Buch lesen: «Trugbilder»
Ella Danz
Trugbilder
Angermüllers 11. Fall
Zum Buch
Schöner Schein „Tonya ist eine erfolgreiche Influencerin“ erzählt Mia, die Mutter von Kommissar Angermüllers Nachbarin, ihm stolz. Der Kommissar wiederum weiß eigentlich gar nicht, was das genau ist. Gleichzeitig ist Mia in Sorge, denn Tonya wollte längst von einer Reise zurück sein. Als in einem geschlossenen Strandbad am Pönitzer See eine verbrannte Frauenleiche gefunden wird, ist Angermüller alarmiert. Ist es etwa die junge Frau von nebenan? Doch die Tote wird als Jasmina Bogdanovic identifiziert, jung, hübsch, ebenfalls Influencerin und ziemlich vertrauensselig. Zu vertrauensselig? Tonya hingegen bleibt verschwunden. Als sie auch zu Mias Geburtstagsfeier nicht auftaucht und ihre Schwester Vicky feststellt, dass jemand Tonyas Wohnung durchsucht hat, wendet sie sich an Kommissar Angermüller. Kurz darauf entdeckt Vicky das abgestellte Auto ihrer Schwester in Lübeck und die hinzugezogenen Beamten machen im Kofferraum einen überraschenden Fund …
Ella Danz, gebürtige Oberfränkin, lebt seit ihrem Publizistikstudium in Berlin. Nach Jahren in der Ökobranche ist sie mittlerweile als freie Autorin tätig. Ihr spezielles Interesse gilt der genauen Beobachtung von Verhaltensweisen und Beziehungen ihrer Mitmenschen. In ihren Angermüller-Krimis wird gern gekocht und gegessen, mischt sich Spannung mit Genuss. Und der Kommissar, ein sympathischer Oberfranke im Lübecker Exil, kämpft nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch gegen schlechtes Essen.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © manza49 / Pixabay
ISBN 978-3-8392-6850-6
Widmung
Für Moni und für W.!
Kapitel I
»Hi, Schatzi!«, zwitscherte es hinter ihm. Überrascht drehte er sich um. Kaskaden rotblonder Locken umrahmten das Gesicht, das fast zur Hälfte von einer monströsen schwarzen Sonnenbrille bedeckt wurde. Die Trägerin konnte höchstens Schemen wahrnehmen, denn der Himmel war bedeckt, und es herrschte abendliches Zwielicht. Kannte er die Frau? Verwechselte sie ihn mit jemandem? Ehe er sich darüber weiter Gedanken machen konnte, hing sie an seinem Hals.
»Wie schön, dass du schon da bist!«
Sie hauchte ihm ein Küsschen auf beide Wangen, dann gab sie ihn frei. Ihre auffällig geschminkten Lippen verzogen sich zu einem reizenden Lächeln, gleichzeitig schob sie mit beiden Händen den Kragen ihres eleganten Mantels hoch.
»Ach bitte, mach schnell. Mir ist so kalt!«
Leicht irritiert tat Angermüller wie ihm geheißen und schloss die Haustür auf. Mittlerweile dämmerte ihm, wer ihn da so stürmisch begrüßt hatte. Seine Nachbarin richtete den Blick zum Gartentor.
»Na dann tschüs, Tonya, wir sehen uns«, rief ihr von dort jemand zu. Auch Angermüller schaute sich um. Ein dicklicher junger Mann stand auf dem Bürgersteig, hob eine Hand zum Gruß und wandte sich dann zum Gehen. Er wirkte enttäuscht.
»Ja, bye-bye, Fabi, hoffentlich bis bald mal wieder!«, rief die junge Frau freundlich, schlüpfte schnell in den Hausflur, nahm die Sonnebrille ab und lehnte sich an die Wand. Plötzlich wirkte sie zugleich erschöpft und verärgert.
»Entschuldigung, dass ich mich so an Sie rangeschmissen habe, aber das war ein Notfall«, sie seufzte hörbar, »der Typ ist etwas aufdringlich, den wäre ich bestimmt so schnell nicht losgeworden.«
Doch im nächsten Moment schon stand sie wieder aufrecht, zeigte dieses zauberhafte Lächeln und schien ihre Worte von eben zu bereuen.
»Ach, ich rede nur irgendeinen Quatsch. Also, vielen Dank für Ihre Hilfe, und einen schönen Abend noch!«
Damit drehte sie sich zu ihrer Wohnungstür, die der von Angermüller gegenüberlag, und schloss auf. Sie wohnte erst seit ein paar Monaten hier und hatte sich nie vorgestellt. Laut Namenschild hieß sie K.B. Frederiksen. Bis auf einen kurzen Gruß hie und da im Vorübergehen hatten sie noch nie miteinander gesprochen.
»Frau Frederiksen, wenn der Mann von eben Sie öfter verfolgt oder Sie schon einmal bedroht hat, sollten Sie besser etwas unternehmen. Solche Leute können manchmal zu gefährlichen Stalkern werden.«
Die junge Frau wandte sich zu ihrem besorgten Nachbarn um.
»Ach nein, der Fabi ist eigentlich ganz harmlos. Er war einer meiner ersten Follower und ist eine treue Seele, verteidigt mich immer, wenn irgendwelche Idioten mal Gemeinheiten gegen mich posten. Aber auch solche lieben Fans können manchmal ein bisschen anstrengend sein.«
Sie winkte ihrem Nachbarn noch einmal anmutig zu und schloss die Tür. Auch Angermüller betrat seine Wohnung, und während er sich die Hände wusch, verweilten seine Gedanken kurz bei der jungen Frau. Aus dem Wenigen, was sie gesagt hatte, schloss er, dass sie viel im Netz unterwegs war, vielleicht sogar beruflich? Besonders viel wusste er nicht über Leute, die mit Clicks und Likes auf Internetplattformen ihr Geld verdienten. Bei nächster Gelegenheit würde er seine Töchter mal danach fragen, die kannten sich bestimmt mit Instagram, Facebook und wie das alles hieß, um einiges besser aus als er.
Ein relativ ruhiger Tag in der Lübecker Kriminalinspektion lag hinter Georg Angermüller. Nach ein paar Monaten Auszeit war der Kriminalhauptkommissar Anfang des Jahres in den Dienst zurückgekehrt, voller Energie und Lust auf den Job. Auch auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen hatte er sich gefreut, zumindest mit den meisten.
Man hatte ihm einen herzlichen Empfang bereitet. Claus Jansen, der schon seit mehreren Jahren sein Partner war, nicht gerade vor Gefühlen überschäumte und keine großen Worte machte, hatte ihm kräftig auf die Schulter geklopft und ihn mit einer zwar kurzen, aber festen Umarmung willkommen geheißen. Das hatte Angermüller richtig gerührt.
Seit seinem Dienstantritt verliefen die Tage recht geruhsam. Sie hatten kein aktuelles Tötungsdelikt zu bearbeiten, sodass sogar pünktlicher Feierabend meist die Regel war. Das hatte zur Folge, dass der Kriminalhauptkommissar am Abend des Öfteren einkaufen gehen und sich Köstliches ganz nach seinem Geschmack zubereiten konnte. Ein seltener Luxus! Heute war er trotz des nasskalten Wetters mit dem Fahrrad noch in die Innenstadt gefahren und hatte in dem kleinen Fischladen in der Hüxstraße zwei dicke Stücke Skrei erstanden. Die Saison für den schmackhaften Winterkabeljau dauerte nur wenige Monate, und das musste man nutzen.
Noch von unterwegs hatte er versucht, Derya anzurufen, denn der Fisch würde auch für zwei reichen. Doch sie ging nicht an ihr Handy. Nun hatte er ausnahmsweise einmal ziemlich geregelte Arbeitszeiten und bekam Derya trotzdem kaum zu Gesicht.
Wie oft hatte sie sich vor und auch während seiner Auszeit, vor allem, als er ihr zuliebe den Privatermittler spielen musste, beschwert, dass er nie Zeit für sie hatte. Und jetzt? Jetzt war Derya ständig beschäftigt, fand nicht einmal Gelegenheit zum Telefonieren, und wenn, dann war sie ziemlich kurz angebunden. Das fand Georg zwar doof, aber sie war nun mal selbstständig mit einem Catering Service für mediterrane Spezialitäten, und die Geschäfte liefen zurzeit scheinbar auf vollen Touren. Wahrscheinlich sollte er sich für Derya darüber freuen. Seit mehr als einer Woche hatten sie sich nicht gesehen. Noch einmal versuchte er, sie zu erreichen, und sprach, als es wieder nicht klappte, seine Einladung zum Abendessen auf ihre Mailbox.
Er hätte es schön gefunden, heute Abend Derya zu bekochen. Sie, die für ihre Kunden oft Tage in der Küche zubrachte, liebte es, von ihm verwöhnt zu werden. Andererseits hatte Georg auch kein Problem damit, nur für sich allein ein exzellentes Abendessen zuzubereiten und es in aller Ruhe zu genießen. Voller Vorfreude betrat er seine Küche, suchte alle Zutaten zusammen und begann mit der Arbeit.
Er schichtete gewaschene, in Spalten geschnittene Kartoffeln in eine kleine Auflaufform, benetzte sie mit etwas Öl, würzte mit Salz und Kümmel und stellte alles in den Backofen. Zu glasig gedünsteter Zwiebel gab er gekochte gewürfelte Rote Beete und schmeckte mit Rotwein, Ahornsirup und ein paar Gewürzen süßsäuerlich ab.
Als Angermüller gerade die dicken weißen Skreifilets in das erhitzte Öl in der Pfanne legen wollte, klingelte das Telefon. Ah, vielleicht konnte Derya doch noch zum Essen kommen!
»Guten Abend, Georg, störe ich?«
»Du störst doch nie«, antwortete Angermüller großzügig und nahm die Pfanne vom Feuer. Er hatte sofort registriert, dass Astrids Stimme nicht klang wie gewohnt.
»Ist irgendwas mit den Kindern?«
»Nein, mit Julia und Judith ist alles in Ordnung. Aber mein Vater ist heute in den frühen Morgenstunden gestorben …«
»Ach, Heini? Das tut mir aber leid«, sagte Georg betroffen, »ich mochte deinen Vater, er war so ein offener, liebenswerter Mensch.«
Georg hatte Heini als einen ruhigen, humorvollen Mann kennengelernt, für den es in dem weiblich dominierten Haushalt mit seiner Frau Johanna und den drei Töchtern manchmal nicht einfach war, sich Gehör zu verschaffen. Aus Astrids ganzer Sippe war ihm sein Schwiegervater immer der Liebste gewesen.
»Wart ihr bei ihm?«
»Ja, Mama hatte noch in der Nacht angerufen, und meine Schwestern und ich sind sofort zu ihr und Papa gefahren.«
»Wie geht es Johanna?«
»Du kennst sie ja. Sie hält sich tapfer. Aber wahrscheinlich hat sie es noch gar nicht richtig begriffen.«
Das letzte Mal hatte er den alten Mann an dessen 85. Geburtstag gesehen, überlegte Angermüller. Auf dem Fest hatte sein Schwiegervater ziemlich munter gewirkt, eine kurze, aber launige Rede gehalten, nach Herzenslust gegessen und getrunken und die Anwesenheit von Familie und Freunden offensichtlich sehr genossen. Er schien von den vielen Infekten, die ihn immer wieder zu Bettruhe gezwungen hatten, augenscheinlich komplett erholt.
»An seinem Geburtstag vor ein paar Wochen machte Heini noch einen putzmunteren Eindruck auf mich. Wie konnte das so schnell gehen?«
»Na ja, kurz nach dem Fest begann Vater wieder zu kränkeln. Er musste mehrmals ins Krankenhaus, wurde immer schwächer. Und als er sich jetzt noch eine Lungenentzündung zuzog, da konnte man nichts mehr machen. Wir haben damit gerechnet. Er ist zu Hause gestorben, ohne langes Leiden, wir konnten bei ihm sein. Das ist mir ein Trost …«
Sie stockte. Nach einem kurzen Räuspern fuhr sie fort:
»Also, ich wollte nur, dass du das weißt, Georg. Die Bestattung wird irgendwann nächste Woche sein. Ich muss noch ein paar Leute anrufen. Dann sag ich mal tschüs …«
»Ich danke dir fürs Bescheidgeben. Kann ich vielleicht irgendwie helfen?«
»Vielen Dank, ich bin ja nicht allein. Julia und Judith kümmern sich sehr lieb um mich.«
»Aber sag wirklich Bescheid, falls ich etwas für dich tun kann.«
»Das mach ich, Georg, ganz bestimmt. Und spätestens, wenn wir den genauen Bestattungstermin wissen, melde ich mich wieder bei dir.«
Durchs Telefon konnte Georg deutlich spüren, wie mitgenommen Astrid war. Wenn man sich so lange kannte wie sie beide, dann las man in der Seele des anderen wie in einem Buch.
»Dann mach’s gut, Astrid. Ich denke an euch.«
Während er sich wieder der Vollendung seines Fischgerichts widmete, füllten Erinnerungen seinen Kopf. Vor fast 20 Jahren hatte sich der Oberfranke Angermüller in Astrid verliebt und war ihretwegen in Lübeck, wo er während seines Jurastudiums ein Praktikum in der Kriminalinspektion absolvierte, hängengeblieben. Sie hatten geheiratet, die Zwillinge bekommen, schöne Jahre erlebt, schwierige Jahre gemeistert, bis sich ein unüberhörbarer Misston zwischen ihnen einschlich. Angermüller konnte nicht genau sagen, wann das angefangen hatte oder wer daran die Schuld trug. Ab einem bestimmten Moment spielten Astrid und er nicht mehr im selben Team, sondern gegeneinander.
Warum, weshalb – oft hatte er sich darüber schon den Kopf zerbrochen und nach einem Ausweg gesucht. Ihre Beziehung war ihm so wertvoll erschienen, das tiefe Vertrauen zueinander, der feste Zusammenhalt, so leicht wollte er das alles nicht aufgeben. Immer wieder hatte er versucht, einen neuen Anfang zu machen, und war jedes Mal gescheitert.
Auch in diesem Moment nahm er wieder einmal wahr, wie viel ihm seine Frau noch bedeutete. Seit über zwei Jahren lebten sie schon räumlich getrennt, trotzdem waren sie noch nicht geschieden. Sie schienen beide vor diesem endgültigen Schritt zurückzuschrecken, obwohl Georg schon eine ganze Weile mit Derya liiert war und Astrid – nun ja, eigentlich konnte er immer noch nicht sagen, ob sie mit ihrem Arbeitskollegen Martin mehr als eine Freundschaft verband.
Georg wiederum scheute das Zusammenziehen mit Derya, die nicht direkt, aber mit versteckten Andeutungen des Öfteren um dieses Thema kreiste. Sie hätte einen gemeinsamen Hausstand wohl für gut befunden. Seit einiger Zeit allerdings hatte Derya nichts mehr davon erwähnt, wie ihm gerade auffiel, und er war darüber eigentlich ganz erleichtert. Trotzdem irgendwie merkwürdig, dachte er, aber wir sehen uns ja momentan sowieso kaum.
Wenig später lagen goldgelb gegarte Kartoffelscheiben neben dem violettroten Gemüse, auf dem schneeweiße Skreifilets thronten. Schon wollte Georg den ersten Bissen auf die Gabel nehmen, da hielt er inne. Er goss sich von dem dunklen, kräftigen Negroamaro ein, den er so liebte, und hob feierlich sein Glas.
»Auf dich, Heini! Warst ein liebenswerter Mensch, ruhe in Frieden.«
Angermüller wollte sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, als seine Nachbarin mit einem magentafarbenen Rollkoffer aus ihrer Wohnung kam.
»Guten Morgen, Frau Frederiksen. Sie wollen verreisen?«
Er zeigte auf das Gepäckstück.
»Dann wünsche ich Ihnen ein erholsames Wochenende.«
»Ach, ich muss nur zu einem beruflichen Termin«, wehrte die junge Frau ab. In ihrem grauen Hosenanzug, ein ebenfalls magentafarbenes Tuch um den Hals geschlungen, wirkte sie sehr mondän.
»Na dann, trotzdem gute Reise und viel Erfolg!«
Sie lächelte hinter ihrer großen Sonnenbrille, die sie trotz der frühen Stunde an diesem recht trüben Tag schon wieder trug. Wenn sie sich dahinter verstecken will, dachte Angermüller, erreicht sie mit diesem auffälligen Modell eher das Gegenteil.
»Vielen Dank«, antwortete die junge Frau und ging auf hohen Stiefelabsätzen Richtung Ausgang. Auf einmal blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.
»Könnten Sie mir wohl einen Gefallen tun und mich zu meinem Wagen begleiten? Der steht fast direkt vor der Tür.«
Da seine Nachbarin kein Gepäck außer ihrem Rollkoffer hatte, wunderte sich der Kommissar zwar ein wenig, doch er sagte: »Klar, kein Problem.«
Wie selbstverständlich überließ sie Angermüller ihren Koffer, der ihn gehorsam hinter ihr her zum Auto rollte. Und nun erkannte er auch, warum ihn Frau Frederiksen um seine Begleitung gebeten hatte. Nicht weit von ihrem Wagen entfernt, lehnte der junge Mann von vor zwei Tagen an einem Gartenzaun und sah zu ihnen herüber.
Der Kommissar hievte das Gepäck in den Kofferraum des auffälligen gelben Mini Clubman, in dem bereits eine große Tasche und andere Utensilien lagen, die zu einer Fotoausrüstung zu gehören schienen.
»Vielleicht sollten Sie sich doch überlegen, ob Sie was gegen den jungen Mann unternehmen, wenn er Sie andauernd belästigt«, meinte Angermüller leise, während er den Kofferraum schloss. Frau Frederiksen lächelte und nahm die Sonnenbrille ab.
»Keine Sorge. Außerdem bin ich ja bald zurück. Also dann, mach’s gut, mein Schatz!«, sagte sie, ohne die Stimme zu senken. Sie umarmte Angermüller zum Abschied, gab ihm wieder zwei Küsschen auf die Wangen und stieg in ihr Auto.
»Gute Reise, Tonya!«, rief der am Gartenzaun Wartende herüber.
»Danke, Fabi!«, antwortete Angermüllers Nachbarin freundlich, schloss die Tür und startete den Wagen. Der junge Mann sprintete zu einem am Straßenrand geparkten Motorroller und fuhr hinterher.
Am Dienstag der darauffolgenden Woche versammelte sich eine ansehnliche Trauergesellschaft auf dem Burgtorfriedhof, um Heini Dittmer die letzte Ehre zu erweisen. Jedermann wusste, dass die große Aufmerksamkeit, die man Heinis Abschied entgegenbrachte, nicht nur ihm, sondern vor allem auch seiner Frau Johanna geschuldet war, die der angesehenen Lübschen Kaufmannsfamilie Tiedemann entstammte.
Die Kapelle konnte gar nicht all die Menschen aufnehmen, sodass ein Teil unter dem zementgrauen Märzhimmel stehen musste, was angesichts scharfer, eisiger Windböen ziemlich unangenehm war. Auch Georg hatte den vorwiegend älteren Herrschaften den Vortritt gelassen und trat mit hochgezogenen Schultern von einem Fuß auf den anderen. Mit Bedauern dachte er an seinen langen, warmen Lodenmantel, der ihn zuverlässig vor der beißenden Kälte geschützt hätte.
»Und, Georg, darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?«, hatte Astrid zum Schluss gefragt, als sie ihm telefonisch Ort und Zeit für die Bestattung durchgab.
»Ziehst du bitte zur Beerdigung den schicken, kurzen Wollmantel an, den wir mal zusammen gekauft haben?«
Es war eine rhetorische Frage, das wusste Georg sofort. Über ihre Vorstellung von Kleiderordnung konnte man mit Astrid nicht diskutieren. Und seinen geliebten alten Lodenmantel hatte sie schon immer gehasst.
Angermüller war froh, als die Trauerfeier vorüber war und man sich zum beeindruckenden Tiedemannschen Familiengrab bewegte, wo Heini zu seiner letzten Ruhe gebettet wurde. Da er und Astrid noch nicht geschieden waren, zählte Georg offiziell immer noch zur Familie und musste deshalb nicht allzu lange ausharren, um Heini zum Abschied drei Schaufeln Sand und eine weiße Rose ins Grab zu werfen. Und da er den Auftrag hatte, mit seinen Töchtern Heinis hochbetagte Schwester zu dem Traditionscafé am Burgfeld zu fahren, in dem der Leichenschmaus stattfinden sollte, durfte er sich zum Glück alsbald entfernen.
Im Café war es warm. Man reichte Canapés und eine heiße Rinderkraftbrühe, die nach den schneidenden Temperaturen auf dem Friedhof richtig guttat. Natürlich ließ sich am Familientisch die Begegnung mit Astrids beiden Schwestern und ihrem Anhang nicht vermeiden. Sie verlief, wie schon seit Längerem üblich, eher frostig. Abgesehen davon hatte Angermüller unter seiner angeheirateten Verwandtschaft von Anfang an dieses Fremdkörpergefühl empfunden. Gut verstanden hatte man sich nie.
Er schaute sich um. Wo steckte eigentlich Martin? Hatte der wieder gekniffen, wie immer, wenn es schwierig wurde? Na ja, das konnte ihm eigentlich egal sein. Nachdem Kaffee und ein buttriger Streuselkuchen, Beerdigungskuchen, wie sie hier sagten, serviert worden waren, begannen sich viele der Gäste zu verabschieden, so auch Angermüller. Johanna sah erschöpft aus, als sie seine Hand nahm und lange drückte.
»Komm mich doch mal besuchen, Georg«, forderte sie ihn auf, »wir haben heute ja kaum sprechen können.«
Die Einladung freute ihn, und er versprach es. Wahrscheinlich würde sie das Leben allein erst einmal hart ankommen, nach mehr als 50 Jahren, die sie an Heinis Seite verbracht hatte. Er nahm sich vor, der alten Dame so bald wie möglich einmal seine Aufwartung zu machen.
Die Luft im Café war zum Schluss etwas stickig geworden. Weit ausschreitend machte er sich zu Fuß auf den Heimweg und genoss die halbe Stunde an der frischen Luft.
Eine nicht sehr große, etwas rundliche Frau verschloss gerade die Tür der Nachbarwohnung, als Angermüller in den Hausflur trat. Schon ein paar Mal war er ihr begegnet, und immer hatten sie sich freundlich gegrüßt, manchmal ein paar Worte über das Wetter gewechselt. Er nahm an, dass sie in der Wohnung gegenüber putzte. Sie drehte sich nach ihm um, und wie üblich wünschten sie sich Guten Tag.
»Sie sind doch der direkte Nachbar von Tonya. Darf ich Sie was fragen?«, sprach ihn die Frau an, als Angermüller seine Tür aufschließen wollte.
»Ja, sicher.«
»Haben Sie Tonya in den letzten Tagen mal gesehen?«
»Meine Nachbarin? Mmh … das war letzte Woche, da sind wir uns über den Weg gelaufen, sogar zweimal«, sagte der Kommissar nach kurzem Nachdenken. »Warum fragen Sie?«
Für Mode hatte Angermüller sich noch nie interessiert, aber wieder fiel ihm bei dieser Frau ihre fröhlichfarbige Kleidung auf, der türkise Anorak, die orangefarbene Hose, dazu Schal und Stulpen, bunt und wild gemustert. Ziemlich individueller Stil, fand er. Auch das kurz geschnittene Haar leuchtete in einem kräftigen Kupferrot. Die Dame liebte es offensichtlich bunt. Er schätzte sie auf Ende 40, einige Jahre älter als er selbst. Und jetzt, wo er sie länger reden hörte, bemerkte er ihren leichten Akzent.
»Meine Tochter wollte am Wochenende verreisen, nach Dänemark. Montagmittag wollte sie zurück sein. Aber bis jetzt ist sie immer noch nicht da.«
Die Art, wie sie alle S stimmlos aussprach, und dieser ganz leichte Singsang, das spricht für eine dänische Herkunft, dachte Angermüller.
»Stimmt, ich habe sie Freitagmorgen mit ihrem Koffer getroffen. Na ja, heute ist ja erst Dienstag«, meinte Angermüller beschwichtigend. »Hat sie sich denn gar nicht bei Ihnen gemeldet?«
Die Frau schaute ihn einen Moment zweifelnd an, dann zuckte sie mit den Schultern und ließ ein fröhliches Lachen hören, das so gar nicht zu ihrer besorgten Miene passen wollte.
»Na ja, immerhin hat sie Sonntagabend eine Nachricht geschickt, dass sie eine super Location aufgetan haben, und sie erst Montag zurückkommt. Tonya ist viel auf Reisen, und wenn sie beruflich unterwegs ist, meldet sie sich nicht so oft. Und ich soll sie auch nicht anrufen. Sie sagt, ich störe dann immer nur, wenn sie gerade Aufnahmen machen und so. Die jungen Leute halt …«
Wieder lachte sie.
»Ist Ihre Tochter Fotografin?«
»Nein, nein, sie ist keine Fotografin. Tonya hat sogar ihre eigenen Fotografen, die sie in den Kollektionen bekannter Modefirmen fotografieren. Meine Tochter ist eine ziemlich bekannte Influencerin, wissen Sie, macht Werbung im Internet, Youtube, Instagram und so. Tonya hat schon 500.000 Follower«, erklärte sie mit offenkundigem Stolz.
»Tut mir leid«, bedauerte Angermüller, »mit diesen Sachen kenne ich mich überhaupt nicht aus.«
»Ich mich eigentlich auch nicht«, lachte sie, »erst seit meine Tochter das macht, gucke ich mir das an. Na ja, was tut man nicht alles für die Kinder!«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Angermüller und wollte sich wieder seiner Wohnungstür zuwenden, um zu signalisieren, dass er die Unterhaltung beenden wollte. Da streckte die Frau plötzlich ihre Hand aus.
»Wir sind uns ja schon öfters begegnet. Mein Name ist übrigens Mia Frederiksen.«
»Freut mich, Frau Frederiksen. Ich heiße Angermüller«, stellte sich Georg notgedrungen ebenfalls vor und schüttelte die dargebotene Hand. Sie nickte.
»Ja, ich weiß, hab ich schon auf Ihrem Namenschild gelesen.«
»Na dann, bis zum nächsten Mal, Frau Frederiksen. Ich drücke die Daumen, dass Ihre Tochter bald was von sich hören lässt.«
»Ja, ich hoffe«, seufzte Frau Frederiksen und bückte sich nach dem großen Korb, den sie neben sich abgestellt hatte.
»Hab die Blumen gegossen und den Goldfisch gefüttert. Dann geh ich jetzt nach Hause und meine Kanelsnegle nehme ich wieder mit. Hab ich extra für Tonya gebacken. Die mag sie doch so gern, jedenfalls, wenn sie mal nicht auf Diät ist«, erzählte Frau Frederiksen, schnitt eine Grimasse und zupfte sorgfältig das blau-weiß karierte Geschirrtuch über dem Inhalt des Korbes glatt.
»Wie heißt das Gebäck?«, fragte Angermüller nach, dem schon die ganze Zeit so ein angenehmer Duft in die Nase gestiegen war, und deutete auf ihren Korb.
»Kanelsnegle, nichts Besonderes, einfach nur Zimtschnecken. Die essen wir in Dänemark zum Frühstück, zum Nachmittagskaffee, ach, eigentlich immer. Möchten Sie mal kosten?«
Erwischt. Neuen kulinarischen Köstlichkeiten gegenüber war Angermüller ja immer aufgeschlossen.
»Äh, also ja, gerne.«
Frau Frederiksen schlug das Geschirrtuch zurück und griff in den Korb.
»Am besten holen Sie mal was, wo ich die Zimtschnecken drauflegen kann.«
Sie sprach das Sch wie S in Zimtschnecken, und wieder lachte sie.
»Die sind nämlich ein bisschen süß und klebrig.«
Gleich darauf hatte Angermüller drei von den köstlich duftenden Hefeteilchen auf seinem Teller.
»Mmh, die sehen ja verlockend aus.«
»Und die schmecken, sag ich Ihnen! Ja, ich muss dann mal wieder. Tonyas Schwester kommt heute zu uns zum Abendessen. Tschüs, Herr Angermüller.«
»Ja, tschüs und vielen Dank, Frau Frederiksen.«
»Gerne. Bis zum nächsten Mal!«