Ein hoffnungsloser Fall

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Ein hoffnungsloser Fall
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Elisabeth Sailer

Ein hoffnungsloser Fall

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Als ob es gestern gewesen wäre

Erkenntnisse

Ein modriges Stück Stoff

Asservatenkammer

Spontane Einladung zum Tee

Pasta-essen

Agnes

Gleich und doch nicht gleich

Unheimlicher Besuch

Die Haushälterin

Rückschau

Blumen aus der Gärtnerei

Eine unheimliche Entdeckung

Augen zu und durch

Wiedersehen mit einem alten Bekannten

Der Countdown läuft

Meier sei Dank

Zu neuen Ufern

Impressum neobooks

Als ob es gestern gewesen wäre

«Willst du den Dingen auf den Grund gehen? Dann darfst du dich nicht vor Schmutz fürchten!»

Winfried Bommelmütz schritt wie jeden Morgen gegen acht Uhr in Morgenmantel und Pantoffeln zu seinem Briefkasten beim Gartentor, um seine Zeitung zu holen. «Winni», wie ihn seine wenigen wirklich guten Freunde nannten, war ein drahtiger, mittelgroßer Mann in seinen Vierzigern mit stahlblauen Augen und kurzgeschnittenen rotblonden Haaren. Weil er viel draußen an der frischen Luft war, wirkte seine Haut stets leicht gebräunt und verlieh ihm das Aussehen eines Naturburschen. Er strich sich mit der Hand energisch die Haare aus dem Gesicht, während er mit langen Schritten den Schotterweg entlang marschierte. Seitdem er vor gut drei Jahren kurzentschlossen den Dienst bei der Polizei quittiert hatte, gehörte dieser Gang an den Briefkasten zu seinem Morgenritual. Nach vielen Jahren als Ermittler mit unzähligen Nachtschichten und völlig unregelmäßigen Dienstzeiten bedeutete es für ihn Lebensqualität, ganz ohne Wecker aufzustehen, wann immer er Lust dazu hatte, um dann bei einer guten Tasse italienischem Kaffee morgens ausgiebig Zeitung zu lesen.

Sicherlich hätte er sich, nachdem ihm sein Onkel ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte, eine trendige Loftwohnung, ausgedehnte Ferien oder auch ein teures Auto leisten können. Winfried Bommelmütz aber machte sich nichts aus solchen Belanglosigkeiten. Er hatte stattdessen lieber das in die Jahre gekommene Landhaus zurückgekauft, das einmal seinem Großvater gehörte, und das sein Vater nach dessen Tod geerbt, aber einige Jahre später aus Geldmangel wieder verkauft hatte. Winfried hatte das geräumige Haus mit dem parkähnlichen Grundstück immer sehr geliebt. Es vermittelte ihm, der ganz alleine darin lebte und nach dem Tod seiner Eltern und seines Onkels keine nahen Verwandten mehr hatte, so etwas wie Heimat.

Winni blickte zum wolkenlosen, azurblauen Himmel empor und sog dabei tief die frische Luft durch seine Lungen. Was für ein herrlicher Frühlingsmorgen! Wenn auch die Temperatur zu dieser frühen Uhrzeit noch kühl war. Er überlegte, dass es schade wäre, diesen Tag nicht auszukosten. Ein idealer Tag für eine lange Wanderung. Oder sollte er stattdessen besser eine Fahrradtour unternehmen? Er dachte dabei an sein ehemals hochwertiges Rennrad, das ihm sein Patenonkel zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ein mintgrünes Bianchi-Rad, an dem er sehr hing, das er aber seit vielen Jahren nachlässig behandelt hatte und von dem er inzwischen nicht einmal mehr wusste, ob die Reifen noch Luft hielten. Wahrscheinlich waren sie längst porös und platt. Er würde das Rad zu einem Fahrradmechaniker bringen müssen, ehe er damit einen Ausflug plante. Wirklich schade, dass die Fahrradtour mangels Sportgeräts ausfallen musste. Er ärgerte sich ob seiner Nachlässigkeit und nahm sich vor, das Bianchi bei allernächster Gelegenheit zu einem wirklich professionellen Mechaniker in die Reparatur zu bringen.

Weil seine Haare vom Duschen noch feucht waren, schlug Bommelmütz den Kragen seines Morgenmantels hoch. Er hob den Kopf, um mehr von dem herrlichen Duft der jungen Buschrosen, die er im letzten Herbst eigenhändig gepflanzt hatte, in sich einzusaugen. «Unglaublich intensiv, dieses Aroma!» Dabei streifte sein Blick das Haus der Nachbarin. Elvira stand an ihrem Küchenfenster; sie trug eine weiße Schürze und sah damit aus wie eine Krankenschwester. Er wunderte sich über ihr ungewohntes Outfit, während er grüßend die rechte Hand anhob. Sein Gruß wurde nicht erwidert. War das wirklich Elvira gewesen, die er gesehen hatte? Aber wer sonst sollte um diese Uhrzeit an ihrem Küchenfenster stehen? Einen Moment später konnte er niemand mehr am Fenster ausmachen. Die Silhouette war verschwunden.

Eigentlich wusste er nicht viel über Elvira, die erst vor circa sechs Monaten ganz allein in das zuvor jahrelang leerstehende große Nachbaranwesen eingezogen war. Er erinnerte sich noch gut an seine erste Begegnung mit ihr. Weil es in der Gegend so Brauch ist und als freundliche Geste, hatte er seiner neuen Nachbarin am Tag nach ihrem Einzug Brot und Salz vorbeibringen wollen. Er hatte beides in ein kleines Körbchen gepackt und mühevoll mit rotem Karoband dekoriert. Nachdem er an ihrer Haustüre geklingelt und lange gewartet hatte, wollte er gerade wieder gehen, als Elvira ihm endlich öffnete: «Ich heiße Winfried Bommelmütz und wohne im Haus neben Ihrem. Auf eine gute Nachbarschaft. Ich freue mich, dass das Haus nun endlich nicht mehr leer steht! Und wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann oder Sie etwas brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.», hatte er sich ihr vorgestellt und seine nachbarschaftlichen Dienste angeboten. Elvira hatte ihm kurz die Hand entgegengestreckt: «Angenehm, Elvira Vondäniken. Das ist sehr nett von Ihnen, aber Sie müssen entschuldigen, ich habe zu tun. Gerne ein andermal.» Er konnte gar nicht so schnell schauen, wie sie ihm den Korb beinahe aus der Hand gerissen und dann die Türe vor der Nase zugeschlagen hatte.

Es war offensichtlich, dass ihr sein Besuch damals extrem ungelegen gekommen war. Er überlegte, ob es unhöflich von ihm gewesen war, ohne Anruf oder Vorankündigung spontan bei ihr aufzutauchen. Aber was hätte er machen können? Er hatte weder ihre Telefonnummer noch wäre es in diesem Fall angebracht gewesen, seinen Besuch schriftlich anzukündigen. Nein, er hatte sich damals absolut richtig verhalten. «Schließlich war er nicht zum Stören gekommen, sondern hatte ihr seine Hilfe angeboten. Was hatte sie damals nur so Dringendes zu tun gehabt?»

Egal. Einen Tag später stand sie bei ihm vor der Tür und hatte sich für ihre unfreundliche Begrüßung entschuldigt und ihn für die darauffolgende Woche zum Tee eingeladen. Seither wechselten sie freundliche Worte, spielten gelegentlich Karten oder tranken zusammen einen Sherry oder Tee. Die Kommunikation blieb distanziert. «Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck.» Der Aphorismus schien sich bei Elvira zu bewahrheiten. Sie gehörte nicht zu den Menschen, zu denen Winfried von sich aus Kontakt gesucht hätte, obwohl sie etwa in seinem Alter und, soweit er wusste, ebenfalls alleinstehend war.

«Doch war die Person am Fenster wirklich Elvira gewesen?» Bommelmütz glich das in seinem Kopf gespeicherte Bild von Elvira mit der gerade gesehenen Silhouette am Fenster ab:

Elvira war groß und von eher kräftiger Statur. Die blond-grau-melierten schulterlangen Haare trug sie meist offen über dem breitflächigen Gesicht. Ein wenig Makeup wäre vorteilhaft gewesen, aber von solchen Tricks hielt sie scheinbar nichts. Nein, Elvira war gewiss keine Schönheit, und er fand auch in ihrem Wesen nichts, das interessant oder anziehend gewesen wäre. Dass er sich dennoch gelegentlich mit ihr verabredete, lag einzig daran, dass sie seine Nachbarin und er nicht gerne alleine war. So war es nicht verwunderlich, dass seine Gespräche mit Elvira nie über belanglosen Small Talk hinausgingen. Eigentlich wusste er kaum etwas von ihr. Auch hatte er tunlichst darauf geachtet, ihr gegenüber nicht allzu viel von sich selbst preiszugeben.

Elvira gehörte zu den oberflächlichen Kontakten, wie sie im Leben zu hunderten kamen und gingen. Aus früheren schlechten Erfahrungen hütete sich Winfried Bommelmütz stets davor, Fremden seine verwundbaren Stellen preiszugeben. Zu oft schon hatte er die bittere Erfahrung machen müssen, dass Schwächen irgendwann ausgenutzt wurden. Schon die alten Griechen warnten davor. Achilles wurde nur deshalb besiegt, weil er jemanden in leichtsinniger Gefühlsduselei seinen einzigen Schwachpunkt verraten hatte.

 

Und Bommelmütz war sich darüber bewusst, dass er viele Schwachpunkte besaß. Einer davon war gewiss seine Exfrau, Eva-Maria. Ein dunkler Schatten, verursacht von seinem schlechten Gewissen, überkam ihn auch jetzt wieder beim Gedanken an Eva-Maria; Winfried stieß einen beklommenen Seufzer aus. Er zog den Gurt seines Morgenmantels fester, weil er plötzlich fröstelte. Er kriegte doch wohl keine Erkältung? Sicherheitshalber schlug er die Kapuze seines Morgenmantels über den Kopf und hüllte sich tief darin ein.

Wenn Bommelmütz an Eva-Maria dachte, sah er stets auch ihre beste Freundin Sophie vor sich. Die beiden waren seit frühester Kindheit unzertrennliche Freundinnen gewesen und besuchten im Gymnasium die Klasse unter ihm. Alle seine Klassenkameraden, er eingeschlossen, schwärmten damals für die beiden attraktiven, quirligen Teenager. Dabei blieb es auch. Die beiden waren für jeden Spaß und jede Party zu haben, ließen aber ansonsten alle Annäherungsversuche abblitzen. Wahrscheinlich machte sie eben diese Unnahbarkeit noch begehrenswerter. Auch heute noch ergriff ihn eine tiefe Sehnsucht, immer, wenn er die Fotoalben aus seiner Schulzeit durchblätterte. Gewiss ging es vielen seiner ehemaligen Mitschüler genauso. Obwohl er Eva-Maria später geheiratet hatte, hatte in seinen nächtlichen Teenager-Phantasien stets Sophie die Hauptrolle gespielt. Was wohl aus ihr geworden war?

Damals hätte dieses Mädchen alles von ihm haben können, wenn sie ihn nur erhört hätte. Fast zwei Jahre waren sie in derselben Clique und verbrachten täglich Zeit zusammen, schmiedeten Zukunftspläne, hörten Musik, diskutierten über Gott und die Welt. «Einen großen Bruder wie dich hatte ich mir immer gewünscht», hatte sie ihm damals anvertraut. Sie suchte nach Unterstützung. Das war ihm klar. Jeder im Ort wusste, dass ihr Vater jähzornig war und sie oft schlug. Das öffentliche Bewusstsein hatte sich seit der Zeit, als sie Teenager waren, stark verändert. Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, sich in Familieninterna einzumischen. Heute war das zum Glück anders. Wenn sie auf Partys zu viel getrunken hatte, heulte sich Sophie an seiner Schulter aus und sie schmiedeten Zukunftspläne für die Zeit nach der Schule. Sie konnte es kaum erwarten, endlich von zuhause auszuziehen. Er nahm die Rolle ihres Vertrauten an, so wie sie sich das von ihm wünschte. Doch insgeheim hoffte er, dass sie einmal mehr in ihm sehen würde. Bedrängen wollte er sie nicht, weil er Angst hatte, sie dadurch zu verlieren. Nach dem Abitur ging er dann auf die Polizeischule und sie sahen sich im folgenden Jahr fast nur noch an den Wochenenden. Aber auch dann hatte Sophie oft keine Zeit. Sie gab vor, sich auf ihre Abiturprüfungen vorbereiten zu müssen. Erst später fand er heraus, dass sie jemanden kennengelernt hatte.

Sophie war immer die forschere von beiden gewesen, Eva-Maria etwas vorsichtiger und zurückhaltender. Zu dritt hatten sie oft darüber gesprochen, nach dem Abitur zusammen zu studieren. Doch für Sophie war das reine Phantasterei: «Mein Vater würde mir niemals ein Studium finanzieren. Er verlangt, dass ich endlich arbeite und selbst Geld verdiene. Schon, dass ich auf das Gymnasium gehen durfte, habe ich nur meiner Grundschullehrerin zu verdanken, die sich damals gegen den Alten durchgesetzt hatte.»

Der Mann, den Sophie kennengelernt hatte, war einiges älter und nicht aus dem Ort. Vermutlich ihr Ticket, um von zuhause wegzukommen. Sie schlug alle Warnungen von ihm und ihren Freunden in den Wind und ging ohne zu zögern mit ihm in eine ungewisse Zukunft; irgendwohin. Dieses kompromisslose Handeln hatte sie in seinen Augen noch begehrenswerter werden lassen. Durch ihr plötzliches Wegsein hatte sie sich umso mehr eine Aura geschaffen. Während er den Klassenkameraden oder Eva-Maria von Zeit zu Zeit begegnete, blieb Sophie in der Erinnerung und seinen Träumen stets neunzehn Jahre alt und honigsüß. Traf er auf Menschenansammlungen, ertappte er sich zuweilen dabei, dass er nach ihrem Gesicht Ausschau hielt. Er wünschte sich so sehr, dass sie sich zufällig einmal begegnen würden. Vielleicht, wenn sie ihm heute als eine vom Leben gezeichnete, nicht mehr ganz so attraktive Enddreißigerin begegnen würde, könnte er endlich diesen Traum loslassen. Aber wollte er das wirklich? Das Leben hatte ihm so viele Enttäuschungen gebracht, dass er froh war, an seiner Phantasie festhalten zu können.

Nachdem Sophie plötzlich weg war, blieb Eva-Maria verlassen zurück. Sie ahnte nicht, dass Sophie sie beide im Stich gelassen hatte. Ob das der Grund war, dass Eva-Maria ihn geheiratet hatte? Sie hatten nie darüber gesprochen. Eva-Maria erhielt regelmäßig Briefe von Sophie, aber sie versteckte sie vor ihm. Ob sie wohl ahnte, dass er all die Jahre heimlich in Sophie verliebt gewesen war?

Jedenfalls hatte seine Ehe mit Eva-Maria nur kurze Zeit gehalten und war kinderlos geblieben. Eva-Maria hatte schon sehr bald nach ihrer Scheidung von Winni ein zweites Mal geheiratet und gleich darauf mit ihrem neuen Mann zwei stramme Söhne in die Welt gestellt. Mit Eva-Maria pflegte Bommelmütz auch nach der Scheidung bis heute ein freundschaftliches Verhältnis. Er sah sie jedoch selten und war froh darüber. Die Treffen mit Eva-Maria schmerzten immer noch und erinnerten ihn daran, wie allein er jetzt doch war und wie sehr er im privaten Leben versagt hatte. Wenn Bommelmütz genau darüber nachdachte, musste er zugeben, dass er alle Zeit auf seinen Beruf und kaum Zeit auf sein Privatleben verwendet hatte. Dabei, das wusste er nur zu gut, hatte Eva-Maria stets versucht, ihm eine gute Partnerin zu sein. Sie hatte die eheliche Wohnung komfortabel eingerichtet, engagierte sich gemeinnützig und pflegte die gemeinsamen Sozialkontakte, indem sie Abendessen oder Feste mit Familie und Freunden organisierte. Bommelmütz arbeitete oft nächtelang und auch über die Wochenenden. Anfangs hatte ihn Eva-Maria noch mit Vorwürfen bombardiert, wenn er sie wieder einmal wegen eines schwierigen Falls versetzt hatte. Nach etwa zwei Jahren resignierte sie.

Bommelmütz wunderte sich zuerst darüber, dass sie kaum mehr zu Hause war. Er nahm sich aber nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Vielmehr war er froh, dass sie ihm keine Vorwürfe mehr machte. Als Eva-Maria bald darauf aus der ehelichen Wohnung auszog, war er überrascht. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie unglücklich seine Frau neben ihm gewesen war. Drei Jahre nach der Hochzeit ließ sich Eva-Maria von ihm scheiden. Bommelmütz schämte sich heute noch für seine Ignoranz.

Es war wirklich seltsam, dass Bommelmütz ausgerechnet an diesem strahlend blauen Frühlingsmorgen diese düstere Erinnerung einholte.

Er und sein damaliger Vorgesetzter, Edgar Vidal, hatten in dieser schwierigen Zeit wie besessen an dem grausamsten und mysteriösesten Mordfall gearbeitet, der ihm in seiner Laufbahn untergekommen war. Nachdem sie gemeinsam sechs Monate von früh bis spät, aber dennoch beinahe ergebnislos gearbeitet hatten, wurden Vidal und er von dem Fall abgezogen. Von höherer Stelle war entschieden worden, den Fall ad acta zu legen, bis sich neue Indizien ergeben würden.

Das war doppelt bitter, denn nebst seiner gescheiterten Ehe betrachtete Bommelmütz seither den ungelösten Mordfall an der «schönen Betty» als seine größte persönliche Niederlage. Notgedrungen und widerwillig hatte er damals von dem Fall abgelassen. Er hatte sich aber insgeheim geschworen, sofort mit seinen Recherchen fortzufahren, sollten sich neue Anhaltspunkte ergeben.

Das war ganz am Anfang seiner Karriere als Ermittler bei der Mordkommission gewesen. Aber schon damals hatte sich Bommelmütz einen Namen als unerbittlicher Hund gemacht. Dabei war es ihm nicht entgangen, dass er unter seinen Kollegen den Ruf eines extrem kauzigen und eigenwilligen Zeitgenossen innehatte. Die Kollegen und Vorgesetzten belächelten ihn mitunter. Vielleicht auch aus Neid, denn seine Aufklärungsquote war überdurchschnittlich. Bommelmütz verfügte über die Ausdauer eines Jagdterriers sowie einen untrüglichen Instinkt, der ihn ganz selten im Stich ließ. Und dieser untrügliche Instinkt hatte ihm immer wieder gesagt, dass ihm irgendwann die Lösung auch zu seinem schwierigsten Fall in die Hände fallen würde. Er musste nur dranbleiben und stets wachsam sein. Doch jetzt, nachdem er den Polizeidienst quittiert hatte, bedeutete dies seine Kapitulation. Er würde den grausamen Mord an der «schönen Betty» nie mehr lösen können.

Wenn er genau darüber nachdachte, waren die Hinweise, die ihn zur späteren Lösung eines Falles führten, in den allermeisten Fällen nicht auf den ersten Blick erkennbar gewesen. Mehrmals hatte er wichtige Indizien erst auf den zweiten oder gar dritten Blick als solche erkannt. Aber er wäre nicht Bommelmütz gewesen, wenn er nicht mit der größten Verbissenheit jeder Spur, war sie auch noch so unscheinbar und unbedeutend, nachgegangen wäre.

Die Erinnerung an Edgar Vidal war unauslöschlich mit dem Fall Betty verwoben. Bommelmütz erinnerte sich noch an unzählige Details, als wäre es erst gestern gewesen.

Wie lange mochte der Mord an Betty nun zurückliegen? Bommelmütz war inzwischen am Briefkasten angekommen und angelte umständlich die Zeitung aus dem Schlitz, weil er wieder einmal den Briefkastenschlüssel nicht mitgenommen hatte. Seine Hand war viel zu breit, um durch den Schlitz zu passen. Es brauchte mehrere Anläufe, ehe er die Zeitung schließlich mit zwei Fingern an einem langen Ende zu fassen kriegte. So passte sie aber nicht durch den Schlitz. Also musste er sie mit den zwei Fingern auf die kurze Seite drehen. Daher dauerte es eine ganze Weile, bis er sie durch den Briefschlitz gefingert hatte.

Froh, das Kunststück endlich geschafft zu haben, entfaltete er das Blatt und studierte das Datum am oberen rechten Rand.

Seitdem er nicht mehr arbeitete, kam es oft vor, dass er das genaue Datum nicht wusste. Er lebte sozusagen zeitlos.

«15. April», murmelte er leise vor sich hin. Er erschrak über seine eigenen Worte und überlegte, warum?

Sicherlich, er war viel allein, da kam es schon einmal vor, dass er sich bei Selbstgesprächen ertappte. Aber das war nicht der Grund seines Erschreckens.

Der eigentliche Grund war das Datum selbst: «Oh, mein Gott. Heute ist der 15. April!» Als er dieses Datum laut ausgesprochen hatte, holten ihn die Erinnerung und sein schlechtes Gewissen wieder ein, als hätte ihm Muhammad Ali einen Punsh mitten ins Gesicht versetzt. Sein Puls begann wie wild zu rasen. Die Erinnerung war glasklar zurück, als ob es gestern passiert wäre.

Exakt am 15. April vor zehn Jahren war die Leiche der toten Betty von einem Jäger entdeckt worden. Dies rund zwei Monate nach ihrem Verschwinden und nachdem wochenlang die gesamte Gegend intensiv, aber erfolglos nach dem schönen jungen Mädchen abgesucht worden war. Die Auffindesituation der Leiche war so absurd, dass Winni sich bis heute absolut keinen Reim darauf machen konnte. Nachdem die ganze Umgebung wochenlang bis in die hintersten Winkel vergeblich abgesucht worden war, stellte sich heraus, dass Bettys Leiche vor aller Augen deponiert worden war. Sie war quasi auf dem höchsten Punkt des Ortes ausgestellt worden.

Bommelmütz erinnerte sich noch an kleinste Details. Betty war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens zwanzig Jahre alt gewesen. Großgewachsen, gertenschlank, langbeinig, blondes langes Haar, grüne Katzenaugen und ein sehr schönes, klassisch geschnittenes Gesicht. Kurz und gut, ein Mädchen, das deutlich aus der Masse hervorstach und an das man sich später genau erinnerte, wenn man ihr irgendwo einmal begegnet war. Auch Bommelmütz war beeindruckt von ihrer äußeren Erscheinung. Sie war ihm gelegentlich begegnet, wenn er seinen Vater besucht hatte und sie ihm auf ihrem Schul- oder Nachhauseweg entgegenkam. Und weil in der kleinen Stadt jeder jeden zumindest vom Hörensagen kannte, wusste er auch, in welchem Haus sie wohnte und wer ihre Eltern waren. Betty, das sah man sofort, war lebenshungrig. Sie war nie allein und meist von einem ganzen Pulk Gleichaltriger umgeben. Bommelmütz war sich sicher, dass Betty der Schwarm aller Jungen in ihrer Abschlussklasse gewesen sein musste. Das Mädchen, von dem man Jahre später, wenn man bereits die Uni abgeschlossen und eine eigene Familie gegründet hatte, immer noch heimlich träumte. Doch während seiner Ermittlung fand er heraus, dass es da noch eine dunkle Seite gab. Betty war nämlich alles andere als ein braves, naives Schulmädchen.

Seine Befragungen ihrer Mitschüler zeichneten ein neues, völlig unerwartetes Bild von Betty. «Betty», so erzählten sie einstimmig, «setzte skrupellos ihre physischen Reize ein, um ihre materiellen Ziele zu erreichen. Sich überall bestens in Szene zu setzen, darin war Betty wirklich außerordentlich talentiert. Sie machte keinen Hehl daraus und ließ jeden wissen, dass sie auf ein komfortables Leben mit möglichxt viel Luxus aus war. Ein arbeitsames, sparsames und anspruchsloses Leben, wie es ihre Eltern ihr vorlebten, kam für Betty nicht infrage. Sie hatte sogar im Deutschunterricht einen Aufsatz zum Thema geschrieben: «Wie ich mir meine Zukunft vorstelle.» Bommelmütz hatte nichts unversucht gelassen und bei seiner Recherche Bettys privates Umfeld genauestens durchleuchtet. Er hatte auch ihren acht DIN-A4-Seiten umfassenden Schulaufsatz von Anfang bis zum Schluss aufmerksam durchgelesen. Der Aufsatz war sicherlich kein intellektueller Höhenflug, aber dafür sehr aufschlussreich gewesen, was Bettys innere Einstellung, ihre Lebensziele und Wertevorstellung anbelangten.

 

Bommelmütz konnte sich an eine Passage darin auch heute noch ganz genau erinnern: «Ich werde mich auf keinen Fall wie meine Eltern ein ganzes Leben lang abrackern, um dann festzustellen, dass ich es zu nichts gebracht habe. Ich werde ein erfülltes, angenehmes Leben haben. Dies erreiche ich, indem ich mich mit einflussreichen Menschen vernetze. Sich mit erfolgreichen Menschen zu umgeben, ist die beste Garantie für den eigenen Erfolg. Davon bin ich überzeugt.»

Vermutlich war es ihrer Jugend geschuldet, dass Betty keinen einzigen Gedanken an die Moral eines solchen Ansinnens verschwendete. Und leider blieb in dem Aufsatz auch offen, welche einflussreichen Personen sie im Visier hatte. Vielleicht waren ihre Ausführungen nur jugendliche Phantasterei; vielleicht war die schöne Betty aber auch jemand auf den Leim gegangen oder womöglich zu nahegekommen. Jemandem, der sie später aus dem Weg geräumt hat. In jedem Fall war Bettys Ermordung eine riesige Verschwendung an Leben und Ästhetik! «Warum nur musste dieses wunderschöne Mädchen in der Blüte ihres Lebens sterben? Hatte jemand einfach nur Spaß am Töten gehabt, oder kannte Betty ein Geheimnis und stellte dadurch eine Bedrohung dar?» Diese Frage ging Bommelmütz seit damals nicht mehr aus dem Kopf.

Weil Betty ihre Weltanschauung so offen kundtat, wunderte sich niemand, am wenigsten ihre Eltern, über den Umstand, dass Betty eines Tages nicht mehr da war. Dass sie ihre Tochter nicht halten konnten, war ihnen schon lange klar gewesen. Aber eine Betty wäre nicht klammheimlich auf und davon gegangen. Sie hätte ihren Erfolg ausgekostet. Betty hätte ihren Weggang und ihr neues Leben zelebriert und allen vorgeführt, dass sie ihr selbstgestecktes Ziel erreicht hatte. Die Eltern erinnerten sich, dass sie vor ihrem Verschwinden wiederholt Andeutungen zu einem «Projekt» gemacht hatte, welches ihr Wohlstand sowie eine sorglose Zukunft garantieren sollte. Auch am Nachmittag, bevor sie verschwand, gab sie ihrer Mutter gegenüber vor, ihr Projekt vorantreiben zu wollen. Die Eltern kannten ihre Tochter und fragten nicht nach, weil es ohnehin nichts gebracht hätte. Als Betty dann jedoch nachts nicht nach Hause kam und anderntags kein Lebenszeichen von sich gab, wurden sie erst nervös und später panisch. Sie schalteten die Polizei ein und suchten auf eigene Faust nach Hinweisen.

Betty war erwachsen und nicht verpflichtet, sich zuhause abzumelden. Erst nach 48 Stunden konnte Betty offiziell als vermisst gemeldet werden. So verstrich wertvolle Zeit. Erst am dritten Tag nach ihrem Verschwinden nahm die Polizei den Fall offiziell auf. Mehrere Spezialeinheiten sowie die örtliche Feuerwehr begannen mit Suchtrupps und Spürhunden nach Betty zu suchen. Leerstehende Gehöfte, Brunnen, Wälder, das ganze Gelände wurden nach dem verschwundenen Mädchen durchforscht. Kurz darauf übernahm Vidal den Fall. Ihm war sofort klar, dass die Situation sehr ernst war. Er forderte sogar Taucher an, um alle Seen der Umgebung nach Betty abtauchen zu lassen. Bommelmütz arbeitete damals noch nicht bei der Mordkommission. Nur weil Bommelmütz Betty gekannt hatte und weil er in derselben Kleinstadt lebte, in der jeder jeden kennt, und weiß, mit wem jeder verwandt, bekannt oder zerstritten war, holte ihn Kommissar Edgar Vidal damals in sein Ermittlungsteam.

Er wollte Bommelmütz dabeihaben, weil dieser das Lokalkolorit bestens kannte und er sich durch ihn Insights versprach.

Bommelmütz wiederum empfand ein Kapitalverbrechen in seinem eigenen und unmittelbaren Umfeld als persönlichen Affront. Nur zu gerne willigte er deshalb ein, als Vidal ihm die Mitarbeit an dem Fall höchstpersönlich antrug. Zudem galt Vidal als einer der erfolgreichsten Mordermittler. Für Bommelmütz war es eine große Auszeichnung, dass er in dessen Team mitarbeiten durfte. Vidal wiederum war ein ziemlicher Eigenbrötler. Er machte keinen Hehl daraus, dass er eigentlich am liebsten allein arbeitete und nur selten jemanden ins Vertrauen zog. Doch bei Bommelmütz war das anders – nach anfänglicher Skepsis erkannte Vidal schnell das Potenzial seines jungen Kollegen. Bald war klar, die beiden Männer ergänzten sich ausgezeichnet und arbeiteten mit derselben kauzigen Verbissenheit.

Bommelmütz wischte die Erinnerung aus seinem inneren Auge weg und widmete sich wieder der Gegenwart. Interessiert fokussierte er die Titelseite der Zeitung. Der Name «Betty» und das Polizei-Suchbild von damals stachen ihm beim Scannen der Titelseite des Provinzblattes sofort ins Auge. Bommelmütz war wie vom Blitz getroffen. «Gibt es neue Erkenntnisse? Und wenn ja, welche?»

Bommelmütz’ Beine hatten sich bereits automatisch in Bewegung gesetzt und waren auf dem Rückweg ins Haus. Ungezählte Male zuvor hatte er den Weg vom Briefkasten zu seinem Haus schon zurückgelegt. Weil er aber völlig absorbiert von dem Zeitungsartikel war und sein Puls so sehr raste, dass er seine Umwelt gar nicht mehr wahrnahm, wäre er um ein Haar über Tiger, Elviras Kater, gefallen.

Tiger hatte die Angewohnheit, urplötzlich und wie ein Phantom aus dem Nichts aufzutauchen. Mehrmals am Tag besuchte er Bommelmütz. Der war normalerweise froh über ein wenig Gesellschaft und belohnte ihn mit einer Portion Katzenfutter, das er immer für seinen tierischen Gast bereithielt.

Heute aber knurrte der fast ins Straucheln geratene Bommelmütz seinen Besucher an: «Was fällt dir ein, Tiger! Ich breche mir eines Tages noch meinen Hals wegen dir!»

Bommelmütz war für eine Sekunde stehen geblieben, um sein Gewicht auszubalancieren. Die Katze starrte ihn verständnislos mit ihren riesigen grünen Raubtieraugen an und stupste dann wie zur Untermauerung ihres Anliegens mehrmals mit ihrer rosigen Nase gegen seine Schienbeine.

Bommelmütz tat es bereits leid, dass er den Kater so unfreundlich angeschnauzt hatte. Für den Kater war dies ein Tag wie jeder andere. Er wollte nur sein Futter. Bommelmütz klappte energisch die Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Dann warf er dem Kater einen aufmunternden Blick zu. «Komm Kumpel, wir gehen erst einmal ins Haus frühstücken, dann sehen wir weiter!»

Schon machte er sich mit Riesenschritten auf den Weg in Richtung Haus, dicht gefolgt von dem graumelierten Kater.

In der Küche angelangt, breitete Bommelmütz die Zeitung auf dem Tisch aus und strich sie mit der Hand glatt. Er konnte es kaum erwarten, sie zu lesen. Aber der Kater würde keine Ruhe geben, ehe er sein Futter hatte. Daher füllte er die Katzenschüssel zur Hälfte mit Trockenfutter und stellte sie dem ungeduldigen Tiger an seinen Platz. «Ich habe dir die Schüssel nur halb voll gemacht, mein Junge. Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber du wirst langsam fett!»

Er grinste wohlwollend und tätschelte Tiger freundschaftlich den Rücken.

Dann wandte er sich seiner chromblitzenden italienischen Kaffeemaschine zu.

Wie jeden Morgen hatte er sie gleich als Erstes nach dem Aufstehen angeschaltet und das Wasser im Vorratsbehälter gewechselt, ehe er ins Bad gegangen war. Jetzt leuchtete eine grüne Lampe auf, was bedeutete, dass die Espressomaschine betriebsbereit war.

Bommelmütz hatte nicht viel übrig für Luxus. Aber beim Kaffee kannte er keine Kompromisse und machte eine Ausnahme. Er hatte sich diese sündhaft teure, chromblitzende, elegant designte italienische Espressokolbenmaschine nicht nur deshalb geleistet, weil ihn ihre Optik faszinierte, sondern vor allem, weil sie den allerbesten Kaffee braute, den man haben konnte. Und Bommelmütz war ein Experte. Er verfügte über ausgesprochen feine Geschmacksnerven und schmeckte seinen Lieblingskaffee unter zig anderen Sorten heraus. Wie jeden Morgen zelebrierte er die Kaffeezubereitung, wenn auch zugegebenermaßen an diesem Morgen etwas ungeduldiger als sonst. Schließlich lag die Zeitung mit dem Betty-Artikel immer noch ungelesen auf dem Küchentisch. Bommelmütz brannte förmlich darauf, herauszufinden, ob es neue Erkenntnisse in dem Fall gab. Er stellte die vorgewärmte Tasse unter den Auslaufstutzen und drückte auf den Knopf. Das Mahlwerk setzte sich in Bewegung und verrichtete mit lautem Surren seinen Dienst. Dann drückte die Pumpe das Wasser durch den Kolben. Der Kaffee, eine seltene Hochlandsorte, die er sich exklusiv von einer kleinen Kaffeerösterei in der Stadt kommen ließ, ergoss sich sprotzend und schäumend in die Tasse. In einem Fachmagazin hatte er einmal gelesen, dass eine einzige Kaffeebohne durchschnittlich etwa 880 Duft- und Aromastoffe enthielt. Die Zahl erschien ihm übertrieben. Trotz seines feinen Geruchssinns würde er die einzelnen Aromen nicht annähernd auseinandersortieren können. Dass es sich hierbei jedoch um eine Unzahl von Aromen handeln musste, hierüber lieferte ihm seine Kaffeemaschine jeden Morgen den Beweis. Schon beim Mahlen der Bohnen erfüllte sich seine Küche mit einem wahren Duftfeuerwerk. Er sog die Aromen mit tiefen Zügen durch seine Nasenflügel. Sie belebten seinen Geist.