Mann und Frau und Weltreise

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Test, Test, Test

Die Testphase scheint im vollen Gange. Wie viel sollten wir mitnehmen an Klamotten und Ersatzteilen und Büchern und DVDs und Essbarem? Welche Art der Navigation funktioniert am besten für uns? Reicht da ein doppelter Boden oder lieber dreifach abgesichert? Wie ist es mit der Versorgung unterwegs? Wie geht das mit dem Wasser zum Beispiel? Müssen wir das immer kaufen? Oder finden wir Quellen, bei denen wir das gute Gefühl haben, uns keinen Wolf in den Bauch zu holen? Alles Themen, die in unserem organisierten Alltag zu Hause überhaupt keine Rolle spielen. Doch wie einsam fühlen wir uns dann, so allein auf weiter Flur? Ist es da eine Erleichterung, mal eine DVD einzuschieben und ein Stück der Zivilisation zu erleben? Oder geht uns das dann grenzenlos auf die Nerven?

Ich habe keine Ahnung und werde es wohl auch erst erfahren, wenn wir tatsächlich auf unserer langen Tour sind. Doch bis dahin ist es noch ein paar Mal schlafen. Im Moment stehen andere Fragen vor der Tür und drängen sich mit ihren fetten Schlammschuhen zu uns herein. „Wo fahren wir in etwa lang?“ Und damit meine ich nicht, welche Piste und welche Abzweigung wir wählen. Nein, ganz grundsätzlich. Was sind unsere Länder? Es soll gen Osten gehen. Gut, so weit haben wir uns inzwischen verständigt. Die Seidenstraße liegt uns beiden am Herzen. Das Wort „Seidenstraße“ löst etwas Magisches in uns aus. Es zieht uns an, es lässt uns nicht los, es bewegt sich in uns und bewegt uns. Wir wissen, ob wir nun darüber sprechen oder schweigen, die Seidenstraße ist DER Aspekt unserer Reise. Dumm nur, dass „Seidenstraße“ absolut verheißungsvoll in meinen Ohren klingt. Doch „Russland“ macht genau das nicht. Etwas unendlich Düsteres erscheint bei diesem Wort in meiner Vorstellung. Rau, unwirtlich, unfreundlich. Sorry Russland, ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Doch du kommst mir gigantisch und damit angsteinflößend vor. Ist echt eine riesengroße Frage für mich, ob ich mir vorstellen kann, dich zu bereisen. Auf unserer großen Tour. Der Reise unseres Lebens. Wir machen es kurz und pragmatisch. Noch haben wir zwei Jahre Zeit. Wir schnappen uns die Wochen unseres Sommerurlaubs, beantragen kühn ein Visum für Russland. Rechtzeitig bitte. Denn sechs Wochen Wartezeit sind schon die Schnellbehandlung. Finden eine Fährverbindung nach Finnland und machen uns auf den Weg.

Es ist ein Test. Wir nennen ihn auch so. Die zwei großen Fragen sind: Können wir uns vorstellen, Russland für längere Zeit zu bereisen und alle hemmenden Vorurteile über Bord zu werfen? Und die zweite, fast noch entscheidendere Frage ist die nach unserem Reiseteam: Können wir uns tatsächlich vorstellen, dass es gelingt, zu zweit für eine so lange Zeit unterwegs zu sein? Auf engstem Raum. Den anderen permanent um sich zu haben. Alle bisherigen Reisen unternahmen wir mit unseren Kindern oder Freunden. So richtig auf uns allein gestellt waren wir seit Ewigkeiten nicht mehr. Das Gute an uns beiden ist, dass wir herrlich über uns selbst lachen können. Wir spüren, wann es zwischen uns bierernst wird. Und dann kracht es. Aber richtig. Dann fliegen die Fetzen. Doch bis dahin gibt es ein großes freies Feld voller Humor, der uns weit trägt. Also, auf in unser Testabenteuer Russland. Als Ziel haben wir uns den Onegasee in Karelien ausgesucht. Er ist der zweitgrößte See Europas, gleich hinter seinem Nachbarn, dem Ladogasee. Nur kennen sowohl den einen als auch den anderen See nur wenige Leute. Und dass sie die größten Seen Europas sind, ist fast völlig unbekannt. Einhundert Kilometer ist er breit und zweihundertfünfzig Kilometer lang, der Onegasee. Petrosawodsk liegt als Hauptstadt Kareliens am Ufer des Sees. Die Insel Kischi ragt als Anlaufpunkt aus seiner Mitte heraus. Rundherum ist ein großes Nichts. Also genau die Gegend, die wir suchen, um herauszufinden, ob das mit uns beiden klappen kann. Super Urlaub. Tolle Aufgabe. Spitzen-Idee … Und, wie gehen wir den jetzt an, den Test?

Erst einmal fahren wir lange, schweigsame Kilometer zu zweit von Jena aus nach Travemünde. Dort reihen wir uns ein in die Schlange der Wartenden. Aus Nachmittag wird Abend. Aus Abend schließlich Nacht. Langeweile scheint nicht aufzukommen bei den vielen Abenteuergeschichten, die hier zum Besten gegeben werden. Eine Schlange voller Helden, so kommt es mir vor, hat sich vor und hinter uns gebildet. Wir zwei mittendrin. Es muss bei so viel Heldentum ja auch noch Leute geben, die zuhören. Und an den entsprechenden Stellen „Oh“ und „Ah“ und „Ach so“ oder auch „Wie schlimm“ von sich geben. Ich sage nur Gruppendynamik.

Für mich ist spannend zu erleben, wie alle zu Beginn einfach Wartende auf eine Fähre sind. Scheinbar jeder dem anderen gleich. Doch blitzschnell sind die einen die Seebären, die anderen die Großwildjäger, wieder andere die Weltenkenner oder unerschrockenen Recken. Suchende, Fragende oder still Erwartende scheinen nicht vertreten. Schade. Das wären die, zu denen es mich ziehen würde. Nun, ich kann nicht alles haben. So schlüpfe ich in die Rolle des beobachtenden Zuhörers und betreibe meine Studien darüber, wer mit wem und warum wer wie meint, sein zu müssen oder zumindest wirken zu wollen. Einen Riesenspaß habe ich dabei. Und schwuppdiwupp öffnet sich das große Maul der Fähre, bittet gähnend um unser Eintreten, oder besser Einrollen. Unseren Schlaf den Wellen geschenkt, den darauf folgenden Morgen ebenso. Ein Tag auf dem Meer. Ein wundervoller Zwischenraum von nicht mehr und noch nicht. Sicherer Boden, wo keiner ist. Ein Glas Weißwein mit Krabbencocktail, später Roséwein mit Krabbenbrot und immer so fort. Was für ein Genuss. Der Tag zieht in Wellen an uns vorbei. Ich fühle mich wohl. Beobachte auf jedem Meter, wie es mir geht. Es ist ja ein Test. Und ich bin die Testperson sowie beobachtendes Fachpersonal in einem. Ich selbst werde später auch die Auswertung des Tests vornehmen. Objektivität ist ein Muss. Wäre ja sonst alles im Eimer, mit dem Test und seinen Ergebnissen. Ob ich mich selbst besteche und mit mir mal um die Ecke gehe, um da ein, zwei Dinge zu klären? Ich werde sehen.


Männersache?

„Da hast du echt Glück, ’ne Frau zu haben, die das mitmacht“, klingt es Sten des Öfteren in den Ohren. Aus dem Mund von Männern kommt das. Ja klar. Geht auch gar nicht anders. Weil die Frauen, die darauf niemals Bock hätten, dem Gedanken niemals begegnen und die, die es wollen, machen es einfach. Auf ihre Art. Mit Mann, ohne Mann, mit Freundin oder allein.

Ich weiß genau, da gibt es eine Menge davon. Von denen, die Ähnliches tun. Nicht unbedingt mit fahrbarem Untersatz. Vielleicht eine Nummer feingliedriger. Doch Fakt ist: Ein Männerding allein ist das keineswegs. Dieses sich Aufmachen. Leinen lösen, um loszuziehen, um zu schauen, was es zu sehen gibt. Hätte ich ein solches Vorhaben allein in mein Auge gefasst? Ein ganz klares JA durchzuckt mein Gehirn. Anders wäre es. Halt mein weiblicher Weg, ohne ihn feminin nennen zu wollen. Schraubend allein unter dem Auto zu liegen wäre garantiert nicht mein Ding. Wohl eher die Bauch-Beine-Po-Variante mit Rucksack und so. Was meine Füße in der Lage sind zu tragen. Um mich selbst tragen zu können. Auch interessant. Nur gerade nicht dran. Unser Abenteuer ist das, es gemeinsam anzugehen. Spannend genug. Nicht ohne Spannung. Nehmen wir erst mal den Doppelsitzer, bevor ich mich irgendwann vielleicht in den Einer wage. Wer weiß. Noch gibt es nur den Plan für die Besetzung am Start. Wie es bei der Landung aussieht … Wer da wo sitzt und mit wem ist offen, offen, offen.

Männersache? Nee. Einzig die Wege und die Art des Gehens unterscheiden sich. Mädels, auf ins Getümmel. Mit Gegröle und Tamtam!


Von Grenzgängern und Bienen

Finnland ist mir vertraut. Das ist für mich ein Boden, der nicht schwankt. Weite, Kargheit, breite Straßen, Einsamkeit. Genauso, wie ich es mag. Und eben trotzdem das gewisse Gefühl der Vertrautheit. Täuscht es mich oder täusche ich es? Weiß nicht. Auf alle Fälle fühle ich mich pudelwohl und will nicht weiter.

Zwischenfazit für meinen Testbericht: Bis Finnland ist alles bestens.

Doch Finnland ist maximal die Startrampe und nicht der Landepunkt. Ob mir das nun lieb ist oder nicht, stehen wir plötzlich vor der russischen Grenze. Der spärliche Verkehr wurde auf den letzten Kilometern kaum mehr wahrnehmbar. Warum auch, hier in Finnland ist es ja schön.

„Ede, jetzt gib dir einen Ruck und zicke nicht so rum“, sage ich energisch zu mir selbst und schaue der auf High Heels schwebenden, langbeinigen, mit Feinstrumpfhosen bekleideten, korrekt im Kostüm steckenden Grenzbeamtin mit straff sitzendem Dutt und frechem Käppi obenauf tapfer ins Gesicht. Zu meiner Überraschung lächelt sie mich an und weist uns, den Finger ausstreckend, in die Schlange, an deren Ende wir uns stellen sollen. Um uns herum laufen Männer mit vielen Zetteln in den Händen. Wir haben keine, versuchen uns vielmehr erst einmal einen Überblick zu verschaffen, über das, was hier gespielt wird. Bis die Käppi-Dame mit wehenden Zetteln auf uns zugelaufen kommt und deutet, dass wir die alle auszufüllen hätten. Alles klar. Oder eben nicht.

Die Aufdrucke sind schwach zu sehen. Wohl die einhundertste Kopie von einer schlechten Vorlage. Doch das ist halb so wild. Schweißperlen kullern uns von der Stirn beim Anblick der massenhaft kyrillischen Buchstaben. Ohne einen Hauch von Ahnung, was hier abgefragt wird. Danke Russischunterricht in der DDR! Hast echt was gebracht …

 

Ein Mann scheint uns beobachtet zu haben und kommt lächelnd auf uns zu. Er sei Finne, sagt er, und kenne das Prozedere hier. Freizügig reicht er uns Papiere des optisch gleichen Eindrucks, jedoch mit englischem Aufdruck. Der Mann ist unser Retter. Seine Bögen sind sogar schon ausgefüllt. Also für uns nun ein Kinderspiel, es ihm gleichzutun. Wie zwei mit Tinte beschmierte, aber über beide Ohren glückliche Schreibanfänger laufen wir zu Frau Käppi, um ihr stolz unser Werk zu präsentieren. Wie von einer strengen Lehrerin kaum anders zu erwarten, wirft sie maximal einen halben Blick auf die Blätter und zeigt wie beiläufig auf eine der vielen kleinen Hütten, die für unseren laienhaften Verstand keiner erkennbaren Logik folgen. Wir stellen uns an, lassen uns wegschicken, versuchen es an anderer Stelle erneut und sind froh, ab und an mal einen Grenzgänger zu treffen, der ein paar Brocken Englisch spricht. Unser Schulbrockenrussisch scheint der aktiven Verständigung nicht wirklich zu dienen.

Für den Testbericht: Die Menschen wirken an der Grenze freundlicher auf mich, als ich gedacht hatte. Und weiter: Geduld hilft. Heute hier und sicher an den vielen Grenzen, die uns auf der großen Tour erwarten. Wer meint, irgendetwas ginge schnell, irrt und hat sich selbst den schwarzen Peter zugespielt. Zu uns beiden vermerke ich auf meinem imaginären Testbogen: Es klappt mit uns. Beide gehen wir gut gelaunt auf Leute zu, um Infos zu erhaschen, ins Gespräch zu kommen und so automatisch Hilfe angeboten zu bekommen. Wir sind beide alles andere als scheu. Ein Bienchen für jeden von uns.


Russland, wer bist du?

Es holpert und kracht. Die Straße, die von der Grenze wegführt, gleicht mehr einem Feldweg denn einer internationalen Transportverbindung zur Unterstreichung guter bilateraler Beziehungen. Rechts und links ist nichts zu sehen für mich. Gut, ich bin nun auch nicht so groß. Doch Sten geht es nicht wirklich anders. Alles voller dichtem, undurchdringlichen Bewuchs, andernorts auch Gestrüpp genannt. Ich spüre, wie es eng ist in meinem Hals. Das Atmen will nicht fließen und mein Magen scheint die Form einer geballten Faust angenommen zu haben, die sich definitiv nicht öffnen lässt.

Ich weiß, dass ich ganz schön ungerecht bin, mit meinem Rucksack an vorgefertigter Meinung hier vorzufahren. Doch, bitte, ja, ich kann nicht raus aus meiner Haut. Die windschiefen Blechhütten, die klapprigen Holzverschläge der Hühner, die sturmgebeutelten Strommasten, die scheppernden Autos um uns herum. Das alles gibt mir das Gefühl, mich auf einer Zeitreise zu befinden. Und nicht im Urlaub. Mein neues Sommerkleid und der bunte Bikini werden in den kommenden Wochen wohl eher Sommersendepause haben, als dass es ihre Stunden wären, die da schlagen würden. Ich weiß nicht, was Sten gerade denkt. Er redet nicht. Doch so ganz wohl scheint auch er sich nicht zu fühlen. Das entnehme ich seinem kurzen stimmlosen „Nein“ bei jeder möglichen oder unmöglichen Stelle, die wir finden, um unsere erste Nacht in Russland zu verbringen. Was genau zu den „Neins“ führt, scheint sich mehr in der Welt der Gefühle und des Unterbewussten abzuspielen, als in der klar auftrumpfenden Bewusstheit.

An einer Wegegabelung halten wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Also mehr ein Müssen, denn ein Wollen. Wir sehen einfach nichts mehr. Ein kleines Feuer, wenige Worte, baldig die Entscheidung, doch jetzt schlafen zu gehen. In unserem Fahrzeug. Ein Hauch von Schutz und Sicherheit in dieser ersten Nacht in Russland. Mein Fazit: Ganz schön viel Fremdheit, in der mir unbekannten Gegend. Daran werde ich mich gewöhnen müssen, wenn wir von Land zu Land ziehen wollen. Dort, wo die Scheinwerfer der Aufmerksamkeit wegen internationalen Desinteresses abgeschaltet sind. Tappen im Dunkeln, sozusagen. Landwege sind anders als die Flughafenzubringer. Das steht für mich ab heute mal fest.


Die Kuh, der Friedhofsgärtner

Neuer Tag, neues Glück. Sieht doch gleich viel freundlicher aus, unsere Weggabelung, die zwei Feldwege in verschiedene Richtungen schickt. Habe ich über Nacht neue Augen bekommen? Oder warum erscheint mir heute alles viel sympathischer? Obwohl es regnet, ist heute viel mehr Licht um mich herum. Wir entdecken da eine kleine Holzschindelkirche, dort einen eigenwillig verwunschenen Friedhof mit russisch-orthodoxen Kreuzen darauf, von deren Enden dicke Regentropfen ins hohe Gras platschen. Unterschlupf suchend, um unsere Leberwurst-Schnitten im Trocknen zu essen, setzen wir uns an den überdachten Eingang einer kleinen abgelegenen Kirche. Doch offensichtlich ist sie nicht so weitab vom Schuss, wie wir glauben, denn kaum den ersten Bissen getan, kommt ein junges Mädchen aus dem Dorf angelaufen und schließt uns die massive, reich mit Schnitzereien verzierte Tür auf. Drinnen spärliches Licht, welches feinfühlig über die an den Wänden hängenden Ikonen huscht. Staub liegt auf den vertrockneten Blumen, die einst Frische ausströmten. Heute sind sie längst konserviert vom Staub der ruhigen Tage. Tropfnass, in meiner Super-Wind-und-Wetter-Jacke, stehe ich im Inneren eines kleinen Heiligtums. Zum ersten Mal empfinde ich nun so etwas wie Wärme und Zuneigung dem Land gegenüber, in das wir uns aufgemacht haben. Zum Test.

Mir schwant, dass ich das für mich Besondere, mich tief Bewegende, eher an Orten finde, die nicht ausgetreten, vom Tourismus gekauft und mit einer Glätte überzogen sind, die zwar schön, doch nicht mehr ursprünglich sind. Zum ersten Mal seit langem steigen eine Freude und ein Vor-Freuen in mir auf, für das, was wir auf unseren Abwegen erleben und entdecken können, wenn wir uns darauf einlassen. Es ist, als drehe sich in mir eine Holzschraube um eine Vierteldrehung weiter. Als verschöbe sich das Maß meiner Dinge. Ich beginne, etwas selbst zu entdecken, so ganz für mich, im Stillen. Mit einem Mal wandelt sich mein Blick. Ich lächele der im Friedhofsgras aasenden Kuh zu, als verstünden wir uns plötzlich, ganz ohne Worte.


Orthodoxe Träume

Ich liebe es, wenn Sten sein Zeichenbuch aus der Tasche zieht, die Feder reinigt, das Tintengläschen öffnet und einen konzentrierten, sein Umfeld ausschaltenden Blick auf seine eigenen Nase setzt. Da durchzieht ihn eine sichtbare Entspannung und er scheint angekommen in dem Moment. Zu Hause haben diese Augenblicke Seltenheitswert. Umso mehr liebe ich unser Unterwegssein dafür. Und wenn sich dann tatsächlich alles fügt und er sich ein Stück Zurückgezogenheit gönnt, um zu zeichnen, dann treten wir beide gemeinsam in einen wundervoll nahen Zustand ein.

Eine baufällige, doch offensichtlich noch nicht aufgegebene windschiefe orthodoxe Holzschindelkirche hat es Sten heute angetan. Auf einer freien großen Wiese oberhalb eines Dorfes steht sie. Mit grandioser Sicht über das ganze Tal. Die Wiese ist unser Platz für die kommende Nacht. Geschützt genug und trotzdem wunderbar geräumig. Sten zeichnet, ich lese. Doch weit komme ich nicht, denn zwei Motorradfahrer halten ihre Lenker auf uns zu. „Kennen den Ort hier also doch noch andere“, flüstern wir beide. Die zwei Jungs sind Städter aus Petrosawodsk und auf Wochenendtour. In der Kirche wollen sie schlafen. Am überdachten Eingang. Den kennen sie schon von vorhergegangenen Touren, erzählen sie uns. Einhundertfünfzig Kilometer liegt Petrosawodsk, die Hauptstadt Kareliens, entfernt. Eine geniale Distanz für ein verlängertes Wochenende mit Abenteuerfeeling. In russische Armeeklamotten sind die beiden gepackt. Wohl die praktischste Kleidung hier draußen.

Auf drei Arten fangen wir an, miteinander ins Gespräch zu kommen. Sten probiert seine Restbrocken an Russisch aus, die beiden ringen mit ihren verschütteten Englisch-Kenntnissen. Und was weder so noch so klappen will, sagen wir einfach mit Händen und Füßen. Wurst von der Babuschka, Marmelade von der Mama und einen Kanten Schwarzbrot zaubern die Jungs aus ihren Satteltaschen. Ich steuere mit Hilfe unseres kleinen Gas-Kochers gegarten Reis mit Frikassee bei und unser abendliches Festmahl kann beginnen.

Die Kirche am Morgen, das Mädchen mit dem Schlüssel, nun die beiden erschienen wie aus dem Nichts … Ereignisse, aufgefädelt wie auf einer Perlenschnur, einem Traum gleich. Es fließt, merke ich und genieße die wunderbaren Zufälle, die vielleicht Fügungen sind, weil wir sie hereinbitten, in unseren Tag.

Lektion für meinen Testbericht: Lass dich ein, Ede. Und das Herrlichste geschieht dir.


Die fixe Idee

Irgendetwas musste es doch geben über Karelien, dachte ich vor Beginn unserer Reise. Einen Reiseführer oder Berichte von anderen Reisenden nach Russland. Ich wollte mich einstimmen auf unsere Tour in den Norden. Die Literatur schien das anders zu sehen. Sie sagte mir offensichtlich: Lass dich überraschen. Doch ein Buch, das fand ich. „Das Haus am Onegasee“ hieß es. Das Titelbild, ein stattliches Holzhaus, eingebettet in hohes Gras. Ein klappriges Holzboot daneben. Die Komposition sollte wohl die Nähe zum Wasser verdeutlichen. Einfach ein Bild mit, was weiß ich für einem Haus darauf. Einfach ein Titel, der meint, es handele sich um ein Haus am See. Und was machten wir beide daraus? Unser Projekt! Wie jetzt? Was für ein Projekt? Wir hatten uns mit einem Mal in den Kopf gesetzt, dieses Haus zu finden. Woher die fixe Idee kam, weiß ich nicht. Sie war plötzlich da und wollte aus unseren Köpfen nicht mehr weichen.

Mariusz Wilk ist der Verfasser des Buches. Offensichtlich hat er einmal in Karelien gelebt. In seinem Buch beschreibt er sein Leben im hohen Norden. Er berichtet davon, wie er es anstellte, sich ein Haus am See auszubauen, es mit Strom und Wasser zu versorgen. Wie er lebt am See und mit den Menschen drum herum. Pole ist er, der zu Zeiten von Glasnost und Perestroika in die damalige UdSSR kam, um als Journalist zu arbeiten. Die Zeiten haben sich gewandelt. Er scheint offenbar geblieben. Oder ist inzwischen auch gegangen. Das konnte ich dem Buch nicht wirklich entnehmen. Auf alle Fälle beschreibt er das Leben in Karelien sehr genau, gibt den Menschen in seiner Umgebung Einzigartigkeit und lässt den einen und anderen Hinweis in seinen Texten darüber fallen, wo sich, wenn es das denn geben sollte, das Haus steht.

Den See zu umrunden wird unser Plan. Nicht ausgesprochen merken wir nach ein paar Tagen, dass wir uns immer in Ufernähe befinden und uns daran entlang zu hangeln scheinen. Wie ein Meer liegt das weite Wasser vor uns. Das andere Ufer ist nicht zu sehen. Schwemmland um den See herum lässt uns große Haken schlagen und Bögen nehmen. Doch von Tag zu Tag lieben wir das einsame Unterwegssein in fast menschenleerem Gelände mehr und intensiver. Zehn Tage machen wir das nun schon so. Fahren, machen Halt, schauen uns um, bleiben oder ziehen weiter, wenn es uns geeigneter erscheint.

Eine große freie Wiesenfläche lässt uns stoppen. Sie sieht aus wie ein Sommertraum in Gelbgrün. Sanft biegt sich das meterhohe Gras im Wind. Die Sonne steht sommerlich warm im fotogenen Gegenlicht. Ich weiß nicht, was Vorsehung ist. Und ich kann nicht sagen, warum wir beide genau hier anhalten wollten. Doch ob Traum oder Wirklichkeit stehen wir mit einem Mal vor einer Hausrückseite, die mich in ihrer Kontur an das Haus auf dem Buchtitel erinnert. Ich traue mich nicht näher heran, da ein Mann Beeren pflückend den Weg durch seine Anwesenheit versperrt. Doch ich bin mutig und gehe auf ihn zu. Mit Englisch versuche ich es. Wohl wissend, dass ein alter Mann hier mitten im Nirgendwo meine englischen Worte wohl kaum verstehen würde. Doch er antwortet auf meine Frage, ob ich mir das Haus ansehen dürfe, mit Yes. Verwirrt schaue ich ihn genauer an und traue mich weiterzugehen, obwohl ich selbst nicht verstehe, warum ich das tue. Ob er Pole ist, frage ich. Ohne zu wissen, woher diese Frage gerade in mir kommt. Auch darauf antwortet er mit yes. Nun platzt es aus mir heraus: „Are you Mariusz Wilk?“

 

Er stutzt und richtet sich auf. Ich habe keine Ahnung, was gerade geschieht und ich weiß nicht, wie es möglich ist, auf einer Fläche von knapp zehntausend Quadratkilometern dem Mann zu begegnen, bei dem es sich um nichts weiter als eine fixe Idee handelte, einen Spaß, ihn finden zu wollen. Wir haben nichts gezielt unternommen und stehen nun offensichtlich vor genau diesem Mann. Ich renne zum Auto und hole sein Buch. Mit ihm in der Hand laufe ich an die Vorderseite des Hauses und erkenne es sofort wieder. Ein Gerüst hält es gerade. Doch ansonsten alles da – das Haus, das Boot, das hohe Gras. Und wir meinten, alles sei für die Titelseite in einem Grafikprogramm zusammenmontiert worden.

Mariusz bittet uns ins Haus. Es ist mir auf eine merkwürdige Weise vertraut. Da er es, zum Beispiel den Bau seines Kamins, sehr detailliert im Buch beschreibt. Bei einem gemeinsamen Glas Tee bin ich mir nicht sicher, was gerade vor sich geht. Sind wir augenblicklich in dem Buch? Ist das Buch in uns? Werden wir auf seltsame Weise Teil der Handlung?

Ich bin verwirrt und entzückt zugleich. Mehr noch, als Mariusz beginnt, von den Leuten, die er im Buch beschreibt, zu erzählen. Sie werden eigenwillig real und waren noch vor wenigen Stunden für uns vollkommene Illusion. Alles scheint in mir zu wanken, als Mariusz mich bittet, ihn auf einem Stein vor seinem Haus mit Blick auf den See zu fotografieren. Unter diesem Stein, auf dem er gerade sitzt, möchte er eines Tages begraben werden, erzählt er uns und lächelt dabei.

Viel innere Bewegung schreibe ich heute in meinen Testbogen. Die Lebensläufe sind so vielfältig. Mitunter stoßen wir an den Kanten miteinander zusammen. Und Großartiges geschieht dabei.


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