikow gezwungen wurden, ihr Land zu verkaufen, Bildungsbürger, Autonome, Pazifisten, Vertreter von Parteien und Kirchen – alle gewaltfrei und fantasievoll, für mich eine unbeschreibliche menschliche Bereicherung, die ich da erleben durfte.

Zurück zur Schule. Als in der Wendezeit in N. die ersten verordneten Dialogveranstaltungen stattfanden, auf denen Verantwortungsträger mit dem Volk reden sollten, klagte ein Vertreter des Schulamtes, dass es wegen der in den Westen gegangenen Lehrer kaum noch möglich wäre, den Unterricht abzusichern. Als ich an meine Bewerbung vom Sommer erinnerte und fragte, wann ich anfangen könne, meinte er: »Am besten vorgestern.« So habe ich am 1. Dezember 1989 wieder im Schuldienst begonnen. Das war die Zeit dramatischer Entwicklungen bei Jugendlichen, aber auch bei Eltern. Man musste genau beobachten, was da eigentlich passierte. Ich habe als ziemlich unbelasteter Lehrer Geschichte und Gesellschaftskunde, heute Politische Bildung, unterrichtet. Wegen Spannungen mit meinem Schulleiter wechselte ich von der Gesamtschule in eine Förderschule. Berufsbegleitend studierte ich Sonderpädagogik an der Potsdamer Uni, was mich noch einmal in eine völlig andere pädagogische Richtung brachte. Ich bin 17 Jahre an der Schule geblieben, überwarf mich dann doch mit der Schulleitung und dem Kollegium, weil ich wirklich von der Inklusion überzeugt bin. So ging ich an eine Regelschule zurück, brachte mich als Sonderpädagoge ein, um vor allem Kinder mit Schwierigkeiten zu fördern. Meine Aufgabe ist es, den Förderbedarf der Kinder zu diagnostizieren und zu versuchen, ihnen so zu helfen, dass sie in ihrer Regelschule bleiben können, auch wenn sie, mit dem altmodischen Begriff bezeichnet, ›lernbehindert‹ sind. Das ist eine Herausforderung. Aber nach meinen Erfahrungen wird durch das Ausgliedern in andere Schulformen ihr möglicher Lebensweg verbaut. Die Schüler verlieren ihren Bezug zu anderen, zur Realität, schmoren im eigenen Saft mit irgendwelchen scheinbar Gleichgesinnten. Besser ist gemeinsames Lernen. Und das sollte bereits im Kindergarten beginnen. Ich bin überzeugt, dass es gelingt, wenn an den Regelschulen mehr sonderpädagogische Kompetenz aufgebaut wird. Ich habe damit eine Reihe von Erfolgen erreicht. Einer der als lernbehindert Diagnostizierten hat sogar nicht nur einen Hauptschulabschluss, sondern einen Realschulabschluss geschafft.

Ich selbst bin Vater von mittlerweile zwei erwachsenen Kindern und bereits vierfacher Großvater. Das älteste Enkelkind ist elf Jahre alt, ein tolles Gefühl. Mit Stolz schaue ich auf die Entwicklung der beiden Töchter. Eine ist selbst Lehrerin geworden. Die andere hat ihr Hobby zum Beruf gemacht. Sie ist Konditorin und Konditormeisterin geworden und war danach ein Jahr in Australien. Beide haben gute, kreative Jobs und sind glücklich, beide sind gute Mütter, einfach toll. Eine Tochter hat sich von ihrem Mann getrennt und lebt nun in einer Partnerschaft mit dem neuen Mann sehr harmonisch, auch mit den Kindern. Neudeutsch sagt man Patchwork dazu, denn er hat eine eigene Tochter. Meine zweite Tochter ist mit ihrem Mann, den sie als Konditorin im Bundestag kennengelernt hatte, verheiratet und hat vor kurzem ihr zweites Kind bekommen.

Das Familienleben war in den vielen Jahren eine echte Herausforderung für uns alle. Wenn man wie ich als Ehrenamtlicher auf so vielen verschiedenen Hochzeiten tanzt, als Abgeordneter, bei der Freien Heide oder im Freizeitzentrum im Jugendclub, gelangt die Familie zuweilen ins Hintertreffen. Hinzukam, dass ich nach wie vor seit meiner eigenen Schulzeit bei allen möglichen Veranstaltungen, Familienfeiern und Dorffesten Musik auflegte und moderierte. Und das fast jedes Wochenende, bis heute. Inhaltlich, politisch, von unseren Zielen her haben meine Frau und ich uns allerdings immer wieder an der Sache orientiert und sind im Gleichklang gewesen, haben die anstehenden Aufgaben gemeinsam bewältigt. Ich weiß allerdings auch, dass ich das alles nur leisten konnte, weil mir letztlich die Familie den Rücken freigehalten hat. Wir haben unser Familienleben gemeinsam organisiert. Einige Lasten nahmen uns meine Mutter, die bei uns im Haus lebte, und meine Schwiegereltern ab. Trotzdem, denke ich, haben wir das gemeinsam ganz gut hinbekommen. Im Nachhinein muss man sagen, dass das mit einer großen Belastung für meine Frau verbunden war. Sie war als Buchhalterin berufstätig. Zeitweilig hat sie ihre Arbeitsstunden auf sechs Stunden reduziert, um alles zu schaffen.