Existenzfrage

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Existenzfrage
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Alles frei erfunden!

Imprint Existenzfrage. Kriminalroman

Elisa Scheer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2015 Elisa Scheer

ISBN 978-3-7375-6157-0

EINS

So lange schon hatten sie nach diesem Umschlag gesucht – quer durch alle Bundesländer und quer durch mehr als zehn Jahre. Jetzt wussten sie immerhin, wo er sich befinden musste.

Wenn er nicht längst vernichtet worden war.

Sollte er auch da nicht sein, wo sie ihn jetzt vermuteten, konnte man wohl davon ausgehen, dass er nicht mehr existierte. Aber wer warf einen Umschlag ins Altpapier, ohne wenigstens einmal hineinzuschauen? Und der Inhalt war brisant genug – drei Fotos, unangenehm scharf, ein Zeitungsartikel und zwei kopierte Dokumente.

Das erste Foto zeigte nur zwei Männer in Uniform, die etwas verkniffen in die Kamera lächelten. So stand es auf der mit Computer getippten Liste ohne Unterschrift. Der Rest war eindeutig brisanter. Brisant genug, um einen ordentlichen Skandal auszulösen und Karrieren zu vernichten.

2

„Und hier ist das Badezimmer!“

Sissi schaute flüchtig in einen in üblicher Weise weißgekachelten Raum – Klo, Dusche, Wanne, Waschbecken, Ablage – alles da. Himmel, sie wollte das Haus für sechs Monate mieten, nicht es kaufen! „Ja, danke“, murmelte sie etwas gereizt. „Danke, ich glaube, ich habe alles gesehen.“

„Und Ihnen ist klar, dass Sie die letzten beiden Zimmer im oberen Stock nicht nutzen können? Der Vermieter hat dort seinen persönlichen Besitz abgestellt, weil er doch für ein halbes Jahr -“

„Ich weiß“, unterbrach Sissi die eifrige Maklerin ungeduldig, „das haben Sie mir doch vorhin schon erklärt. Ich kann die Küche, das eine Bad und die beiden Zimmer unten benutzen, oder? Das genügt doch völlig!“

„Vergessen Sie das große Schlafzimmer im ersten Stock nicht!“

„Nein, keine Sorge. Drei Zimmer sind wirklich mehr als genug. Warum ist die Miete so niedrig?“

„Weil Herr – äh – Dalberg sicher gehen will, dass Sie nach Ablauf der sechs Monate wirklich wieder ausziehen. Das müssten Sie dann bitte durch Ihre Unterschrift bestätigen. Hier unten, sehen Sie? Wo das Kreuz ist.“

Gott, hielt diese Frau sie denn für eine völlige Idiotin?

Das Haus war absolut nicht Sissis Geschmack; langfristig schwebte ihr eher eine Dachwohnung mit großem Balkon vor, aber so lange sie so etwas nicht fand, konnte sie genauso gut in diesem Dreißigerjahre-Bau unterschlüpfen. Immerhin war die Lage – fast direkt am Waldburgplatz – recht günstig: kurze Wege zur Arbeit und schön weit weg von der Gegend, in der sie mit Hubert gewohnt hatte. „Frau Hassfurter?“

„Was? Ach so, ja.“ Sie unterschrieb hastig und füllte eine Überweisung für Kaution, Provision und die erste Monatsmiete aus.

„Der Vermieter hat ja einen etwas eigenartigen Geschmack“, stellte sie dann fest und betrachtete die Geweihe, die die Wände im Flur zierten.

„Ich glaube, das ist nicht sein Geschmack, sondern noch der des Vorbesitzers. Herr Dalberg hat das Haus erst vor kurzem gekauft, so weit ich weiß. Eigentlich wollte er es selbst bewohnen.“ Ja, und dann war ihm diese Reise nach Amerika dazwischen gekommen. Sissi kam so etwas Spannendes leider nie dazwischen, obwohl ihr Leben zurzeit auch nicht gerade in Routine erstarrt war.

Das Haus verfügte unten über drei Zimmer, eine Küche, ein Gästebad und den jagdhüttenartigen Flur. Alles etwas penetrant in dunkel gebeizter Eiche getäfelt, scheußlich. Oben gab es vier weitere Zimmer, zwei Bäder, einen großen Balkon und darüber noch einen Speicher, den sie sich lieber gar nicht ansehen wollte.

Der Keller dagegen war spannend – er verfügte noch über einen echten Luftschutzraum mit Eisentüren und eisernen Fensterläden, ausgestattet mit weißlackierten Möbeln, die wohl ehemals zum Dienstmädchenzimmer gehört hatten. Außerdem gab es eine gewaltige Ölheizung, eine Vorratskammer und eine Art Hobbyraum, vollgestopft mit Kästchen und Döschen, als hätte hier jemand jahrelang Verpackungen gehortet. Offenbar hatte der Vermieter das Haus samt (schrottreifem) Inventar gekauft. Der würde noch viel Spaß beim Aufräumen haben, wenn er aus wo-auch-immer in den USA zurück war.

Was ging es sie an? Sie kannte den Kerl ja nicht einmal, aber wenn er dieses Haus freiwillig gekauft hatte, war er zumindest seltsam. Ob das jemand auch von ihr sagen würde, wenn er sah, was sie da – fast – freiwillig gemietet hatte? Ach, wer sollte das schon sehen? Die meisten Freunde waren ja doch bei Hubert geblieben. Wenn schon, auf solche Freunde konnte sie auch verzichten!

Sicher, Nadine war noch ihre Freundin, aber die hielt aus Prinzip zur Frau, egal, was zwischen beiden vorgefallen war. So schmeichelhaft war das also auch nicht. Außerdem war Nadine mit ihrem ewigen Gejammer auch nicht unbedingt eine aufmunternde Gesellschaft.

Das Haus war wirklich seltsam, aber für ein lumpiges halbes Jahr würde es schon gehen. Sie hatte nicht vor, mehr als Küche, Wohnzimmer und Arbeitszimmer im Erdgeschoss und Schlafzimmer und ein Bad im ersten Stock zu nutzen. Den Rest sollte dieser Dalberg von ihr aus ruhig abschließen.

Als sie das der Maklerin mitteilte, fuhr die regelrecht zusammen. „Aber Herr Dalberg ist doch längst weg! Der muss schon in Kalifornien sein!“

„Okay, dann schließen Sie eben ab und nehmen die Schlüssel in Verwahrung. Oder was immer Sie für richtig halten. Apropos Schlüssel... wann kann ich einziehen?“

„Sofort, wenn Sie wollen. Hier, zwei Sätze Hausschlüssel. Der kleine ist für die Garage – ach nein, da steht ja Herrn Dalbergs Auto... was machen wir denn da? Das haben wir mit ihm gar nicht geregelt! Das ist mir jetzt aber peinlich.“

„Mein Gott, dann parke ich eben vor der Garage! Wenn er nicht da ist, kann er ja auch kaum da raus wollen, oder?“

„Sehr gute Lösung, Frau Hassfurter! Ja, und dieser Schlüssel hier passt für den Briefkasten. Sie müssten bloß noch ein Namensschild...“ Als sie den ironischen Blick bemerkte, verstummte sie verzagt.

Das war ihr erster eigener Abschluss, und dann musste sie gleich an diese ungeduldige und sarkastische Kundin geraten. Sah nicht schlecht aus, die Frau, aber sie wirkte irgendwie streng und verbittert. Geschieden, vermutlich, dachte die junge Maklerin und erinnerte sich zufrieden an ihren eigenen Freund, mit dem sie ihr Leben lang zusammenbleiben würde. Garantiert! Aber diese Frau Hassfurter – die hatte etwas Unglückliches an sich, fand sie. Ziemlich jung noch, vielleicht dreißig, und eigentlich ganz schick, aber irgendwie frustriert... Ach, was ging es sie an.

Sissi streckte ungeduldig die Hand aus, bis die Maklerin die beiden Schlüsselsätze hineinfallen ließ. „Ich kann also gleich meine Sachen holen? Na prima. Bevor ich es vergesse – gibt es im Erdgeschoss einen Telefonanschluss? Auch fürs Internet?“ Das gab der Maklerin den Rest; sie stammelte Verwirrtes und Sissi seufzte. „Vergessen Sie´s, ich krieg das auch noch selber raus.“

Eigentlich fand sie das Haus blöd, aber so viele möblierte Behausungen mit drei Zimmern in annehmbarer Gegend gab es eben nicht. Sicher waren die Möbel auch scheußlich, aber Sissi hatte absolut keine Lust, sich für die paar Monate auch noch Möbel zu kaufen. Ja, wenn sie erst einmal die ideale Wohnung gefunden hatte, dann... Einbauschränke, Maßarbeit, richtig perfekte Stücke. Aber jetzt lohnte sich das absolut nicht. Einen kleinen Moment lang trauerte sie ihrer kleinen Empirekommode nach, die immer noch bei Hubert stand. Na, der würde schon einen Grund finden, warum sie eigentlich ihm zustand! Und sich darum streiten – wirklich nicht! Das war unter ihrem Niveau.

Die Maklerin sah sie erwartungsvoll an. „Ja, ich denke, dann sind wir hier fertig, nicht? Vielen Dank auch, Frau – äh -“

„Schneider“, half die Maklerin eifrig aus und errötete. Sissi lächelte nachsichtig. „- Frau Schneider. Ja, entschuldigen Sie bitte. Wenn es noch Fragen geben sollte – haben Sie eine Karte?“

Sie verwahrte das Kärtchen sorgfältig in ihrem Terminplaner und reichte Frau Schneider höflich die Hand. „Dann auf Wiedersehen!“

Sie sah Frau Schneider nach, die durch den Schneematsch im Keplerweg davonstakste und schließlich ihren silbernen Ford Ka aufsperrte. Dann seufzte sie tief auf und betrachtete etwas zweifelnd ihre Neuerwerbung. Depressionen konnte man hier kriegen! Und das auch noch im Spätherbst... Der Garten stand voller großer, kahler Bäume, die sogar unbelaubt noch Düsternis verbreiteten, und warum jemand das Haus in diesem trüben Graubraun hatte verputzen lassen, mochten die Götter wissen. Kein Geschmack? Farbenblind? Freudloser Charakter? Oder der Dreck der letzten siebzig Jahre?

Sie zuckte die Achseln und ging hinein, um wenigstens im Wohnzimmer die Heizung hochzudrehen und in der Küche den Kühlschrank einzuschalten.

3

Es war ihr, sobald sie die Kiste, zwei Koffer, die Reisetasche und diverse Plastiktüten im Auto verstaut hatte, ein besonderes Vergnügen, das Zimmer im Appartementhotel zu kündigen – saftige Preise für ein winziges Kabuff und so gut wie keinen Service, nicht einmal der Fernseher ging richtig, und frische Handtücher hatte es nur einmal die Woche gegeben. Von wirklich heißem Wasser in der Dusche, dichten Fenstern und anständigen Matratzen wollte Sissi ja gar nicht reden. Das pampige Mädchen an der Rezeption fertigte gelangweilt die Rechnung aus. „Hatten Sie was aus der Minibar?“

 

„Natürlich nicht – bei den Preisen! Und bevor Sie fragen, ich hatte auch den Pornovideoservice nicht. Und kein Essen aufs Zimmer.“

„Das sehe ich selbst.“

Der Drucker begann zu surren und spuckte ein Blatt aus. Sissi schob ihre Kreditkarte über den Tresen und ließ gelangweilt ihren Blick über die Brieffächer und die Schlüssel wandern. Ach ja, ihren musste sie auch noch abgeben – der sperrige Holzanhänger beulte ihr ohnehin die Hosentasche aus.

Sie unterschrieb den Beleg – rausgeschmissenes Geld, leider! – und schob das Original samt Schlüssel über den Tresen; dafür erhielt sie den gelben Durchschlag und ihre Karte zurück.

„Viel Spaß hier noch“, wünschte sie dann und schwang sich die voll gestopfte Umhängetasche über die Schulter, bevor sie lässig durch die quietschende Drehtür entschwand. Klasse – eine halbe Stunde vor der Tür geparkt, und schon ein Strafzettel! Blödes Kaff, dachte Sissi, als sie das feuchte Formular unter dem Scheibenwischer hervorklaubte, nichts klappt hier, aber die Politessen sind fleißig. Wahrscheinlich war die Stadt so pleite, dass sie von den Strafzetteln leben musste. Wenn man sich das feiste Gesicht des Ersten Bürgermeisters ansah... und das hungrige des Zweiten – ein richtiges Ganovenpärchen, Filz, Amigos, was man nur wollte. Seufzend stieg sie ein und ließ den Motor an. Auf in eine anständige Behausung! Anständig? Naja!

Gott sei Dank musste – nein, durfte! – sie morgen wieder arbeiten.

Der heutige Tag würde komplett für Haushaltslästigkeiten draufgehen, aber morgen – sie freute sich schon wieder auf ihr elegantes Büro, auf die sachlichen, zurückhaltenden Kollegen, die ihr nicht einmal zur Scheidung kondoliert hatten, das Designerfood in der Mittagspause, die weißen Wände ganz ohne Hirschgeweihe...

Sie seufzte wieder und bog in Richtung Waldburgviertel ab. Hoffentlich wohnten im Keplerweg nicht zu viele lästige Leute! Auf Kontakte mit den Nachbarn legte sie keinen übertriebenen Wert. Absolute Horrorvorstellung: Wir machen jetzt alle zusammen ein Straßenfest, damit wir uns mal so richtig kennen lernen. Dann lieber zurück in ein Appartementhotel – aber ein besseres.

Der Keplerweg war menschenleer, sehr gut. Sissi fuhr den Wagen in die Einfahrt und parkte so, dass die geöffnete Heckklappe genau neben der Haustür war, dann trug sie in Windeseile ihr ganzes Gepäck hinein, knallte die Heckklappe wieder zu, betätigte die Fernbedienung und schloss die Haustür hinter sich. So, was jetzt?

Mutlos betrachtete sie den Kram. In jedem Behältnis herrschte Durcheinander, weil sie so hastig gepackt hatte, also konnte sie nicht einmal entscheiden, was nach oben gehörte und was nicht. Nur eins war klar: Die Knoblauchpresse und die Thermoskanne gehörten in die Küche, mehr Küchenkram besaß sie gar nicht.

Alles bei Hubert, sollte er doch damit glücklich werden...

Schließlich raffte sie sich auf und zog den Reißverschluss der ersten Tasche auf. Aha, Bettwäsche, eine Handvoll Bücher, ein halbvolles Duschgel, eine Plastiktüte mit Schreibtischkram, Socken, zwei Paar Schuhe, ein zusammengerollter Schal, eine Handtasche...

Sie verteilte den entsprechenden Kram im unteren Stockwerk und schleppte die Reste nach oben. Das vordere Schlafzimmer hatte wenigstens ein anständiges Bett mit harter Matratze, und darauf lagen sogar eine etwas muffige Daunendecke und ein fleckiges Kissen. Hatte die Maklerin nicht was von Waschküche gesagt?

Im Keller fand sich nichts dergleichen. Sissi sah sich ratlos um. Das gab´s doch gar nicht – ein Luftschutzraum war da, aber keine Waschküche?

In der Küche, die weniger historisch, eher funktional wirkte (weißes Resopal allenthalben), entdeckte sie schließlich in der Ecke eine Waschmaschine und einen Trockner. Zweifelnd betrachtete sie sich die Geräte. Ob die wohl noch funktionierten? Lief das Wasser überhaupt noch?

Doch, der Hahn am Spülbecken funktionierte. Vielleicht sollte sie mal Waschpulver einkaufen. Und etwas zu essen? Ihr Magen knurrte jedenfalls vernehmlich, und anders als bei diesem grässlichen Appartementhotel gab es hier auch keinen MacDonald´s schräg gegenüber.

Sie schloss das Haus sorgfältig ab und fuhr einige Zeit durch die Gegend, bis sie einen Supermarkt entdeckte. Eher klein, aber er bot das Nötigste an. Mit einer Tüte voller Lebensmittel, Waschpulverkissen, Raumparfum gegen den muffig-unbewohnten Geruch im Haus, einem Universalputzmittel und einer Packung Vliestücher kam sie wieder nach Hause – eine Flasche Scotch hatte sie sich mühsam verkniffen. Zum Saufen war jetzt keine Zeit, auch wenn sie es sich bestimmt verdient hätte!

Sie breitete alles in der Küche aus, schichtete Wurst, Käse, Eier und Butter in den Kühlschrank, stopfte das unappetitliche Kopfkissen mit einem Gelkissen in die Waschmaschine und hoffte das Beste. Als die Maschine trocken zu laufen begann, drehte sie hastig den kleinen Hahn dahinter auf. Na endlich!

Bis sie das Kissen nass und zusammengefallen aus der Maschine nehmen und in den Trockner stopfen konnte, hatte sie immerhin schon ihre Kleider aufgehängt, das Bad einigermaßen eingerichtet (wenigstens hatte sie bei ihrem hastigen Auszug einige anständige Handtücher an Hubert vorbeigeschmuggelt), ihren Rechner im Arbeitszimmer aufgebaut und sich bei ihrem Provider umgemeldet. Das war ohnehin das Allerwichtigste.

Mittlerweile hatte sie schon wieder keine Lust mehr. Mit letzter Kraft raffte sie sich auf, suchte einige Teller, Gläser, Töpfe und etwas Besteck aus den verstaubten Schränken zusammen und füllte die Spülmaschine damit.

Früher Nachmittag: Jetzt könnte eine interessante Sitzung sein, und stattdessen versuchte sie, dieses vergammelte Haus bewohnbar zu machen!

Immerhin wurde das Kissen im Trockner nahezu perfekt – dick, weich und wohl duftend, von den Flecken war fast nichts mehr zu sehen. Sie bezog ihr Bett, widerstand der Versuchung, einfach hineinzufallen, und wischte stattdessen mit einem der neuen Lappen über alle Flächen im Schlafzimmer. Schlafen und duschen konnte man hier schon, zur Not wenigstens. Und sich anziehen.

Essen auch, wenn sie daran gedacht hätte, die Spülmaschine einzuschalten. Und sich frei bewegen, wenn die Behältnisse nicht immer noch halb gefüllt als Stolperfalle im Flur gestanden hätten. Nein, jetzt reichte es trotzdem erstmal!

4

Wie Hubert es geschafft hatte, diese Blitzscheidung durchzuziehen, war ihr immer noch ein Rätsel, überlegte sie, als sie langsam durch die Straßen ihrer vorübergehenden Heimat schlenderte und den teils skurrilen, teils prachtvollen Villen links und rechts kaum einen Blick gönnte.

Andererseits hatte sie nach seinen Worten auch keinen Grund mehr gesehen, die Sache irgendwie hinauszuzögern. Sie war so schnell wie möglich ausgezogen und hatte nur das Nötigste mitgenommen - was brauchte man außer den Kreditkarten, dem Handy und dem Rechner schon groß? Vielleicht noch Souvenirs an diese misslungene Ehe? Ganz bestimmt nicht! Danach hatte sie sich im Appartement-Hotel verkrochen. Ihre Anwältin hatte zwar pausenlos den Kopf geschüttelt, aber bei Gütertrennung gab es nicht viel zu regeln, und sie hatte ja einen gut bezahlten Job und ihr eigenes Vermögen.

„Warum wehren Sie sich nicht?“, hatte sie dauernd gefragt und nie verstanden, dass man einen Kerl, gegen den man sich wehren musste, gar nicht mehr haben wollte. Eine Ehe, um die man kämpfen musste, war es nicht wert. Ihre Mutter hatte das – stundenlang in den Hörer zeternd – natürlich anders gesehen, aber das war Sissi völlig egal. Sollte Hubert doch seinen Kumpel Frajo heiraten, wenn er dem mehr vertraute als ihr! Was ging es sie noch an?

Die Scheidung war durch, ihren Kram konnte er von ihr aus behalten (oder doch nicht, so oft, wie sie darüber nachdachte? Lieber nicht zu genau die eigenen Gefühle erforschen!), und sie würde sich wieder etwas Eigenes aufbauen. Drei vergeudete Jahre.

Oder doch nicht, jetzt wusste sie wenigstens, was von Männern zu halten war, die insgeheim Frauen gar nicht mochten. Ja, dafür schon, aber ihnen nicht trauten. Immerhin war sie jetzt zweiunddreißig, geschieden, solo und ohne Zuhause. Das Hirschgeweihmuseum war nur ein besserer Unterschlupf, kein Zuhause. Außerdem konnte man sich in sechs Monaten kaum irgendwo einleben. Sissi schlurfte weiter vor sich hin, kickte eine schon etwas beschädigte Kastanie vor sich her und versuchte, nicht an Hubert zu denken.

Verdammt, so schwer würde es ja wohl nicht sein, einen Besseren zu finden. Die Welt musste voller Männer sein, die besser waren als Hubert, er war schließlich nicht mehr zu unterbieten.

Außerdem war das nicht unbedingt eilig, beschloss sie energisch. Erst einmal würde sie sich in die Arbeit stürzen, sich, wenn es so weit war, eine richtig schöne Wohnung einrichten, und dann ganz langsam, nach einer angemessenen Erholungspause, das Angebot sichten.

Nur keine unnötige Hast!

Jedenfalls hatte sie von Männern erst einmal die Nase gestrichen voll. Es gab schließlich andere Hobbys, stellte sie fest, als sie merkte, dass ihr Spaziergang sie ins Univiertel geführt hatte und sie vor einem großen Drogeriemarkt stand.

Zweiunddreißig – so jung war das auch nicht mehr. Intensive Pflege war angesagt! Und in diesem Drogeriemarkt gab es die verlockendsten Sächelchen, Cremes mit geheimnisvollen Zusätzen (sicher frei erfunden), die die Hautalterung hemmten, Zahncremes, die Zähne weiß und kräftig machten, Badezusätze, die entspannten und anregten (wenn auch wohl nicht gleichzeitig), schöne Kerzen im Kombipack mit Wellness-Musik: warum nicht? Für stille Abende im Jagdmuseum? Vitamine für und gegen alles und jedes, Nagellack in den unglaublichsten Farben, jede Menge Neuerscheinungen auf dem Parfumsektor, allerdings rochen sie alle ähnlich, nach einer Mischung aus Pfirsich und Moschus. Angewidert wischte Sissi sich den Handrücken an den Jeans ab.

Nussmischungen, streng ökologisch korrekt, und – ha! – die Ökogummibärchen aus reinem Kirschsaft.

Sissi lud sich den Wagen voll, nahm noch einige Duftsäckchen für die Wäsche mit (der Kleiderschrank hatte einen leicht stockigen Geruch verströmt) und rollte sehr befriedigt zur Kasse. Jetzt noch eine Buchhandlung und dann gebadet, eingecremt und wohl duftend früh ins Bett und nett geschmökert.

Wozu eine Buchhandlung? An der Kasse stand ein Drehständer mit Taschenbüchern. Zwischen all den Wie-ich-Mann-und-Kinder-durch-eine-heimtückische-Krankheit-verlor-und-trotzdem-meinen-Lebensmut-behielt-Schinken fanden sich einige Fantasyromane und glücklicherweise auch ein verirrter Krimi von Boris Akunin, den sie noch gar nicht kannte. Tod des Achilles... sehr viel versprechend! In den Wagen damit!