Tödliche Gier in Bansin

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Sonnabend, 06. Juni

Susanne Fux sitzt auf ihrem kleinen Balkon im Ahlbecker Seniorenpflegeheim und blickt versonnen auf die Ostsee. Das Wasser ist heute sehr blau, freundliche kleine Wellen bewegen die Oberfläche. Sie träumt davon, durch den weichen warmen Sand in das Meer zu laufen, zu schwimmen, sich auf dem Rücken liegend vom Salzwasser tragen zu lassen, schwerelos, nichts als Sonne und See – sie zuckt zusammen, als die Pflegerin ihr behutsam eine Decke über die Schultern legt.

Es ist tatsächlich noch etwas kühl. Auch die Ostsee wird noch zu kalt sein, sie würde nicht hineingehen, selbst wenn sie es könnte.

»Danke, Simone.« Sie lächelt die freundliche junge Frau an und will etwas sagen, als es an der Tür klopft. »Ach, da ist sie ja schon. Hast du uns Kuchen mitgebracht? Das ist lieb.«

Jule nickt und bleibt schüchtern an der Tür stehen. Die Pflegerin nimmt ihr das Paket aus der Hand.

»Nimm dir einen Stuhl und setz dich raus zu deiner Oma. Es ist heute so schön auf dem Balkon. Ich bringe euch Teller und Kaffee. Möchtest du auch etwas trinken? Einen Saft vielleicht?«

Jule schüttelt stumm den Kopf. Nicht noch mehr Zucker, der Kuchen ist schon schlimm genug. Sie wird ein Glas Wasser dazu trinken. Dass Oma sie aber auch immer so in Versuchung führt, wie soll sie da ihre Diät durchhalten. Aber die alte Frau liebt dieses süße Zeug nun mal und sie hat ja sonst nicht mehr viel Freude im Leben.

»Komm her, meine Kleine. Schön, dass du da bist. Ich hab dich gar nicht kommen sehen.«

Sie blickt zur Bushaltestelle hinüber.

»Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«

»Ach so. Ja, das ist doch schön. Es fährt sich gut auf der Promenade, nicht? Führt der Radweg jetzt eigentlich durch bis nach Bansin?«

»Ja.« Jule setzt sich ihrer Oma gegenüber an den kleinen Tisch und blickt sie liebevoll an. »Weißt du, woran ich mich erinnert habe? Wie du mich im Krankenhaus in Heringsdorf besucht hast, als ich mir den Arm gebrochen hatte. Da bist du auch immer mit dem Fahrrad gekommen und hast mir Kuchen mitgebracht.«

»Ja, du warst schon ein kleiner Süßschnabel. Dass du dich daran noch erinnern kannst! Du warst doch noch so klein, gingst noch nicht mal zur Schule.« ›Und deine Eltern hatten mal wieder keine Zeit für dich‹, fügt sie in Gedanken hinzu.

Simone stellt ein Tablett auf den Tisch. Sie hat den Kuchen auf zwei Tellern verteilt und für Susanne eine Tasse Kaffee dabei.

Während die beiden essen, sprechen sie über das Wetter und die vielen Gäste, die schon wieder auf der Insel sind. Traurig beobachtet Jule, wie schwer es ihrer Großmutter fällt, die Tasse zum Mund zu führen. Sie ist so schwach geworden in den letzten Monaten, als sie niemand besuchen durfte. Ob sie Schmerzen hat? Sie klagt eigentlich nie, aber Jule weiß, dass der Krebs immer weiterfortschreitet und nicht mehr heilbar ist. Sie hat große Angst, ihre einzige Vertraute bald zu verlieren.

»Ich hab dir was mitgebracht«, fällt ihr plötzlich ein. Sie bückt sich zu ihrer Umhängetasche und zieht ein Buch mit einer kitschig-bunten Gebirgslandschaft auf dem Einband heraus. »Einen Heimatroman. Die magst du doch, oder?«

»Ja.« Susanne freut sich ehrlich. »Früher habe ich oft Arztromane gelesen, da reicht mir jetzt die Praxis. Aber so etwas lese ich gern, dabei kann man herrlich abschalten. Danke, mein Schatz.«

Jule nickt zufrieden. Sie denkt ständig darüber nach, wie sie ihrer Oma den letzten Lebensabschnitt erleichtern kann. Nur ihr verdankt sie eine schöne Kindheit, sie war die Einzige, die ihr Liebe und Geborgenheit gegeben hat. Außerdem hat sie das Gefühl, die Kälte ihres Vaters ausgleichen zu müssen.

»In deine Aalkartoffeln könnte ich mich reinlegen. Die schmecken genauso, wie meine Mutter sie früher gekocht hat«, schwärmt Andreas Keller. Er schiebt den leeren Teller weg und lehnt sich zufrieden stöhnend zurück. »Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal einen Schnaps, zur Verdauung.«

»Kriegst du.« Berta sieht die anderen Stammtischgäste an. »Was ist mit euch? Ich gebe eine Runde aus.«

Sophie geht an den Tisch und nimmt die Bestellung auf. Berta selbst, Andreas Keller und Ruben Fux trinken Kräuterlikör, Paul Plötz und Bruno Kerr, ein weiterer Stammgast, ordern Korn. Arno schüttelt den Kopf, als Sophie ihn fragend anblickt. Er mag keinen Schnaps, trinkt lieber ein Glas Weißwein.

»Meinst du, sie sagt was zu Ruben, wegen seiner Tochter?« Anne sitzt auf einem Barhocker, kann sich aber mit den Beinen auf dem Boden abstützen. Sie beugt sich über den Tresen und spricht leise zu ihrer Freundin. Auch Sophie blickt nicht zu ihrer Tante, sondern konzentriert sich auf die Getränke, die sie einschenkt. Sie schüttelt den Kopf. »Glaub ich nicht. Nicht, wenn alle dabei sind.«

»Ist auch besser so.« Anne ist erleichtert, ihr tut das Mädchen leid.

Sophie sieht nachdenklich zum Stammtisch hinüber. »Ich wüsste trotzdem gern, wie Ruben reagiert. Irgendwie kann ich mir den gar nicht als Vater vorstellen. Wie ist er denn so? Ich meine, wie spricht er mit seiner Tochter? Meckert er viel oder ist er eher locker? Hilft er ihr bei den Hausaufgaben, unternimmt er mal was mit ihr?«

Anne zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir wohnen ja praktisch nebeneinander, ich sehe sie ständig, doch wenn ich mir das so überlege, eigentlich nie zusammen. Die Kleine huscht verschüchtert über den Hof und Ruben – na, du kennst ihn ja. Immer laut, immer lustig, stänkert auch mal, aber ich glaube nicht, dass er das Mädchen schlecht behandelt. Jedenfalls nicht absichtlich. Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich großzügig ist und ihr viel Freiraum lässt, vielleicht auch mal einen Schein zusteckt.«

»Dann bräuchte sie ja nicht zu klauen.«

»Stimmt auch wieder.«

Sophie stellt noch zwei Gläser Bier auf das Tablett und trägt es zum Stammtisch. Anne sieht ihr zu, wie sie die Getränke verteilt und mustert dabei Ruben Fux.

Der Fünfzigjährige ist immer noch attraktiv, obwohl man ihm sein bewegtes Leben ansieht. Er ist groß und kräftig, das volle blonde Haar wird allmählich grau und die Gesichtszüge sind nicht mehr so markant wie früher, sondern von reichlich Alkohol aufgeschwemmt. Er gibt sich selbstbewusst, jovial, großzügig, dominiert noch immer jede Gesellschaft. Aber der Blick aus den auffallend blauen Augen ist nicht mehr ganz so strahlend, das verhindern dicke Tränensäcke.

Er zwinkert Sophie zu, als sie ihm das Bier hinstellt. Das Flirten liegt ihm einfach im Blut, er kann es nicht lassen und freut sich über den verärgerten Blick von Arno. Aber der sagt natürlich nichts, zum einen, weil es sinnlos wäre, Sophie mag Ruben nicht einmal und zum anderen sagt er ohnehin nie viel. Außerdem redet Andreas gerade. Ausführlich erzählt er von seinen zweijährigen Zwillingstöchtern, die sich in einer eigenen Sprache unterhalten, die niemand außer ihnen versteht.

»Interessant«, bemerkt Sophie, während sie die leeren Gläser vom Tablett räumt.

»Ja, findest du?« Anne verdreht die Augen.

»Ach, nun lass ihn doch. Die Kinder sind nun mal sein ganzer Lebensinhalt. Ich finde das sympathisch.«

»Ich finde es langweilig. Was hat der eigentlich früher gemacht, als er noch keine Kinder hatte?«

»Er war Schiffbauingenieur auf der Peenewerft.«

»Ach so? Und das hat er wegen der Kinder aufgegeben? Oder wegen seiner Frau, damit die sich um die alten Leute kümmern kann? Ist ja blöd. Er hat doch bestimmt viel mehr verdient.«

»Ja sicher, aber er war schon lange arbeitslos. Da hat sich das so ergeben.«

Anne schüttelt zweifelnd den Kopf.

Sophie mag Andreas Keller, sie bewundert ihn sogar ein bisschen. Wie liebevoll der mit seinen vier Kindern umgeht! Außer den Zweijährigen hat er noch eine vier- und eine zwölfjährige Tochter.

Den Haushalt hat er anscheinend auch im Griff, Simone ist zu beneiden. Aber als Altenpflegerin hat sie auch genug zu tun. Und das Geld ist immer knapp, trotz ihrer vielen Überstunden.

Das weiß auch Berta, die jetzt verhindert, dass Andreas Keller eine Runde ausgibt. Sie weiß, dass er notgedrungen sparsam ist, aber wenn er etwas getrunken hat, wird er leichtsinnig und er verträgt nun mal nichts. Ärgerlich sieht sie Ruben Fux an, der seinen Tischnachbarn provoziert.

»Was stänkerst du hier wieder rum?«, fährt sie ihn an. »Wenn du noch was trinken willst, bestell es dir selbst. Andreas hat genug, das siehst du doch. Und er muss früh aufstehen und sich um die Kinder kümmern.«

»Ja, mir reicht es auch.« Paul Plötz wird es zu ungemütlich. Außerdem muss auch er früh raus.

Arno nickt. Er blickt kurz zu Sophie, überlegt, ob er auf sie warten könnte, beschließt dann aber, in seiner eigenen Wohnung zu übernachten.

»Ich bestell uns ein Taxi«, schlägt er seinem Kollegen vor.

»Ich kann doch selbst - «

»Nein, kannst du nicht«, unterbricht Berta ihren Freund energisch.

Sophie atmet auf, als Ruben sich gleich nach den Fischern verabschiedet. Auch Andreas bezahlt und lächelt Berta schuldbewusst an. »Danke.« Er ist etwas beschämt, dass auf seiner Rechnung nur zwei Bier stehen, aber auch erleichtert. Beinahe hätte er sich wieder von Ruben Fux provozieren lassen. Die alte Wirtin zuckt mit den Schultern. »Wofür? Ist doch alles in Ordnung. Das Essen haben Paul und ich ausgegeben und weiter hast du nichts bestellt. Eine Runde Schnaps kam von Fux, der kann es sich leisten.« »Zumindest tut er so«, denkt sie.

Nicht einmal sie weiß genau, wovon der Mann gerade lebt. Gefühlt hat er seine Finger überall drin. Offiziell betreibt er eine Tourismusagentur. Er vermittelt gegen Provision Orts- und Inselführungen, die meist Sophies Freundin Anne durchführt.

 

Außerdem vermietet er Ferienwohnungen, die er von polnischen Frauen putzen lässt. Berta wüsste gern, ob er die Polinnen fest eingestellt hat, dann hatte er in den vergangenen Wochen, als keine Gäste kommen durften, mit Sicherheit hohe Verluste. Aber wahrscheinlich arbeiten die meisten schwarz oder als Subunternehmerinnen. Für krumme Geschäfte hatte Ruben schon immer ein Händchen.

In den Neunzigerjahren hat er mit Spielautomaten viel Geld verdient. Seitdem gibt es auch das Gerücht, dass Raucher nicht nur polnische Zigaretten von ihm kaufen. Ab und zu wird er bei illegalen Geschäften erwischt, dann zahlt er eine Strafe und macht weiter.

»Der Fuchs ist schlau, er stellt sich dumm, bei manchen ist es andersrum« lautet sein Lieblingsspruch, in dem er mit seinem Namen kokettiert. Berta ist allerdings der Meinung, dass er eher kleinkriminell als sonderlich klug ist. Und von Dummstellen kann schon gar keine Rede sein. Er prahlt nur zu gern mit seinen angeblichen Geschäftserfolgen.

Als könne er ihre Gedanken lesen, geht auch Bruno Kerr auf Bertas Bemerkung ein. »Der war schon immer ein Blender«, erinnert er sich. »Hat sich auf sein gutes Aussehen verlassen, das hat ihm sehr geholfen. Und er ist manipulativ. Die Mädels hat er immer nur ausgenutzt.« Er lacht. »Seinetwegen haben sich auf dem Schulhof Dramen abgespielt.«

Bruno war früher Lehrer an der Bansiner Schule und erinnert sich noch gut an diese Zeit. Das hilft Berta oft, wenn sie einen seiner ehemaligen Schüler einschätzen will. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich der Charakter eines Menschen im Laufe seines Lebens gar nicht so sehr verändert. Die Älteren können ihre schlechten Eigenschaften nur besser verbergen. Manchmal. Und ganz selten, wenn Berta sie erst einmal genauer beobachtet – »auf dem Kieker hat«, wie Plötz es bezeichnet.

»Ich mag sie eigentlich beide«, gibt sie jetzt zu, »sie sind nur grundverschieden. Fux ist der Typ, der reinkommt und sagt: ›So, da bin ich‹ und Andreas ›Na, da seid ihr ja‹.«

»Genau«, bestätigt Bruno Bertas Beobachtung. »Und das ganz ohne Worte.«

Inzwischen ist die Gaststätte geschlossen, die Tische sind aufgeräumt und die Gläser gespült. Anne sitzt bei Berta und Bruno am Stammtisch. Sophie macht mit dem Kellner die Abrechnung, dann kommen die beiden auch dazu.

Thomas Haas arbeitet erst seit ein paar Tagen im Kehr wieder. Der 55-Jährige stammt aus Bansin, er hat hier auch seine Ausbildung zum Kellner absolviert, war aber in den letzten 20 Jahren überall auf der Welt unterwegs und nur selten zu Hause. Anne kennt ihn aus der Schulzeit, in der achten Klasse war sie schwer verliebt in den stillen, schüchternen Jungen. Sie fühlte sich gekränkt, weil er ihr geradezu ängstlich aus dem Weg ging. Vermutlich hat es ihm Angst gemacht, dass sie mindestens einen Kopf größer war als er und auch breitere Schultern hatte. Er stand schon immer auf die kleinen, zierlichen, hilfsbedürftigen Frauen.

Es war ein glücklicher Zufall, dass sie ihn im Januar auf der Straße erkannt und natürlich auch gleich angesprochen hat. Er hatte seine Eltern eigentlich nur über Weihnachten besuchen wollen, dann aber gemerkt, dass sie allein nur noch schwer zurechtkamen und beschlossen, zu bleiben.

»Ich bin es ihnen schuldig, weißt du?«, hatte er Anne anvertraut. »Sie waren die besten Eltern, die man sich wünschen kann, haben alles für mich gemacht. Wer weiß, wie lange ich sie noch habe, um ein bisschen wiedergutzumachen.«

Anne fand das etwas pathetisch, schließlich sind Eltern dazu da, alles für ihre Kinder zu tun, im Allgemeinen, ohne Schuldgefühle zu erzeugen. Aber sie nickte, sie mochte Thomas immer noch und freute sich, dass er wieder da war. »Du bist doch Kellner«, fiel ihr ein. »Hast du schon einen Job?«

Sophie, die mit ihren jungen Kellnerinnen in den letzten Jahren nur Pech hatte, war erfreut über Annes Vermittlung. Der gut ausgebildete, ruhige, gepflegte Mann würde das Niveau ihres Restaurants erheblich steigern.

Durch den Lockdown im Frühjahr hat sich alles verzögert, er hat seine Probezeit am 1. Juni begonnen und Sophie ist fest entschlossen, ihn danach einzustellen und beim Gehalt nicht kleinlich zu sein, bevor er noch etwas Besseres findet. Kellner werden hier überall gesucht. Wie gut, dass Anne ihn sich gleich gekrallt hat.

»Hast du nicht auf der AIDA gearbeitet?«, fragt Berta. »Da hast du ja gerade rechtzeitig aufgehört.«

»Ja, stimmt. Aber ich wollte sowieso absteigen. Ich hatte eine Stelle in der Schweiz, in einem guten Hotel ganz oben in den Bergen. Dicht an der italienischen Grenze.«

»Was?« Berta ist entsetzt. »So weit weg?«

Thomas lacht. »Na, mit dem Schiff war ich noch deutlich weiter weg.«

»Ja, klar, aber auf dem Wasser. Das ist doch etwas ganz anderes. Wie kann sich ein Bansiner Junge in den Bergen wohlfühlen? Du hättest bestimmt furchtbares Heimweh bekommen.«

Er zuckt vage mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, hatte ich an Bansin nicht so gute Erinnerungen. Ich konnte gar nicht weit genug weg sein. Aber meine Eltern brauchen mich eben.« Er presst die Lippen zusammen und blickt finster in sein Bierglas. Dann sieht er seine Tischnachbarn an und lächelt. »Und – na ja, wie ich sehe, gibt es in Bansin auch sehr nette Menschen«, nimmt er seinen vorherigen Worten die Schärfe.

Berta fängt einen warnenden Blick von Bruno auf und verkneift sich die Fragen, die ihr auf der Zunge liegen. Da war doch was! Damals … Berta wird gründlich in ihren Erinnerungen kramen müssen. Paul Plötz kann ihr da sicher helfen. Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie muss ihn nur auf die richtige Spur bringen.

Dienstag, 09. Juni

Die deutsch-polnische Grenze ist wieder geöffnet und somit ist die Strandpromenade vom Hafen in Swinemünde bis an die Steilküste hinter Bansin ungehindert passierbar. Zwölf Kilometer kann man hier zwischen Dünen, gepflegten alten Villen und vielen Kiefern wandern. Oder mit dem Rad fahren. Immer parallel zum Strand. Die hinter Dünen und Bäumen verborgene Ostsee ist hier mitunter nur hörbar. Lediglich auf dem letzten Kilometer, auf der Bansiner Promenade, zwischen der Grenze zu Heringsdorf und dem Seesteg ist der Blick auf das Meer immer frei.

»Das ist die Besonderheit der Bansiner Strandpromenade«, erklärt Anne ihren Gästen bei der Ortsführung. »Hier können Sie immer auf die Ostsee sehen. Deshalb sind auch im Musikpavillon Fenster. Nicht nur, damit die Musiker ihre Noten besser lesen können. Der Gast kann über sie hinweg auf das Meer blicken.«

Erst am westlichen Ende der Promenade wird diese Sicht verhindert. Hier sieht der Gast nur eine Bretterwand, hinter der sich die Fischerhütten verbergen.

Die Eingänge der aneinander gebauten Buden befinden sich an der Rückseite, hinter den Dünen. Ein paar Boote sind zu sehen. Große Kutter mit Ruderhaus und breit gewölbtem Boden. Sie haben einen geringen Tiefgang. Die Fischer können damit weit hinaus auf die Ostsee fahren, bis nach Skandinavien, sie können aber auch durch das flache Küstenwasser auf den Strand gezogen werden. Es sind die letzten Strandfischer, die es hier auf Usedom gibt. Sie haben keinen Hafen, die Boote liegen an Land, in den Dünen. Es riecht nach Rauch, Fisch und Meer. Schmale Trampelpfade führen hindurch zum Strand, unten am Ufer sind die kleinen Boote befestigt.

Paul Plötz steht mit einigen Leuten neben dem Räucherofen. Es sind Einheimische, sie wollen frischen Fisch kaufen, warten darauf, dass der Räucherfisch aus dem Ofen genommen wird oder wollen einfach nur ein bisschen reden. Um den Fischverkauf kümmert sich Arno, für Letzteres ist Paul zuständig.

Ein Urlauberpärchen tritt hinzu, junge Leute, dem Dialekt nach aus Bayern oder jedenfalls aus dem Süden, neugierig, fasziniert und ein wenig herablassend. Für sie scheint das alles hier aus der Zeit gefallen zu sein, urig, aber primitiv. Vermutlich hat es hier schon vor hundert Jahren genauso ausgesehen. Die Fischer könnten ihnen erzählen, dass hier vor hundert Jahren weitaus mehr los war, aber das tun sie nicht. Was geht das fremde Leute an, die sich doch nur über sie lustig machen?

Ein alter Anker ist zwischen dem rauen Gras zu sehen, Netze und Steurer, lange Stangen mit roten Fähnchen, mit denen die Fischer die Lage ihrer Netze und Angeln anzeigen.

»Ich habe die Dinger schon auf dem Wasser gesehen«, fällt dem jungen Mann auf. »Warum sind an manchen Stangen schwarze Fähnchen? Hat das was zu bedeuten?«

Berta könnte es erklären, es sind die Aalschnüre, die damit gekennzeichnet werden. Aber das hier ist Pauls Bühne.

»Ja, das ist so« – mit diesem Satz fangen seine Geschichten immer an – »wo die schwarzen Fahnen zu sehen sind, war eine Seebestattung. Da haben wir eine Urne versenkt.«

Die junge Frau reißt erschrocken die Augen auf, der Mann zweifelt. »Was denn, so dicht am Ufer? Muss man dazu nicht weiter raus aufs Meer fahren? Da gibt es doch sicher Vorschriften?«

»Natürlich!«, bestätigt der Fischer. »Wir sind schließlich in Deutschland, da gibt es für alles Vorschriften. Nur interessiert uns das nicht. Wenn ein Bansiner stirbt, wird der direkt hier an der Küste beigesetzt. In Bansin, wie sich das gehört.«

Der Mann schüttelt zwar den Kopf, aber er glaubt es schließlich.

Berta tritt zu Arno, der neben der Hütte Fisch säubert. Sie grinsen sich an und sie sieht eine Weile zu, wie er schnell und geschickt Aale aufschneidet und die Eingeweide entfernt, einen großen Plötz schuppt und ihm den Kopf abschneidet. Viele Kunden, besonders die Frauen, zahlen gern ein bisschen mehr, wenn sie ihren Fisch küchenfertig bekommen. Die Abfälle wirft Arno in die Dünen, wo sich die Möwen lärmend darum streiten.

Als die Urlauber gegangen sind, kommt Paul dazu. »Alter Spinner«, neckt Berta ihn gutmütig.

»Na ja, man muss doch auch mal ein bisschen Spaß haben. Aber da kommt ein noch größerer Spinner.«

Ruben Fux wirft einen anerkennenden Blick in die Fischkisten und einen verächtlichen auf Arno.

»Da habt ihr ja mal Glück gehabt. Aber was kommt am Ende dabei raus? Was nehmt ihr für den Aal?«

»19 € das Kilo, abgezogen 27 €.«

»Na klar, da bleiben dann ja auch nur 7 kg übrig von 10«, schmälert er die Arbeit des Fischers.

»Richtig verdienen tut man doch erst am Fisch, wenn man ihn an die Urlauber verkauft. Portionsweise. Ich nehm euch gern alles ab, was ihr übrighabt.«

Er weist mit dem Kopf zu seinem Stand an der Promenade. »Guckt euch das an. Die stehen Schlange seit ich um zehn aufgemacht hab. Die Frauen kommen kaum nach mit dem Brötchenbelegen.«

»Ja, mit Butterfisch und Matjes, was bei dir alles unter ›fangfrisch‹ läuft.«

»Na und? Die Leute wollen doch beschissen werden.« Verärgert will er weggehen, dann fällt ihm etwas ein und er dreht sich noch einmal um.

»Wie war denn das Silvester im Kehr wieder? Hast du den Gästen nicht erzählt, der Aal, den sie essen, wäre morgens noch im Meer geschwommen? Und die Ostsee war bis zum Horizont zugefroren? Wer ist denn eigentlich der größere Lügner von uns?«

»Das ist auf jeden Fall Paul«, mischt sich Berta ein. »Aber er macht das zum Spaß und du nur zu deinem Vorteil.«

»Ja, nimm du mal deinen Freund in Schutz.«

Das klingt aber schon wieder ganz friedlich. Jetzt bleibt er auch stehen und bietet Plötz sogar eine Zigarette an. Eine Weile rauchen sie schweigend und sehen dabei auf das Meer hinaus. Fux kneift die Augen zusammen. »Da ist eine Robbe, siehst du. Die beobachtet das Netz. Wenn sich der Steurer bewegt, weiß sie genau, da ist ein Fisch reingegangen. Dann taucht sie hin und holt ihn sich.«

Paul Plötz sieht nichts. »Du spinnst«, hofft er. »Es sind noch gar keine Robben da. Die kommen erst im Herbst.«

»Nein, kannst glauben, da ist wirklich eine. Wir werden die hier auch nicht mehr los, das steht fest. Und schließlich haben die auch ein Recht auf ihr Leben. Ich finde die sogar ganz niedlich, die Viecher. Ich mag sie.«

Er wirft die Kippe in den Sand und tritt sie aus. »Das bringt nichts mehr, Paul, nicht, wie ihr das macht. Wir müssen uns was Neues einfallen lassen. Ich hab eine Idee. Wenn das klappt, haben wir alle was davon. Aber da müssen wir mal in Ruhe drüber reden. Jetzt muss ich los. Haut rein!«

Eine Stunde später sind die beiden Fischer und Berta allein. Arno hat fast alles verkauft, er macht noch den letzten Aal sauber.

»Den könnt ihr für die Gaststätte haben«, sagt er. »Soll ich ihn abziehen?« »Ja, gerne. Danke, Arno.« Berta nickt dankbar und folgt Paul in die Bude.

 

Der hat seit Rubens Abgang kaum noch gesprochen. Schlechte Laune ist in letzter Zeit sein Normalzustand, aber heute wird es selbst Berta zu viel.

»Nun lass dich doch von Fux nicht so runterziehen«, schimpft sie. »Du kennst ihn doch. Er will dich bloß ärgern.«

»Ach, er hat ja recht. Das sind nicht nur die Robben, die Mistviecher, die uns das Leben schwer machen. Das geht hier alles den Bach runter, guck dich doch mal um.«

»Ich sehe einen guten Fang, den ihr gemacht habt und eine Menge Leute, die den Fisch haben wollen. Was soll die Spökenkiekerei?«

»Das ist ja das Verrückte. Die Gäste wollen frischen Fisch haben und es gibt genug. Wir dürfen den bloß nicht fangen. Den Fischen geht es besser als den Fischern.«

Er blickt zur Tür. »Ach, guck an, ein seltener Gast. Schickt Renate dich her? Sie wartet wohl auf den Fisch?«

Anne nickt. »Ja, sie hat heute Mittag alles verkauft und will wissen, ob ihr noch dicken Aal habt, zum Sauerkochen.«

»Ach Gott, das tut mir leid. Sie hätte doch anrufen können.« Berta weiß, dass die Köchin jetzt eigentlich Pause hat, sie hat Teilschicht und muss heute Abend noch einmal wiederkommen.

»Dein Smartphone liegt auf dem Stammtisch. Ich soll den Fisch gleich mitbringen.«

»Nun nimm uns mal nicht die Ruhe. Setz dich erst mal hin. Ierst de Piep in Brand und denn dat Pierd ut’n Groben.«

»Erst die Pfeife in Brand und dann das Pferd aus dem Graben«, übersetzt Berta für Anne, die den Fischer verständnislos angesehen hat.

»Ja, gut, aber Renate wartet.« Zögernd lässt sie sich auf einem Stapel Fischkisten nieder.

»Ich bring den Aal hoch«, ruft Arno durch die Tür. »Ich fahr dann auch gleich nach Hause, oder ist noch was?«

»Nee, mach mal. Bis morgen«, antwortet Paul seinem Kollegen. »Und du?«, wendet er sich an Anne. »Bleib sitzen, wenn du schon mal da bist. Willst ein Bier? Oder lieber einen Korn?«

Berta lacht. »Paul, das ist wie früher. Da könnte manche Bansinerin ein Lied drüber singen. Wie oft hat eine Frau ihren Mann zum Strand geschickt: ›Hol uns mal ein paar Heringe zum Mittag!‹ Und er kam drei Stunden später ohne Hering aber blau wie ein Stint wieder.«

Anne sieht sich um. Der alte Fischer hat aus zwei aneinander gebauten Buden durch Entfernen der Zwischenwand eine gemacht und jetzt genügend Platz für einige Stapel Plastikkisten, einen Berg Netze, einen großen alten Sessel, der neben dem jetzt kalten, eisernen Ofen steht und in dem er sitzt. Bertas Platz ist ein alter Küchenstuhl, der zweite, den Arno benutzt, wenn er Netze flickt, steht unter dem Fenster. Auf einem wackligen Holztisch, der an die Wand gelehnt ist, stehen ein Wasserkocher, ein paar Gläser und Tassen und eine Kaffeedose. Ein Kasten Bier wurde unter den Tisch geschoben, die Schnapsflaschen sind zwischen den Netzen versteckt.

»Wie lange steht die Baracke hier eigentlich schon?«, lenkt Anne ab. »Ganz früher standen hier doch lauter einzelne Buden, nicht?«

»Eine Langbude ist das«, präzisiert Paul. »Ja, die Alten hatten ihre Buden am ganzen Strand entlang stehen, bis nach Heringsdorf. Immer mit Abstand dazwischen. Da gab es Bansin noch gar nicht, jedenfalls das Seebad. Die Fischer kamen aus Dorf-Bansin, Sallenthin und Sellin. So um 1900 haben sie dann die ganzen Hotels und Pensionen gebaut. Die Fischer wohnten immer noch in den Dörfern. Morgens, wenn es hell wurde, im Sommer gegen drei oder vier, gingen sie zum Strand. Unterwegs haben sie sich getroffen und sind dann laut palavernd und mit ihren Holzpantoffeln über das Kopfsteinpflaster klappernd durch den Ort gezogen. Die Gäste – ein vornehmes Volk war das hier in Bansin, lauter Adlige und hohe Militärs, die haben gesoffen wie die Löcher – sind erst zwei Stunden vorher aus der Bar gekommen. Da gab es massenhaft Beschwerden.«

Er lacht. »Was sollten sie machen? Sie konnten die Fischer ja nicht abschaffen oder sonst wohin verbannen, die hatten die älteren Rechte. Aber Gäste brauchten sie auch. Bürgermeister Schmadtke war es dann, der in den Dreißigerjahren eine Lösung fand: Die Fischer sollten durch den Wald gehen – heißt ja heute noch Fischerweg, auch wenn es jetzt eine Straße ist – und da, wo der Weg am Strand endet, wurde die Langbude gebaut.

Jeder Fischer bekam als Entschädigung für seine alte Hütte eine zwei Meter breite neue Bude und den Streifen davor bis zum Wasser pachtfrei auf Lebenszeit. Oder für immer, ich weiß nicht so genau, was in dem Vertrag drinsteht. Theoretisch müsste der noch auf dem Gemeindeamt liegen, aber praktisch werden sie ihn wohl entsorgt haben; spätestens als Bansin mit Heringsdorf und Ahlbeck vereint wurde. Warum sollten die sich auch mit was belasten, was den Fischern nützt?«

»Dir gehören also diese zwei Buden – müssten demnach vier Meter sein.« Anne schätzt die Breite ein. »Und vier Meter breite Dünen und der Strand auch? Ist ja ein Ding.«

»Ja, so ist das. Aber was hab ich davon? Die meisten wissen das gar nicht mehr, interessiert ja auch keinen. Früher war das anders. Ich kann mich noch erinnern, als ich ein Kind war und mein Vater hatte die Bude, haben die sich um jeden Meter gestritten. Die brauchten den Platz ja auch. In den Dünen haben sie die Baumwollnetze zum Trocknen gespannt, da lagen auch alle Boote. Und dann haben sie im Sand die Angeln besteckt: der Fischer saß dabei in einer Grube, links und rechts lagen die Schnüre. Manchmal hat einer dem anderen in die Grube geschissen oder sie haben heimlich die Pfähle versetzt, die waren sich auch alle nicht grün.«

Berta nickt. »Ja, das stimmt. Noch schlimmer wurde es, als nach 1945 die Fischer von Wollin dazukamen, weil ihre Insel polnisch wurde. Denen haben die Einheimischen schon gar nichts gegönnt. Die ersten zwei Jahre haben sie gar nicht miteinander gesprochen.«

»Mussten sie ihnen denn Buden abgeben?«, fragt Anne.

»Nein, die haben neue gekriegt. Die standen da drüben, hinter der alten Ablieferungsbude. Einige haben sie abgerissen, als das »Haus des Gastes« dorthin gebaut wurde«, erklärt Paul.

»Die Fischer hatten schon immer den größten Spaß, wenn sie anderen einen Streich spielen konnten. Aber wenn es drauf ankam, haben sie zusammengehalten«, nimmt Berta das Thema wieder auf. Sie weiß, womit sie ihren alten Freund aufheitern kann.

»Mussten sie ja«, stimmt Paul zu. »Die Arbeit war früher viel schwerer. Und wenn ein Sturm aufkam, mussten sie alle zusammen schauen, dass sie die Boote nach oben und in Sicherheit bringen. Nicht mit einem Traktor, so wie heute. Damals wurden sie per Hand, mit reiner Muskelkraft, hochgekurbelt.«

Berta nickt. »Das war sogar zu DDR-Zeiten noch so. Da mussten die Boote abends auch immer in die Dünen gezogen werden, damit über Nacht keiner Republikflucht begehen konnte.«

»Stimmt«, ergänzt Paul. »Und sie wurden mit einem Vorhängeschloss gesichert. Das ging zwar auf, wenn man nur dagegen gepisst hat. Aber es war eben Vorschrift, wenn es fehlte, hieß es ›Strafe zahlen‹.«

»So«. Berta steht auf und reckt sich. »Ich geh dann mal Kaffee trinken. Anne, was ist mit dir? Paul, du kannst auch mitkommen. Arno sitzt bestimmt noch bei Sophie.«

»Ja, mag sein, aber ich muss nach Hause. Meine Frau nervt mich schon seit Tagen, ich soll ihr was im Garten helfen.« Er verdreht die Augen. »Irgendwas Schweres, was sie allein nicht schafft. Sie soll sich nicht so anstrengen, ist auch nicht mehr die Jüngste. Aber ihr Garten ist eben ihr Ein und Alles. Vor allem darf sie sich nicht aufregen, das ist nicht gut bei ihrem Diabetes. Ich werd es heute mal hinter mich bringen, damit ich meine Ruhe hab.«