Pia-Lotta

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Pia-Lotta
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Pia-Lotta

Für Henri und Charlotte

In Memoriam

Heidemarie Straube

Pia-Lotta

Elissa Grossa

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2012 Elissa Grossa ISBN: 978-3-8442-4530-1

1

Ein warmer Sonnenstrahl fiel durch den schmalen Spalt der Fensterläden in das große Zimmer und kitzelte Pia-Lottas Nasenspitze. Langsam drehte das kleine Mädchen in dem riesigen Himmelbett mit den rosafarbenen Vorhängen, den geblümten Kissen und Decken ihren blonden Kopf zur Seite und kräuselte die Nase. Sie rieb sich verschlafen die Augen und richtete sich langsam auf. Ihre verwuschelten Haare standen zu allen Seiten ab.

Hm, die Sonne scheint, dachte Pia-Lotta, während sie sich noch einmal räkelte. Es würde bestimmt ein herrlicher Tag werden.

Pia-Lotta verbrachte wie jeden Sommer auch in diesem Jahr ihre Ferien auf dem Lande bei ihren Großeltern. Es war ein ganz altes Haus in dem ihre Großeltern seit vielen Jahren lebten. Pia-Lottas Großmutter war schon hier geboren und später, nachdem sie und der Großvater geheiratet hatten, sind sie hier wohnen geblieben. Auch Pia-Lottas Mutter und ihre Geschwister sind hier geboren worden. Aber vor einigen Jahren sind Pia-Lottas Eltern in eine große Stadt gezogen, wo sie in einer kleinen Wohnung leben. Aber Pia-Lotta verbrachte ihre gesamten Ferien bei ihren Großeltern auf dem Lande in dem schönen, großen und alten Haus.

Leises Vogelgezwitscher und Taubengurren erreichten die Ohren des kleinen Mädchens.

Pia-Lotta sprang aus ihrem Bett, lief zum Fenster und stieß die Fensterläden mit einem lauten Krachen weit auf. Einige Tauben, die vor dem Fenster saßen, flatterten erschrocken auf.

Während Pia-Lotta auf den davor liegenden Balkon trat und sich umsah, wurde das Zimmer mit hellem Sonnenlicht durchflutet.

Ein leichter Sommerwind wehte und fuhr unter Pia-Lottas Nachthemdchen. Sie streckte sich nach allen Seiten und atmete die frische Sommerluft tief ein. Ein herrlicher Morgen, dachte Pia-Lotta.

Zu dem großen Haus gehört auch ein großer Garten mit vielen großen und ebenso alten Bäumen. Pia-Lotta kletterte gerne auf diese Bäume und naschte von den vielen Früchten, den Äpfeln, Birnen, Kirschen und Pflaumen. Es war eine herrliche Pracht, wenn die Bäume im Frühjahr zu blühen begannen. Pia-Lottas Großvater hatte ihr im letzten Sommer auf einem dieser Bäume ein Baumhaus gebaut, in das sie mit einer Strickleiter klettern konnte.

Plötzlich hörte Pia-Lotta ein leises Gepiepse und Geschnatter. Es kam von weit her. Vielleicht von dem See, der ganz in der Nähe des Hauses von Pia-Lottas Großeltern war.

`Was ist das nur?´, wollte Pia-Lotta allzu gerne wissen.

Es klopfte an der Tür. Pia-Lottas Großmutter, eine schmale, ältere Dame, öffnete die Tür und steckte ihren Kopf in das Zimmer. Sie hatte ihre weißen Haare zu einem Knoten aufgesteckt und trug eine Kittelschürze.

„Guten Morgen, Pia-Lotta, das Frühstück ist fertig. Kommst du mit in den Garten?“ fragte sie das kleine Mädchen am Fenster.

„Omi, Omi!“ rief Pia-Lotta aufgeregt. „Hast du das Geschnatter da draußen gehört?“

„Kind, du bist ja ganz aufgeregt“, antwortete ihr die Großmutter.

„Was ist das? Woher kommt das? Darf ich gleich hinauslaufen und nachschauen?“

Nun musste Pia-Lottas Großmutter den kleinen Wirbelwind bremsen.

„Du wirst dich erst waschen und anziehen. Und dann zum Frühstücken in den Garten kommen. Opa wartet schon.“

In großer Eile lief Pia-Lotta ins Badezimmer, während ihre Großmutter ihr das geblümte Sommerkleid herauslegte. `Omi ist ja schon manchmal etwas streng´, dachte sich Pia-Lotta grinsend, während sie sich die Zähne putzte.

Wenige Minuten später war Pia-Lotta fertig angezogen im Garten und begrüßte fröhlich ihren Großvater.

„Aber Pia-Lotta, du hast Dir ja noch gar nicht die Haare gekämmt. Geh, lauf zur Oma in die Küche. Sie wird Dir die Haare flechten“, sagte der Großvater lachend zu Pia-Lotta.

Mittlerweile war Pia-Lotta auf den Schoß ihres Großvaters geklettert und hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen.

„Opa!“, sagte sie mit beschwörender Stimme zu ihrem Großvater. „Hast du auch schon das Geschnatter gehört? Es war so laut, dass ich davon aufgewacht bin. Können wir gleich nach dem Frühstück nachsehen, was da so schnattert und piepst?“

„Jetzt gehst du erst mal und lässt dich von der Oma hübsch machen! Sonst fürchten sich die kleinen Entchen, weil sie dich für das neue Teichgespenst halten“, sagte der Großvater lachend und schob das kleine Mädchen sanft von seinem Schoß.

„Entchen, Entchen! Woher weißt Du, dass es Entchen sind?“ wollte Pia-Lotta von ihrem Großvater wissen und versuchte wieder auf den Schoß zu klettern.

„Das werde ich Dir beim Frühstück erzählen“, sagte der Großvater und schickte Pia-Lotta zu ihrer Großmutter in die Küche.

Als Pia-Lotta einige Zeit später mit ihren Großeltern und zwei geflochtenen Zöpfen beim Frühstücken im großen Garten sitzt, lässt sie nicht locker, von ihrem Großvater die Geschichte mit den Entchen zu hören.

„Ich habe heute morgen Lukas, den alten Schuhmacher, beim Bäcker getroffen“, erzählte der Großvater, während er sich Erdbeermarmelade auf sein Brötchen schmierte. Lukas lebt in einem kleinen urgemütlichen Häuschen am See. Pia-Lotta besuchte ihn manchmal, wenn sie Schuhe für ihre Großeltern zum Reparieren zu ihm brachte.

„Er hat mir erzählt, dass heute ganz früh sechs Entchen geschlüpft sind. Wenn du möchtest, können wir nach dem Frühstück zu Lukas hinübergehen und nach den Entchen schauen.“

„Au fein!“ Pia-Lotta jubelte und stopfte sich das Schokoladenbrötchen in den Mund, so dass sie kaum noch kauen konnte.

„Pia-Lotta, iss anständig. Wie sieht das denn aus?“ sagte die Großmutter streng. „Pass bitte auf, dass du Dir nicht das schöne Kleid mit der Schokoladenkrem beschmierst!“

Pia-Lotta schluckte mühsam das Brötchen herunter, trank schnell ihren Kakao aus und wischte sich mit der Hand über den Mund.

„Nimm die Serviette! du hast die Schokolade im ganzen Gesicht verteilt“ Der Großvater reichte Pia-Lotta die Serviette herüber.

„Fertig! Können wir losgehen, Opa?“ Pia-Lotta hatte manchmal ein Tempo drauf, dass es ihren Großeltern fast schwindelig wurde.

„Pia-Lotta!“ sagte jetzt der Großvater streng. „Du musst wirklich etwas geduldiger werden! Lass mich erst noch meinen Kaffee austrinken!“ Ungeduldig zappelte Pia-Lotta auf ihrem Stuhl hin und her. Warum sind die Erwachsenen eigentlich so langsam. Es gibt jetzt doch schließlich Wichtigeres als Kaffee zu trinken und wahrscheinlich gleich auch noch die Zeitung zu lesen. Pia-Lotta legte den Kopf schief und seufzte.

Nach einiger Zeit hatte der Großvater zu Ende gefrühstückt und die Großmutter begann den Tisch abzuräumen. Pia-Lotta wollte ihr helfen, doch ihre Großmutter meinte, dass sie jetzt so geduldig gewartet habe und nun mit dem Großvater nach den Entchen schauen sollte.

Der Großvater nahm Pia-Lotta an die Hand und ging mit ihr durch den großen Garten an den vielen bunten Blumen vorbei. Am Ende des Gartens gingen sie durch eine Pforte hinaus auf einen Sandweg, der sie an einem kleinen blühenden Rapsfeld auf der linken Seite und einer Kuhweide auf der rechten Seite vorbei über eine kleine Brücke zum Haus von Lukas führte. Lukas saß wie immer im Sommer auf einer Bank vor seinem Haus und rauchte seine Pfeife.

„Guten Morgen, Pia-Lotta“, begrüßte Lukas das kleine Mädchen.

„Hallo, Lukas!“ Pia-Lotta hatte bereits die Hand ihres Großvaters losgelassen und war auf Lukas zugelaufen. „Lukas, Lukas! Wo sind denn die Entchen. Opa hat mir erzählt, dass sie heute geschlüpft sind.“

„Dort drüben am See.“ Lukas zeigte in Richtung des kleinen Steges, der in den See hineinragte und an dem immer ein kleines Segelboot angebunden war. Lukas fuhr manchmal mit Pia-Lotta in dem Segelboot auf den See hinaus und hatte ihr so das Segeln beigebracht.

„Aber sei leise! du erschrickst sie sonst. Sie sind ja noch ganz klein. Und Elvira kann ziemlich ärgerlich werden.“ Nun nahm Lukas Pia-Lotta an die Hand und ging mir ihr und dem Großvater zum Steg hinunter. Pia-Lotta zog Lukas mehr hinter sich her. So eilig hatte sie es zum Steg zu kommen.

Pia-Lotta schaute sich um, aber sie konnte die kleinen Küken nicht sehen. Plötzlich hörte sie aber wieder dieses leise Gepiepse.

„Und? Wo sind sie jetzt?“ Pia-Lotta platzte fast vor Spannung, denn sie konnte einfach nicht herausfinden, wo sich die kleinen Küken versteckt hatten. Lukas zeigte in das Segelboot. Und tatsächlich! Dort saß die Entenmama Elvira in mitten ihrer sechs Küken.

Pia-Lotta setzte sich auf den Steg und schaute lange auf die Küken, die sich ganz eng an Elvira kuschelten.

„So winzig sind die!“ bemerkte Pia-Lotta leise. Pia-Lotta schaute andächtig weiter auf die kleinen Federknäule.

Plötzlich drehte sie sich zu Lukas und dem Großvater um, die immer noch hinter ihr standen.

„Wie kommen denn die Küken wieder aus dem Boot? Das schaffen die doch niemals alleine?“ Pia-Lotta schaute Lukas und den Großvater an.

„Tja, da werden wir Elvira und ihren Entenkindern wohl irgendwann helfen müssen. Aber das hat noch Zeit. Bis dahin werden sie und Jakob ihre Küken hier im Boot füttern müssen.“ Lukas war nun ein bisschen näher gekommen.

„Wo ist Jakob denn jetzt?“ wollte Pia-Lotta wissen.

„Ach ich denke, der macht gerade einen kleinen Ausflug auf dem See. Aber schau, dort kommt er gerade aus dem Schilf hervor.“ Der Großvater zeigte auf das Schilf hinter dem Boot, wo der alte Enterich hervor schwamm.

 

Pia-Lotta begrüßte ihren gefiederten Freund und schaute ihm zu, wie er am Ufer aus dem See kam und über den Steg an ihr vorbei gewatschelt kam. Am Boot angekommen schaute er zu Elvira und den Küken. Zuerst schnatterte Elvira etwas und Jakob schnatterte zurück.

`Die beiden unterhalten sich ja richtig´, dachte Pia-Lotta. `Wahrscheinlich hat Elvira Jakob gerade gefragt, wo er denn die ganze Zeit gewesen sei.´

Dann beobachtete Pia-Lotta wie Jakob stolz seinen Kopf hob, so als ob er allen zeigen wollte, wie stolz er auf seine kleine Entenfamilie ist.

Lukas und der Großvater waren schon lange zum Haus von Lukas zurückgegangen und hatten sich auf die Bank in die Sonne gesetzt. Von dort aus konnten sie Pia-Lotta beim Spielen mit der Entenfamilie beobachten und die schöne Aussicht auf den See genießen. Es war still und friedlich und die beiden Alten saßen schweigend beieinander.

Als Pia-Lotta zum Haus zurückkam, stand Lukas auf und machte frischen Tee. Er holte für Pia-Lotta ein Glas Limonade. Pia-Lotta hatte sich einen Lebkuchen aus der Schüssel gefischt und sich auf die Bank gesetzt.

Lukas schenkte Tee ein und setzte sich wieder zu den Beiden an den Tisch. Er holte seine Pfeife hervor, zog eine Streichholzschachtel aus seiner Tasche und machte seine Pfeife an. So saßen die drei noch eine ganze Weile beisammen und Lukas erzählte Pia-Lotta, dass er die ganze Nacht am Steg gesessen und zugesehen hatte, wie die Küken heute früh schlüpften.

Ganz leise hatte es in der Stille der Nacht mit einem Klopfen und Picken, Knacken und Piepsen begonnen, bis nacheinander alle sechs Küken geschlüpft waren.

Schon vor Wochen hatten Jakob und Elvira mit dem Nestbau begonnen. Lukas hatte immer wieder versucht, die beiden Enteneltern aus dem Segelboot zu vertreiben. Aber vergebens. Jakob schleppte immer wieder Heu und Stroh, kleine Äste und viele andere Dinge an, damit Elvira das Nest bauen konnte. Dann fand Lukas eines Abends sieben Eier im Entennest und Elvira hatte tagelang gebrütet.

„Warum sieben Eier?“ wollte Pia-Lotta überrascht wissen. „Es sind doch nur sechs Küken im Boot!“

„Vor einigen Wochen hatten wir hier am See einen kleinen Sturm und eines der Eier war aus dem Nest gekullert! Und weil es natürlich nur im Nest ganz weich war, ist das Ei an harten Holz zerbrochen.“ Lukas Stimme war etwas trauriger geworden.

Aber plötzlich richtete sich Lukas auf und sagte zu Pia-Lotta, indem er ihr die Schüssel mit den Lebkuchen zuschob:

„Mädel, sei nicht traurig, es sind ja noch sechs andere Eier da gewesen und Elvira und Jakob haben abwechselnd die Eier ausgebrütet.“ Und er fügte lachend hinzu: „Iss, Kind, du brauchst Stärkung für die kommenden Tage. Wie ich dich kenne, wirst du jede frei Minute bei Elvira und ihren Küken verbringen.“

„Au fein!“ antwortete Pia-Lotta, rutschte vom Schoß des Großvaters hinunter und angelte sich einen besonderes großes Lebkuchenherz aus der Schüssel.

„Au fein!“ wiederholte sie. Und schon war der Wirbelwind wieder erwacht und lief um den Tisch herum zu Lukas.

„Lukas! Lukas! Darf ich heute Nachmittag gleich wiederkommen und mit den Küken spielen?“ Pia-Lotta zitterte vor Aufregung am ganzen Körper.

„Naja, zum Spielen ist es vielleicht noch etwas früh. Aber wenn du magst und deine Großeltern es erlauben, darfst du gerne jederzeit wieder kommen“, antwortete Lukas erfreut über das Interesse des kleinen Mädchens.

Als sich der Großvater und Pia-Lotta von Lukas verabschiedeten, fiel Pia-Lotta erst auf, dass sie Oskar, den kleinen Hund von Lukas, noch gar nicht gesehen hatte. Oskar kam sonst freudig Schwanz wedelnd auf Pia-Lotta zu, sprang an ihr hoch und leckte ihr die Hände. Heute war Pia-Lotta so aufgeregt, dass sie ihren kleinen Freund noch gar nicht vermisst hatte.

„Wo ist Oskar?“ rief sie plötzlich. Pia-Lotta sah dabei in Lukas Gesicht. Erst da bemerkte sie die Traurigkeit in seinen Augen, denn Lukas musste sich schon große Sorgen um seinen Gefährten machen.

„Er ist seit ein paar Tagen nicht nach Hause gekommen. Das macht er manchmal. Aber jetzt ist er schon zwei Tage weg.“ Lukas schaute traurig auf den See hinaus.

`Wahrscheinlich hatte Lukas deswegen auch die ganze Nacht bei Elvira und Jakob verbracht und sicher war er ohne Oskar sehr einsam und konnte nicht schlafen´, dachte Pia-Lotta. Und wie sie dies so bei sich dachte, beschloss das kleine Mädchen, dass sie Lukas helfen müsse.

Pia-Lotta nahm Lukas Hand und schaute den alten Mann freundlich an.

„Dann werden wir Oskar jetzt suchen. Irgendwo muss er doch sein. Gleich nach dem Mittagessen komme ich wieder und dann schauen wir gemeinsam nach Oskar.“

Lukas war sofort einverstanden.

2

Kaum hatte Pia-Lotta aufgegessen, drängelte sie schon zum Aufbruch. Sie lief in ihr Zimmer hinauf und zog sich schnell Hose und T-Shirt an. Ein Sommerkleid ist nun wirklich nichts für so ein Abenteuer. Im Schrank kramte sie nach ihren Turnschuhen, die sie aber nicht fand.

„Wo sind denn meine Turnschuhe, Omi“, rief Pia-Lotta vom Balkon ihres Zimmers in den Garten hinunter.

„Die sind im Keller, da wo du sie gestern ausgezogen hast“, rief die Großmutter zurück.

Wie der Blitz sauste Pia-Lotta die Treppen bis in den Keller hinunter und fiel dabei direkt über ihre Turnschuhe.

`Mensch, Pia-Lotta, irgendwann wirst du dir wegen deiner Unordnung noch mal was brechen´, schimpfte Pia-Lotta leise mit sich selber und rieb sich das Knie.

„Jetzt nur nicht schlapp machen. Schließlich brauchen Lukas und Oskar meine Hilfe.“

„Mit wem redest du da“, hörte Pia-Lotta die Stimme ihrer Großmutter.

„Ach, mit niemandem. Ich habe mich gerade über mich selber geärgert.“ Pia-Lotta hatte sich auf die unterste Stufe der Kellertreppe gesetzt und zog sich die Turnschuhe an.

Pia-Lotta nahm ihren roten Rucksack vom Harken an die Wand und packte schnell noch die wichtigsten Utensilien für ihre Suchaktion ein: Taschenlampe, Regenjacke und ein Seil. Dann lief sie noch in die Speisekammer, nahm sich ein paar Äpfel aus dem großen Korb und packte sie in ihren Rucksack. Neben einem alten verrosteten Wasserkessel, mit dem scheinbar schon in grauer Vorzeit das Wasser für den Tee gekocht wurde, fand sie noch eine Packung Kekse und stopfte sie in die Tasche, während sie die Kellertreppe hinauflief.

In der großen Wohnküche angekommen stieß Pia-Lotta auf ihre Großmutter, die am großen Küchentisch stand und Brötchen schmierte. Die Großmutter wickelte die Brötchen ein und gab sie Pia-Lotta.

„Steck die Brötchen ein. Sicher wirst du Hunger bekommen. Und dann ist es gut, wenn du was dabei hast.“ Pia-Lotta nahm gerade eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank.

Auf dem Weg zu Lukas traf Pia-Lotta auf Emil und erzählte ihm die Geschichte von Elvira und Jakob und ihren Entenkindern. Und natürlich von Oskar, dem Hund von Lukas, der schon seit zwei Tagen nicht mehr nach hause gekommen ist.

„Cool!“ rief Emil. “Endlich mal wieder was los hier in diesem kleinen Kaff. In Holdersum ist es in den Ferien sterbenslangweilig, wenn du nicht da bist.“ Emil brachte eilig das weiße Schaukelpferd mit schwarzer Mähne und rotem Sattel, dass er für seine kleine Schwester Mika beim alten Meister Muck abgeholt hatte, nach hause und war wenige Minuten später, ebenfalls mit Rucksack und Proviant bepackt, zurück.

Gemeinsam liefen Pia-Lotta und Emil zu Lukas, der vor seinem Haus saß und auf eine alte Postkarte schaute.

„Die ist von meiner Tochter. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Kanada. Das war die Letzte, die ich von ihr bekommen habe und das ist auch schon ein Weilchen her. Und nun ist auch noch Oskar weg.“ Lukas zog an seiner Pfeife.

„Ich glaube, Lukas ist echt einsam“, sagte Emil leise zu Pia-Lotta und stieß sie mit dem Arm an.

„Wir werden Oskar finden und ihn ganz bald zu Dir zurückbringen“, sagte Pia-Lotta zu Lukas. Sie war zu Lukas an die Bank herangetreten und hatte ihren Arm um den alten Mann gelegt. Vorsichtig drückte sie Lukas einen Kuss auf die Wange und hatte ihn auch schon wieder losgelassen, nahm Emil an die Hand, zog ihn stürmisch hinter sich her und rief im Davonlaufen Lukas ein „Bis bald!“ zu.

3

Pia-Lotta und Emil waren eine Weile am See entlang gelaufen und hatten nach Oskar gerufen. Da begann es leicht zu regnen. Die Kinder schauten sich um, aber sie konnten keinen Unterschlupf für den Regen entdecken.

„Oskar! Oskar!“ riefen Pia-Lotta und Emil weiter. Es wurde am Himmel immer dunkler und der Regen wurde langsam stärker.

„Na, klasse!“ schimpfte Emil. „Lass uns ein bisschen schneller laufen. Wir werden sonst ganz nass.“

Pia-Lotta rief weiter nach Oskar.

„Vielleicht finden wir ja hinter der nächsten Kurve was zum Unterstellen!“ rief Pia-Lotta Emil zu und lief immer schneller. „Komm, sonst werden wir noch richtig nass.“

Emil lief nun auch los. Die Kinder waren jetzt in den kleinen dunklen Wald gelaufen.

„Jetzt werden wir wenigstens nicht mehr so nass.“ Pia-Lotta blieb stehen.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte sie und war völlig aus der Puste.

„Nicht schlapp machen!“ forderte Emil seine Freundin auf. „Stell dir vor, es fängt gleich noch an zu blitzen und donnern, dann wird es hier richtig gefährlich für uns.“

„Wieso, wir sind doch unter Bäumen. Da kann uns doch gar nichts passieren!“ Pia-Lotta schaute ihren rothaarigen Freund an und dachte, dass jetzt wahrscheinlich wieder eine seiner klugscheißerischen Predigten mit erhobenem Zeigefinger kommen würde.

Und tatsächlich!

„Pia-Lotta!“ Emil hatte sich umgedreht und vor Pia-Lotta aufgebaut. Er schaute das Mädchen streng an. „Habt ihr das denn nicht in der Schule gelernt?“ Beide Kinder waren zehn Jahre und gingen auf das Gymnasium.

„Was?“ fragte Pia-Lotta angestrengt. Natürlich hatten sie in ihrer Schule schon über Gewitter gesprochen. Aber was wollte Emil denn jetzt von ihr hören.

„Na, dass Verhalten bei Gewitter.“ Emil schaute seine Freundin fragend an.

„Wir haben mal gelernt ... Moment wie war dieser Spruch noch.“ Pia-Lotta überlegte. „Ach ja, vor den Eichen sollst du weichen und die Weiden sollst du meiden ... Äm, ich glaube Buchen sollst du suchen, oder so ähnlich...“

„Lebensgefährlich! Vergiss es! Wie gut, dass du dir das nicht so recht gemerkt hast!“ Emil war entsetzt. „Das ist lebensgefährlich!“ wiederholte er.

„Hast du noch nie gehört, dass man bei Gewitter offene Gelände, Hügel, offene Gewässer, Türme, Höhlen und so weiter meiden soll? Dazu gehören natürlich auch Bäume.“ Emil hob seinen Zeigefinger und sagte nun mit Nachdruck: „Und zwar alle Bäume.“

Pia-Lotta schüttelte schüchtern den Kopf. Aber so dumm war sie dann doch nicht.

„Emil, dann lass uns weiter laufen und einen geeigneten Schutz suchen. Wir stehen doch hier im Wald unter lauter Bäumen.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn aus dem Wald.

Am Waldrand blieb Pia-Lotta plötzlich stehen.

„Und nun?“ Sie schaute sich um. „Da ist ein Strommast. Vielleicht ...“

„Denk nicht mal daran. Alles was besonders hoch und direkt mit der Erde verbunden ist, ist bei Gewitter absolut tabu“, stoppte Emil sie.

„Warum das?“ wollte Pia-Lotta nun wissen.

„Blitze schlagen besonders häufig in hohe Objekte ein, gerade, wenn sie frei stehen. Wenn die Grundfläche des Objekts klein ist, ist die Potentialdifferenz des Bodens in seiner unmittelbaren Nähe besonders groß und die mögliche Schrittspannung besonders hoch.“

„Und was heißt das jetzt für mich normalsterbliches Stadtkind, Albert Einstein?“ Pia-Lotta hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt.

„Ach Pia-Lotta! Muss ich dir denn alles erklären?” Emil wurde ein bisschen ärgerlich.

„Nur wenn du dich immer so kompliziert ausdrückst, als hättest du ein Chemiebuch verschluckt!“

„Physik!“ entgegnete Emil. „Es ist Physik und nicht Chemie!“

„Ist doch auch egal!“

„Ist es nicht! Wenn nämlich die Leitfähigkeit des Objekts eingeschränkt ist z.B. wie bei Bäumen, besteht die Gefahr durch umherschleudernder abgesprengter Teilchen und der Austritt des Blitzes in Bodennähe.“

„Ach Emil, ich verstehe immer noch nicht, was du mir sagen willst.“

„Der Blitz, der elektrisch aufgeladen ist, schlägt an der höchsten Stelle in den Baum ein, sprängt eventuell Teile ab, die herumfliegen und dich treffen können. Die sind natürlich auch elektrisch aufgeladen und können dich verletzen. Der Baum kann aber auch Feuer fangen. Oder der Blitz trifft nicht den Stamm, sondern nur die äußeren Äste und tritt dann neben dem Stamm aus dem Baum heraus und kann dich dann ebenfalls verletzen oder sogar töten.“

 

„Und was machen wir jetzt?“

Emil fuhr fort: „Stichwort: Faradayscher Käfig? Klingelt es jetzt?“

„Aha, Fara ... was?“ Pia-Lottas Gesichtzüge entglitten ihr jetzt völlig. Donnergrollen war in der Ferne zu hören.

„Faradayscher Käfig! Fahrzeuge mit geschlossener Metallkarosserie, also keine Cabrios, und viele Gebäude mit Blitzschutzsystem wirken so. Sie bieten dir also optimalen Schutz.“ Emil holte tief Luft und wollte gerade zu einem Vortrag ansetzten, da winkte Pia-Lotta ab.

„Ich frage besser nicht mehr, sonst stehen wir morgen noch hier oder uns hat der Blitz schon erschlagen. Lass uns lieber überlegen, was wir jetzt machen.“

„Naja, uns muss schon bald was einfallen!“ Emil schaute sich um. Weit entfernt blitzte es einmal auf.

„Also, lass mich mal zusammenfassen. Wir sollen hier draußen alles meiden, uns aber auch nicht auf freien Flächen aufhalten. Ein Gebäude ist weit und breit auch nicht zu sehen und naja, tut mir ja leid, aber ein Auto habe ich auch nicht dabei.“

Pia-Lotta grinste. „Naja, das Gewitter ist ja noch ein bisschen weg.“

„Ne, ne! Das Gewitter ist schneller da, als uns lieb ist. Blitz und Donner kommen schon ziemlich schnell aufeinander. Ich schätze so fünf oder sechs Kilometer. Wir sollten uns beeilen.“

„Um Himmels Willen, Emil, da muss es doch noch etwas geben, was wir tun können, wenn es über uns blitzt. Der Weg nach Hause ist wohl zu weit und außerdem müssen wir Oskar finden“, rief Pia-Lotta Emil zu.

„Pia-Lotta, nun beruhige dich mal. Wenn wir also jetzt nichts finden, müssen wir folgendes beachten: Nicht hinlegen, sondern die Standfläche auf dem Boden klein halten. Also, Füße zusammenstellen und in der Hocke verharren“, erklärte Emil der aufgebrachten Pia-Lotta und fügte mit Nachdruck hinzu: „Und nicht mit den Händen abstützen. Aber, lass uns weitergehen.“

Während sie noch ein wenig am Waldesrand unter dem Schutz der Bäume weitergingen, erzählte Emil seiner Freundin, dass sie beide durch ihre Turnschuhe mit den Gummisolen zum Boden abisoliert seien.

Pia-Lotta atmete tief durch und grinste vor sich hin. Endlich hatte sie mal ein wirklich wichtiges Argument gegenüber ihrer Großmutter, die immer schimpfte, wenn sie ihre Turnschuhe anzog. Die seien nicht gut für ihre Füße. Aber bei Gewitter könnten sie vielleicht Leben retten.

„Alles klar?“ fragte Emil und musste lachen, als er in das Gesicht von Pia-Lotta sah.

„Alles klar“, antwortete Pia-Lotta.

Es wurde immer dunkler am Waldesrand. „Ob Oskar Angst hat so ganz alleine hier draußen“, fragte Pia-Lotta. Jetzt erst dachte sie wieder an den Hund von Lukas.

„Wahrscheinlich hat er sich irgendwo verkrochen und hat es jetzt kuschelig warm“, meinte Emil

„Aber, wir sollten endlich etwas unternehmen, sonst finden wir Oskar heute nicht mehr!“

Emil schaltete seine Taschenlampe an und leuchtete am Waldrand umher.

Die Blitze wurden immer häufiger und das Donnern immer lauter.

„Das Gewitter ist schon ziemlich nahe.“ Emil schaute besorgt zum Himmel. Der Regen wurde immer stärker. Dicke Hagelkörner fielen vom Himmel herab.

Plötzlich sah Emil durch die Bäume etwas Helles schimmern und gab Pia-Lotta ein Zeichen, ihm unter dem Blätterdach des Waldrand in Richtung des hellen Fleckes zu folgen.

Nach einer Weile sahen sie, dass es sich um ein Licht handeln müsse. Pia-Lotta und Emil traten unter den Bäumen hervor und standen vor einer kleinen Kapelle.

„Schau mal, eine Kapelle“, sagte Pia-Lotta bei dem Anblick der hell erleuchteten Kapelle.

„Lass uns mal den Eingang suchen. Vielleicht ist die Kapelle ja offen“, schlug Pia-Lotta vor. Die Kinder gingen um die Kapelle herum und fanden auf der Rückseite eine Tür. Emil drückte die Türklinke herunter und tatsächlich. Die Kapelle war offen. Eine kleine Lampe und brennende Kerzen erleuchteten den kleinen Kirchenraum.

Pia-Lotta und Emil traten vorsichtig herein und schauten sich um. Das Kirchlein war winzig, aber hier drinnen war es wenigstens warm und trocken.

Die Kinder zogen sich ihre nassen Jacken aus und hängten sie über eine Kirchenbank, die neben der kleinen Orgel stand. Emil packte aus seinem Rucksack einen dicken Wollpullover aus und gab ihn Pia-Lotta.

„Hier, zieh an! Damit du nicht frierst.“ Er selber zog aus seinem Rucksack noch eine kleine Decke heraus und legte sich diese um die Schultern. Pia-Lotta staunte, was Emil so alles aus seinem Rucksack zauberte.

„Meine Mutter hat mir noch eine Thermosflasche mit heißem Tee gemacht“, sagte Emil.

Pia-Lotta freute ich über die Wärme des Tees und zog ihre Brötchen aus dem Rucksack.

„Ich habe auch noch Kekse, Äpfel und Milch“, fügte Pia-Lotta hinzu. „Die sparen wir uns für später auf.“

Während sie so beisammen saßen, fragte Pia-Lotta: „Eigentlich darf man in einer Kapelle doch überhaupt nicht essen. Sagt jedenfalls meine Oma immer.“

Aber Emil entgegnete, dass der liebe Gott sicher damit einverstanden wäre, denn schließlich sei dies ein Notfall und dann darf man auch in einer Kapelle essen.

Nachdem sie gegessen hatten, kuschelten sich Emil und Pia-Lotta aneinander, um sich zu wärmen.

„Schließlich sind wir hier in einem deiner Faradingsda Käfige“, sagte Pia-Lotta und legte ihren Kopf auf Emils Schultern.

„Du hast ja heute richtig was gelernt“, antwortete Emil dem kleinen Mädchen.

„Hm“, antwortete Pia-Lotta nur noch. Aber da waren ihr schon vor lauter Müdigkeit die Augen zugefallen und sie war eingeschlafen.

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