Buch lesen: «... denn alles ist Vorherbestimmt»

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… denn alles ist vorherbestimmt

Impressum

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Danksagung

Elisabeth Schmitz

… denn alles ist vorherbestimmt

Roman

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-177-1

E-Book-ISBN: 978-3-96752-677-6

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

unter Verwendung des Bildes

Wald: Photo by Johannes Plenio on Unsplash

Buchsatz: Grit Richter

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Dein Herz und dein Geist gleichen einem Garten. Du entscheidest, wie du ihn anlegst, welche Pflanzen du darin anpflanzt. Negative Gefühle wie Neid, Hass, Rache, Hochmut und Habgier sind wie Unkraut, das andere Pflanzen ersticken kann. Darum lass deinen Garten nie verwildern, pflege ihn jeden Tag und lasse viel Licht hinein, das du durch positive Energie wie Liebe, Nachsicht, Nächstenliebe, Mitgefühl und Großzügigkeit erschaffst. So wird jeder Spaziergang durch deinen Garten jeden Tag Freude machen.

Buddhistische Weisheit

Für

Jonathan und Mathea,

die immer in meinem Herzen

wohnen werden.

1.

Was machen die vielen Menschen hier?, dachte Marie. Und da sah sie es auch schon. Es war ein schwerer Verkehrsunfall. Eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm trat an Maries Seite.

»Das ist ja schlimm, was hier passiert ist«, sagte Marie zu der Frau. Diese sagte nichts. Sie zeigte nur mit dem Finger auf ein Auto.

»Genau so einen Smart habe ich auch«, sagte Marie betreten, und dann sah sie die Fahrerin des kleinen Wagens.

»Das kann doch gar nicht sein«, flüsterte sie.

»Das bin ja ich. Aber ich bin doch hier. Was soll das alles? Versteckte Kamera?«

Sie rannte zu einem Polizisten, aber der nahm überhaupt keine Notiz von ihr. Und all die anderen auch nicht. Sie gingen einfach durch Marie hindurch.

Viele verzweifelte Menschen liefen herum. Die Frau mit dem kleinen Kind auf dem Arm stand noch immer regungslos da.

Marie ging zu ihr und fragte: »Können Sie mich sehen?«

»Ja,« sagte die Frau.

»Jannes ...« Sie drückte ihr Kind an sich.

»Jannes und ich, wir sind auch tot.«

Schweigen!

Tot? Sie war doch nicht tot. Sie war 42 Jahre alt. Bald würde sie ihren 43. Geburtstag feiern.

Nein, sie war nicht tot. Doch die schreckliche Gewissheit kroch in ihr hoch.

»Nein! Nein!...«, schrie sie.

»Ich will leben! Bringt mich doch in ein Krankenhaus. Ihr könnt mich doch nicht sterben lassen!«

Marie schrie und schrie, aber man hörte sie nicht.

Die Feuerwehr kam und schweißte den toten Körper von Marie aus dem Autowrack. Einer der Feuerwehrmänner musste sich am Straßenrand übergeben. Das Lenkrad hatte sich durch ihren Magen gebohrt, mit samt des Airbags. Wie konnte denn so etwas bloß passieren? Wozu sind diese Dinger denn da?

Man legte ihren Körper auf die Straße und deckte sie mit einer Decke zu. Der junge Feuerwehrmann sah immer noch ganz betreten zu Maries toten Körper hinüber, und sie ging zu ihm.

Sie streichelte seine Wange und sagte: »Tut mir leid, dass ich dir solchen Kummer mache. Du hast echt einen Scheiß Job.«

Aber er hörte sie nicht. Nur da, wo sie ihn gestreichelt hatte, wischte er sich über die Wange.

Der Leichenwagen kam. Der tote Körper von Marie wurde in einen Zinksarg gelegt. Ebenso die Frau mit ihrem Sohn und eines Mannes, der ca. 25 Jahre alt war.

Wieso war der tot, aber von Marie nicht hier zu sehen? Sie sah sich um. Nein, nirgendwo war er. Seltsam. Marie setzte sich nun auf den Sarg, in dem ihr Körper lag. Auf gar keinen Fall wollte sie hier bleiben. Sie musste doch wissen, wohin man sie bringt!

In einem kahlen, nur aus Stahl bestehenden Raum fand Marie sich wieder. Es waren noch andere Lichtwesen hier. Marie nannte sie so, weil sie alle einen kaum merkbaren Lichtschein um sich herum hatten. Die Frau mit dem Kind auf dem Arm war auch da, und sie hielt es immer noch fest an sich gedrückt.

Und da war noch eine dunkelhaarige Frau, die in einer Ecke stand und Marie anlächelte. Sie war ein wenig pummelig, fiel Marie auf. So wie sie selber. Aber die Frau war ein wenig kleiner als sie.

Ein Mann, der kein Lichtwesen war, trug einen blauen Kittel und lief im Raum herum. Er wartete wohl auf jemanden. Da ging auch schon die Stahltür auf und.....

»Nein!«, schrie Marie, »das geht doch nicht! Mama! Ihr könnt sie doch nicht hierher kommen lassen. Legt mich doch in ein Bett. Unmenschlich das Ganze.«

Frau Heidemann stand mit rotgeweinten Augen vor der Liege mit dem Tuch über ihrer toten Tochter. Der Mann im blauen Kittel hob das Tuch, und die 70-jährige Frau wankte.

Sie streichelte Maries Gesicht.

»Wie kalt du bist, mein Mariechen.«

»Mama, ich bin hier. Direkt neben dir. Oh Mama!«

Ein unbekannter Mann kam herein und stellte sich als »der Bestatter« vor. Das Tuch wurde wieder über Maries Kopf gelegt. Frau Heidemann ging schlurfend zur Tür. Für Marie war es zu viel, ihre Mutter so leiden zu sehen. Sie war alles, was diese Frau noch hatte.

Herr Heidemann war schon lange tot, und Maries Mama war freiwillig in eine Seniorenwohnung am Stadtrand gezogen, als Marie bei Andreas einzog. Die Beziehung zu ihm hielt nur kurz, aber Frau Heidemann bestand darauf, in ihrer Wohnung zu bleiben. Sie war Lehrerin gewesen, und ihr Mann hatte ihr eine große Lebensversicherung hinterlassen. Bislang ging es ihr nicht schlecht. Sie hatte viele Freunde dort, wo sie nun wohnte. Aber nun würde sie nie mehr Maries fröhliches »mein Mütterlein« hören können.

Dann öffnete sich die Tür wieder, und Tina Braune trat in den Raum. Frau Heidemann hatte sie angerufen, ob sie ihre allerbeste Freundin noch einmal sehen wollte. Und das wollte sie unbedingt!

Tinas Gesichtsfarbe war genauso wie die von Marie. Kreidebleich!

Als Tina ihre tote Freundin anschaute, hatte sie das Gefühl, dass Maries Körper sich auflösen wollte.

Oh je, dachte sie, nun breche ich gleich zusammen.

»Tina«, sagte Marie. »Kannst du mich auch nicht sehen?«

Tina nahm die Hand von Marie in die ihre und spürte, dass es nur noch eine Hülle war. Schnell verließ sie den kalten Raum, in dem ihre tote Freundin lag.

Im Flur wartete Frau Heidemann auf sie, und die beiden Frauen, denen nun so viel Leid verband, umarmten sich. Tina bot der älteren Frau an, sie nach Hause zu fahren, und diese nahm das Angebot dankend an.

Marie wollte mit der Faust an die Stahlwand schlagen, aber sie fuchtelte nur herum. Die Wand schien nicht da zu sein.

Die dunkelhaarige Frau, die in der Ecke stand, kam zu ihr und sagte: »Ich bin Martha. Komm mit mir. Hier ist kein guter Platz.«

Sie nahm Marie bei der Hand, und schon standen sie vor einer Bank im Park. Martha setzte sich darauf. Marie plumpste auf die Erde.

»Versuche es noch einmal. Konzentriere dich auf die Materie.« Es ging nicht. Seltsam, auf ihrem Sarg von der Unfallstelle konnte sie doch auch sitzen.

Alles kam ihr so eigenartig vor.

Marie setzte sich ins Gras und zeigte auf ein Gänseblümchen.

»Meine Freundin Tina und ich haben uns in diesem Sommer einen Kranz aus diesen Blüten gebunden. Sie war gerade in dem Raum aus Stahl. Wie mag es ihr bloß gehen ohne mich? Ich darf gar nicht daran denken. Wie bist du gestorben, Martha?«

»Ich hatte vor drei Wochen einen Myokardinfarkt und war sofort tot. Mein Mann Peter ist Arzt und wird mit meinem Tod nicht fertig. Deshalb bin ich auch noch hier. Er denkt, dass ich noch leben könnte, wenn er nicht länger als nötig in der Klinik geblieben wäre. Das ist natürlich Quatsch. Ich war auf der Stelle tot.

Peters sämtliche Kollegen haben es ihm gesagt. Immer wieder. Aber er akzeptiert es nicht. Er ist ein sehr guter Neurologe, aber er operiert nicht mehr.

Er ist der Chefarzt vom Klinikum in Roderstadt. Abends ist er zu Hause und schaut Videos von uns an. Wir hatten uns schon auseinandergelebt. Er lebte für seine Arbeit und ich für meine.

Ich habe mit meiner Schwester zusammen eine kleine Boutique in Roderstadt. Wir haben alles selbst genäht, was wir dort verkaufen. Wir sind beide gelernte Schneiderinnen, weißt du. Nun führt Karin den Laden alleine, und sie wird wohl jemanden einstellen müssen.

Mit Peter hat sie keinen Kontakt. Er ist auch nicht gerade einfach. Ich bin in einem wunderschönen Kleid, das Karin und ich gemeinsam entworfen hatten, beerdigt worden.

Komm mit, ich zeige dir mein Grab. Wir haben ja alle Zeit der Welt.«

Als die beiden auf dem Friedhof ankamen, sahen sie, dass neben Marthas Grab ein neues ausgehoben war.

»Was denkst du, ob das mein Grab ist?«, fragte Marie.

»Das ist schon möglich. Dein Unfall war vor drei Tagen. Morgen ist der vierte Tag. Wir werden dann wieder hier sein.«

»Drei Tage ist es schon her? Hab ich gar nicht gemerkt. Du Martha, ich sehe dauernd ein funkelndes Licht, und eine lieb aussehende Frau steht dort. Ich schaue dann schnell weg, und schon ist auch das Licht verschwunden. Was ist das bloß?«

Martha schaute sie mit großen Augen an.

»Siehst du das auch? Ich dachte schon, dass ich spinne. Bilder sehe, oder so was. Aber man sagt ja, dass Verstorbene in ein Licht gehen sollen. Hast du auch einen Tunnel gesehen?«

»Nein, einen Tunnel habe ich nicht gesehen. Aber warte.... Doch! Ich erinnere mich, dass ich auf der Autobahn war und wunderte mich, dass da auf der Straße ein Tunnel aufgebaut war. Der war doch sonst nicht dort. Und diese schöne Wiese, die schönen Farben am Horizont... Das alles hatte ich dort noch nie gesehen. Ich dachte während der Fahrt auch über meine Kindheit nach. Alles flog nur so an mir vorbei. Habe ich deshalb den schweren Unfall gehabt, weil ich so unachtsam war, Martha?«

Martha schüttelte den Kopf.

»Nein Marie. Du bist doch gar nicht schuld an dem Unfall. Ein junger Mann, 26 Jahre alt, hat sich das Leben genommen. Er war als Geisterfahrer auf der Autobahn.

Eine Mutter, die mit ihren beiden kleinen Söhnen unterwegs war, raste in das Auto. Du warst hinter ihr und bist voll auf die beiden Wagen geknallt.

Es sind noch vier weitere Wagen in die Unfallstelle gefahren, aber sie hatten mehr Glück als du. Na ja, wenn man von Glück reden kann.... Sie sind alle verletzt worden, manche so schwer, dass sie nie mehr normal leben können.«

Marie war bestürzt. Das hatte sie gar nicht gewusst.

»Martha, woher weißt du all das?«

»Ich bin doch die ganze Zeit bei Peter im Klinikum gewesen. Da hat man es sich erzählt. Und aus dem Grund war ich auch in der Pathologie, wo ich dich gesehen habe. Dich und all die anderen.«

Marie nahm ihre neue Freundin in den Arm.

»Ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe. Oder vielmehr du mich.« Beide lachten.

»Du Martha, weißt du, ich habe an der Unfallstelle die Verstorbenen und auch die Lebenden gesehen, aber den Verursacher des Unfalls, den habe ich nur tot da liegen sehen. Weißt du, warum das so ist?«

»Ja, Marie«, sagte Martha, »das weiß ich auch. Ich habe mich gewundert, warum auf dem Boden so ein dunkler, schmieriger Qualm oder Dampf entlang kroch. Und in dem Qualm sah ich ein Gesicht.

Ein alter, verstorbener Mann sah mein erschrockenes Gesicht und sagte mir, dass dieses böse Verstorbene seien. Sie würden das Licht niemals sehen. Der junge Mann hat so viel Leid angerichtet durch seine Tat. Für viele Menschen geht das Leben nun völlig andere Bahnen. Und nur durch seine Schuld.«

»Aber vielleicht hat er keinen anderen Ausweg gesehen als seinen Suizid«, meinte Marie.

Martha streichelte ihr übers Haar. »Wie lieb du bist. Hast mit deinem Mörder sogar noch Mitleid. Sicher, du hast recht. Er war bestimmt verzweifelt. Aber er wusste genau, dass er viele Menschen mit in den Tod nehmen würde. Hätte er nur sich getötet, wäre er vielleicht einer von uns, aber das entscheiden ja nicht wir. Mag ja sein, dass die Frau, die wir in dem Licht sehen, etwas damit zu tun hat. Wir werden es erfahren.«

2.

Am nächsten Tag war tatsächlich die Beerdigung von Marie. Es waren so viele Menschen dort. Die Leichenhalle war voller Kränze und Blumen.

Frau Heidemann, Maries Mutter, saß ganz vorne. Sie starrte nur auf den Sarg ihrer Tochter. Man konnte in ihrem Gesicht lesen, dass sie das alles noch gar nicht begriff. Hinter ihr saß Tina.

»Meine über alles geliebte Kräuterhexe«, flüsterte Marie.

»Bitte sei doch nicht so traurig. Sieh nur, mir geht es gut. Hier, das ist Martha. Sie würde dir auch gefallen.«

Natürlich konnte Tina sie nicht hören.

Marie setzte sich neben sie. Ja, tatsächlich. Sie konnte sich auf eine Bank setzen. Sie schaute zu Martha, und diese hob den Daumen in die Höhe.

»Ich hab es geschafft‘«, sagte sie ganz leise.

»Du kannst ruhig laut reden«, sagte Martha, »niemand hört uns.«

Der Priester kam und sagte viele liebe Worte. Ob er es wohl so meinte? Er kannte Marie doch gar nicht. Sie war kein Kirchgänger, aber ihre Mutter ging jeden Sonntag dorthin. Marie war sich sicher, dass viele Gebete für ihre einzige Tochter gesprochen waren.

»Mein Mütterlein!« Wie gepflegt ihre Haare waren. Sanft berührte Marie die grauen, vollen Locken ihrer Mutter.

Ein Schluchzen ihrer besten Freundin riss sie aus ihren Gedanken.

»Tina, bitte weine doch nicht so sehr. Bitte Tina.«

Jeder, der in der Leichenhalle war, hatte eine Orchidee in der Hand. Sie waren bestimmt aus dem Blumenladen, in dem damals Marie gearbeitet hatte.

Marie war Pflanzentechnologin in einer Orchideen Gärtnerei, und ihr Arbeitsplatz war das Labor. Sie züchtete auf einer Nährlösung neue Sorten von Orchideen in kleinen Anzucht-Flaschen. Ihre Phalaenopsis waren bei den Kunden sehr beliebt. Es dauert lange, bis eine Orchidee blüht, und so werden ihre Pflanzen noch lange im Handel sein.

Die Trauergemeinschaft setzte sich zur Beerdigung in Bewegung. Markus, Tinas Ex-Lebensgefährte gesellte sich zu ihr. Er nahm behutsam ihre Hand, doch Tina stieß sie fort.

»Bitte Tina, lass dir doch helfen«, sagte er. Ihre verheulten Augen funkelten.

»Wenn du mir helfen willst, dann gib mir Marie wieder. Lass mich in Ruhe. Das habe ich dir schon mal gesagt«, flüsterte sie.

»Verpiss dich, du Fremdgänger!«, fauchte Marie. Im selben Moment tat es ihr schon wieder leid. Man sah, dass auch er trauerte. Ob nun wegen ihr oder wegen Tina war egal. Aber er zeigte Gefühle, das konnte man sehen. Es war jedoch Fakt, dass er Tina mit seiner Nachbarin betrogen hatte und diese geheiratet hatte, als sie ein Baby erwartete.

So viel Menschen waren bei der Beerdigung. Manche kannte Marie gar nicht. Vielleicht kannte Mama sie ja, und alle waren wegen ihr gekommen.

Martha legte den Arm um ihre neue Freundin und sagte: »Komm. Das hier, das müssen die alleine machen.«

Und wieder war da dieses Licht. Und wieder war da diese ältere Frau, die freundlich winkte.

»Was meinst du«, meinte Martha, »wollen wir zu ihr gehen?«

»Ja, irgendwann müssen wir es ja doch. Sie zieht uns doch magisch an. Warum also nicht jetzt?

Aber bleib bloß bei mir. Alleine kann ich das nicht.«

Martha nickte und fasste Marie bei den Händen. Dann liefen beide los. Je näher sie dem Licht kamen, umso schöner wurde es. So etwas hatten die beiden noch niemals gesehen. Und als sie dort waren, fühlten sie sich, als seien sie in Watte gepackt. Sie liefen direkt in die Arme der gütigen Frau. Diese umarmte die beiden gleichzeitig.

»Na, ihr habt euch aber Zeit gelassen«, lachte sie. »Aber wenn wir hier etwas im Überfluss haben, dann ist es Zeit.«

»Wer bist du?«, wollte Marie wissen. »Es kommt mir so vor, als ob ich dich schon sehr lange kenne.«

Und Martha nickte mit dem Kopf. »So kommt es mir auch vor.«

Die freundliche Frau bat die beiden, sich ins Gras zu setzen und fing an zu erzählen:

»Ihr erinnert euch doch sicherlich noch an das Märchen von Frau Holle.«

Die beiden Frauen nickten, schauten aber sehr ratlos drein.

»Immer, wenn ich dieses Märchen höre, dann denke ich: Wenn ihr wüsstest, wie nahe ihr der Wahrheit seid. Aber woher sollt ihr es wissen? Viele Märchen sind überlieferte Geschichten.

Eines Tages haben zwei Brüder, die Gebrüder Grimm, dies alles aufgeschrieben, was die Leute ihnen erzählten. Und glaubt mir, die Menschen früher hatten ein größeres Wissen als die Menschen heute, denn sie hatten noch die Zeit, über alles nachdenken zu können und mit ihren Artgenossen zu reden.

Nun, ich bin also die, die ihr auf der Erde als die Frau Holle kennt, und deshalb könnt ihr mich auch so nennen.

Erinnert euch doch einmal: Marie - welch ein Zufall, derselbe Name – fiel in einen Brunnen, der rund wie ein Tunnel war und ertrank dort. Sie kam danach auf eine wunderschöne Wiese. Ihr habt den Tunnel und die Wiese auch gesehen. Dort wurden Aufgaben gestellt, die sie zu erfüllen hatte. Sie musste Brot aus dem Ofen ziehen und reife Äpfel sammeln.«

Martha unterbrach sie.

»Wir haben aber keine Aufgaben gehabt.«

Die Holle fuhr fort: »Oh doch, die habt ihr auch gehabt, aber ihr habt sie selbst gewählt. Sieh mal Marie, wie viel Herz du gezeigt hast, als du schon tot warst.

Du hattest Mitleid mit dem Feuerwehrmann, du wolltest deine Mutter trösten und deine Freundin Tina, und du hast sogar Verständnis für den Mann gezeigt, der dich getötet hat.

Du warst böse auf den Freund deiner Freundin, aber dennoch kam bei dir Mitgefühl auf, als er traurig schaute.

Auch du, Martha, hast dich liebevoll um deinen Mann gesorgt, hast deiner Schwester und Geschäftspartnerin beigestanden und hast dich liebevoll um Marie gekümmert.

Und darum seid ihr bei mir richtig. Es wird euch hier gefallen.

Aber irgendwann werdet auch ihr wieder gehen wollen, so wie auch die Marie in dem Märchen. Ihr werdet euch eine Familie suchen, in die ihr hineingeboren werden möchtet. Aber das ist noch lange hin.

Es ist jedoch gar nicht mehr so lange, dann darfst du dein Mütterlein abholen und sie zu uns bringen. Dein Vater hat sich bereits einen neuen Körper für seine Seele gesucht. Aber ihr wird es trotzdem hier gefallen. Du wirst es sehen.

Ich werde deinen Mann, Martha, und deine Freundin, Marie, miteinander bekanntmachen. Was sie daraus machen, das ist deren Sache, aber vielleicht werden sie ja Freunde. «

Ja, das fanden die beiden gut.

»Ich wohne unter der Erde und schicke die Pflanzen und die Tiere auf die Erde. Die Würmer und die Rosen, die Bäume und die Brennnessel und alles andere. Damit die Menschen es gut haben, mache ich die Erde gut.

In früher Zeit, da wussten die Menschen, dass unsere Erde viele Schätze birgt, und sie wussten auch, dass man sorgsam damit umgehen muss. Ich sorge dafür, dass der Kreislauf in der Vegetation stimmt. Ich habe viele Helfer, die aber von den Menschen nicht gesehen werden. Außer von kleinen Kindern und wenigen Heilern oder Schamanen.

Die Menschen in der heutigen Zeit machen es mir manchmal sehr schwer. Ich schicke ein gesundes Heilkraut hinauf, und schon ist Gift da, das es wieder sterben lässt. Früher war vieles besser. Da wurden noch die Kühe im Winter mit in die Häuser genommen. Alle lebten miteinander, und alle wurden satt.

Heute essen die Menschen in Übermengen und auch noch schlechte Sachen, die ich nicht gemacht habe.

Sie trinken sogar den Kuhbabys die Milch weg, weil sie denken, es macht sie stark. Dabei habe ich doch alle so gemacht, dass sie ihre Nachkommen selbst versorgen können. In früheren Zeiten hat eine Mutter ihre eigene Milch den Kindern gegeben. Es könnte heute auch noch so sein, aber es ist ja weit aus bequemer, fremde Milch in eine Flasche zu geben. Und dann wundern sie sich, dass es in der heutigen Zeit Krankheiten gibt, die man früher gar nicht kannte. War damals mal etwas nicht in Ordnung in einem Körper, dann gab es auch ein Kräutlein, dass da helfen konnte. Die meisten Krankheiten machen sich die Menschen selber.

Irgendwann, da haben sie sich selbst zerstört, und ich kann wieder ganz neu anfangen. Ob ich den Menschen da wieder eine Intelligenz geben würde? Na ja, mal sehen.

Nun kommt mit, ich zeige euch mein Erdreich und all die anderen, die hier bei mir sind.

Dort ist ein Holunder. Das ist der Busch der Holle. Dort können wir hinein.«

Martha wollte wissen, ob sie denn nun nie mehr auf die Erde dürften, aber die Holle beruhigte sie.

»Und was müssen wir nun hier machen?«, fragte Marie.

»Ihr dürft alles tun, was euch glücklich macht. Was euch traurig macht, das ist nicht mehr für euch sichtbar. Ihr werdet als kleine Elfen in Glockenblumen spielen können. So klein, dass kein menschliches Auge euch sieht. Vielleicht mal ein kleines Kind, aber kein Erwachsener. Oder ihr fliegt mit dem Wind durch die Lüfte. Ihr werdet schon sehen.

Ihr könnt auch nach euren Lieben auf der Erde schauen, aber es wird euch nach einiger Zeit nicht mehr gefallen, weil sie euch nicht sehen und hören können. Aber wenn sie nach euch rufen, dann geht nur hin.

Wie ich schon sagte, ihr sollt nur das Gute bei den Erdenmenschen sehen. Ihr wärt sonst unglücklich, und das ist hier nicht erwünscht. Und nun kommt schon.«