Die Wiedergutwerdung der Deutschen

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Countdown im Feuilleton

I.

So wenig die Deutschen den Juden Auschwitz verzeihen, so sehr tragen sie auch den ehemaligen Alliierten nach, dass damit 1945 Schluss war. Die Befreiung, die sie Amerikanern und Russen nicht vergeben und nun auch den Engländern übel nehmen, war ja auch nur eine für die Insassen von Lagern und Gefängnissen gewesen. Die anderen, die diese betrieben oder die Welt in Schutt und Asche legten, wurden militärisch besiegt; sie wurden gegen ihr Einverständnis und mit Gewalt allenfalls davon befreit, ihren Massenmord bis zur Selbstvernichtung fort­zusetzen. Nur durch ihre Niederlage blieben sie am Leben.

Für diesen nachgerade sträflich kurzen Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht rächen sich seitdem die Deutschen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie ein halbes Jahrhundert später als Gewinner dastehen, dass sich das Verbrechen auf lange Sicht doch ausgezahlt hat, kann ihre Rachsucht besänftigen. Der Sieg über den Bolschewismus ist ihnen in den Schoß gefallen: der Gegner kapitulierte vor Devisen, nicht vor Divisionen. Das Land ist wiedervereinigt, und was ihm damals im Osten abgetrennt worden war, haben sich die Bundesbürger in doppeltem Umfang in Westeuropa zusammengekauft. Außerdem liegt Schlesien wie Ostpreußen jetzt nicht als Irredenta, sondern als Immobilie vor der Haustür. Die bis zur Wiederherstellung der vollen Souveränität als Besatzungsmacht ungelittenen Amerikaner räumen das Land, der Dollar geht in die Knie und das britische Pfund ist angeknackst. Doch all dies reicht nicht aus, die mühsam gezähmte Wut in Gelassenheit aufzulösen, jenen bösen Groll, der gerade immer dann besonders stark wird, wenn die ehemaligen Sieger schwach werden. Den Deutschen genügt es nicht, Modell für Europa zu stehen, sie wollen einen Platz an der Sonne. Sie wollen im Licht stehen und tappen immer nur wieder in dem Schatten herum, den sie selber werfen. Sie wollen über den Gewinn hinaus einen Extraprofit erzielen, der nicht aus der Kapital-, sondern aus der Geschichtsverwertung resultieren soll. Sie wollen das heilige Sakrament der Absolution.

Auf diesen ganz besonderen Surplus, der nicht bilanzierbar ist, verschwendete ein normaler Geschäftsmann keinen Gedanken. Aber deutsche Unternehmer, in der Geschichte der europäischen Bourgeoisie immer deren cleverste Abteilung, nämlich feige und erfolgreich zugleich, möchten mit der Mehrheit der Bevölkerung auf diesen Bonus zuallerletzt verzichten. Mit seiner Erklärung, dass angesichts der Wiedervereinigung wirtschaftliche Überlegungen hinter der Politik zurückzutreten hätten, sprach sich 1990 Mercedes-Chef Edzard Reuter freilich nicht für eine Unterordnung des Kapitals unter den Staat aus, er plädierte damit auch nicht für die Abdankung des Privateigentums, sondern er ratifizierte das Ende der »Berechenbarkeit der deutschen Politik«.

Mit dieser Formel hatte die Außenpolitik jahrelang versucht, Befürchtungen zu zerstreuen, die Deutschen seien weniger am Export von Waren interessiert als an der Ausfuhr von politischer Wertarbeit mit dem trade-mark »Modell Deutschland«. Wie nach innen, so bedeutet auch nach außen die Bereitschaft zur Unterordnung unter die Politik in Wahrheit bloß Kumpanei. Nach innen heißt diese Bereitschaft Solidarpakt, nach außen Deutschland, nach innen Gemeinschaftswerk, nach außen Nation. Da der historische Sieg nach Pleite schmeckt, sollen in erinnernder Vorausschau die Verwertungsinteressen in staatliche Regie übernommen werden, ohne dass jene angetas­tet würden. Die Massen, die sich nach innen zur Gefolgschaft formieren, gehen diesen Solidarpakt, die korporative Fortsetzung der beliebten Runden Tische, schon im Bewusstsein ein, dass sie sich nur an jenen Surplus halten können, nach dem es alle verlangt. Davon können sie sich zwar nichts kaufen, doch dafür fühlen sie sich als Deutsche. Und weil sie nichts davon haben, sollen es andere dann büßen. Nach innen geht es gegen die Ausländer, nach draußen gegen das Ausland.

II.

Der Zweite Weltkrieg ist nachträglich zu Lande gewonnen, hat aber nichts außer einer riesigen Immobilienmes­se gebracht. Diese ist bewohnt mit zahlungsunfähigen Kunden, die man weder umstandslos in ein Heer von Arbeitssklaven verwandeln, noch einfach beseitigen, ja nicht einmal draußen halten kann. Um diesen Gewinn, dessen keiner der Landsleute so richtig froh wurde, wenigstens spirituell zu veredeln, machten sich nach den Historikern die Ingenieure fürs Höhere, die Feuilletonis­ten, ans Werk. Wenn nicht auf Erden, so sollte wenigs­tens über den Wolken das geschichtliche Glück der Deutschen grenzenlos sein: der Endsieg im Luftkrieg musste also noch errungen werden. Der Countdown für diesen Luftkampf begann im Frühjahr 1992 mit einer journalistischen Bastelstunde zur jüngeren deutschen Geschichte und endete im Herbst mit einem Fehlstart in Peenemünde. Glücklicherweise kam bei diesem Versuch, die V-2 im Unterschied zur nazistischen Propagandalüge nun wirklich zu einer Vergeltungswaffe fortzuentwickeln, niemand zu Schaden, außer jenen Bastlern, die ihn anderen zufügen wollten.

Ende Mai wurde in London ein Denkmal für den britischen Luftwaffengeneral Harris errichtet, und prompt saß, wie Tucholsky einmal die Reaktion seiner Landsleute auf politische Witze charakterisierte, halb Deutschland auf dem Sofa und nahm übel. Die Oberbürgermeis­ter mehrerer im Zweiten Weltkrieg bombardierter Städte schrieben Protestbriefe nach England. Die notorischen Mahnwachen, die schon während des Golfkriegs mit der Parallele von Dresden und Bagdad Erfahrungen an der Entlastungsfront gesammelt hatten, nahmen ihren Ehrendienst an der Leidensfront der deutschen Geschichte wieder auf. Und schließlich trat sogar das Außenministerium auf den Plan. Genscher ließ die britische Regierung wissen: »Das Vorhaben ist geeignet, alte Wunden aufzureißen. Es könnte zu einem Rückschlag für die in deutsch-englischer Städtepartnerschaft geleistete Arbeit führen.«

Mit dieser Drohung machte das Land der Kaiser-Wilhelm-Plätze und Rommel-Kasernen ernst: ab sofort wurde zurückgedacht. Der Spiegel schrieb, Harris habe den »ersten vornuklearen Massenmord aus der Luft« organisiert; die Welt war sich mit ihren Lesern einig, der britische General sei ein »Architekt der Vernichtung« gewesen, und die Frankfurter Rundschau entdeckte an dem Weltkriegsgeneral der britischen Luftwaffe einen Charakterzug, den man nun wirklich keinem KZ-Kom­mandanten nachsagen konnte: »tatsächlich ein Schlächter« gewesen zu sein. Die FAZ, deren Mitherausgeber Reißmüller wegen des Bodenkriegs an der serbischen Ostfront unabkömmlich war, ließ den Redakteur Gillessen als Abfangjäger in den westlichen Luftraum aufsteigen. Von seinem Einsatz kehrte dieser mit dem Verdikt »Harrisbarbarei« und einer Ehrenrettung für die Nazi-Luftwaffe zurück. Diese habe im Gegensatz zur Royal Air Force nicht die Vorstellung geteilt, »ersatzweise oder direkt Krieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen«. Guernica, Rotterdam, Coventry und Belgrad »resultierten aus Fehlern«, meldete er seinen diensthabenden Vorgesetzten, blieb aber die Auskunft darüber schuldig, ob die damals Verantwortlichen dieser bedauerlichen Pannen deshalb vor ein Kriegsgericht gestellt oder gerade deshalb ausgezeichnet wurden.

III.

Kein Luftkrieg kann erfolgreich geführt werden, wenn der Gegner nicht mit einer schlagkräftigen, am Boden stationierten Flugabwehr rechnen muss. In dieser Bodentruppe tat sich durch besonderen Einsatzeifer Günther Rühle vom Berliner Tagesspiegel hervor. Er ist nachgerade der verdiente Flakhelfer des deutschen Feuilletons. Rühle musste sich in diesem Kampf bewähren und für eine von der Öffentlichkeit fast vergessene Niederlage rehabilitieren, die er an einem anderen Frontabschnitt vor Jahren hatte einstecken müssen.

Mitte der 80er Jahre hatte er erfolgreich das Frankfurter Schauspiel in Verruf gebracht mit der Penetranz, mit der er als Theaterdirektor darauf bestand, ein Stück von Fassbinder gegen die Proteste vornehmlich von Juden aufzuführen. Noch als Feuilletonchef der FAZ hatte er dieses Stück für belanglos gehalten, als Theaterleiter dünkte es ihn dann genialisch. Die Absichten, die er mit der Aufführung verband, zitierte damals die New Times mit dem Ausspruch: »The no-hunting, season is over« – ein Wort Rühles, das man nur bei Strafe einer einstweiligen Verfügung korrekt in den deutschen Originalton rückübersetzen darf.

Fassbinders damals nicht aufgeführtes Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« markierte indes tatsächlich das damals von vielen geforderte »Ende der Schonzeit« für Juden in Deutschland. Es spielte seinerzeit die Rolle eines Katalysators, der die Theateraffäre zum kulturellen Wiederholungsprogramm von Bitburg machte. Der Thea­terdirektor Rühle gab den Kanzler und hielt durch, und die Presse verbat sich jüdische Einmischungen. Damit erlebte Fassbinders wüste Hinterlassenschaft eine Aufführung ganz im Stil des Experimentiertheaters: die Hauptdarsteller saßen im Publikum und exemplifizierten die nur scheinbar paradoxe Einsicht, die Fassbinders Stück durchzieht, dass nämlich die Deutschen heute Antisemiten seien nicht trotz, sondern wegen Auschwitz.

Prompt wurde damals, wie etwa in der liberalen Frank­furter Rundschau, der nazistische Terminus vom »jüdischen Kapital« rehabilitiert; der Theaterkritiker der Zeitung sah das deutsche Theater von einer jüdischen Finanzverschwörung bedroht und sich ganz persönlich von den Juden erniedrigt. Die von allen beschworene Freiheit der Kunst entpuppte sich als die Pflicht, die deutsche Ehre zu verteidigen, und als hätte jemand die Parole ausgegeben: »Deutsche wehrt euch, hört nicht auf Juden!« beteiligte sich damals auch die Szene am Abwehrkampf gegen »jüdische Power« und gegen »organisierte jüdische Empörung«.

 

Rühle musste damals das Feld räumen. Beim Berliner Tagesspiegel ist er heute als Berater der Chefredaktion sein eigener Bewährungshelfer, und wie weiland an seinem Frankfurter Arbeitsplatz versucht er nun, die durch seine Mitarbeit schon demontierte Reputation des Blattes mit wöchentlichen Kolumnen im Feuilleton vollends zu ruinieren. »Das war nun wirklich eine deutsche Woche. Drinnen und draußen«, resümierte er Anfang Oktober. »Die Frage ›Was ist mit den Deutschen los?‹ beschäftigte manches Gehirn. Die seit zwei Jahren lauernde Angst vor dem neuen Deutschland schnürte sich wieder zum Paket; Verursacher von Ausländerfeindlichkeit, Aggressionen gegen jüdische Denkmale, D-Mark-Politik mit Lira- und Pfundsturz, ›V2‹-Jubiläum: das gab draußen Anlass genug, das Auge zu schärfen, die Stimme zu erheben, Schlagzeilen von Rom bis London zu erfinden, wie sie im zusammenrückenden Europa unerhört sein sollten.«

Doch seine deutsche Woche hatte neben geschnürten Angstpaketen »freilich auch sichtbare Festigkeiten« im Angebot: die »sachbeglänzte Zustimmung« zur Politik des Kanzlers. Derlei politische Kommentare wurden verfrüht mit dem Spott von Kollegen belegt, der Autor verabreiche damit seiner Zeitung die »letzte Rühlung«. Denn der Tagesspiegel hatte auch schon andere Anschläge des tapferen Schreiberleins überlebt, das oft mit einer Spalte gleich sieben Themen erledigt.

»Die Brandherde der Unvernunft sind auch in Europa nur schwer zu löschen«, sprang er einmal nach einigen Zeilen über die Hitzewelle, das Ozonloch und die Aktualität von Dinosauriern mitten in den jugoslawischen Bürgerkrieg: »Die Bilder der Verwüstung schrien weiter zum Himmel, die entsetzten, fliehenden Menschen verlängerten das uralte Bild von der Flucht als Daseinsverhängnis in die aufklärungsfähige Zeit« – womit er wieder im Einzugsgebiet des deutschen Feuilletons angekommen war: »Salzburg 1992: die gelebte Utopie neben dem Blutbad.« Derlei Sprünge von Abel bis Bebel werden in der Psycholinguistik neuerdings als »laterales Denken« bezeichnet. Früher nannte man das einfach wirres Gefasel. Von der »gelebten Utopie« in Salzburg bis zur gelebten Idiotie in einer Berliner Tageszeitung, so wußte man nun, war es nur ein kleiner Schritt.

»Diese Ehrung ist ein Faustschlag für Deutschland«, schrieb angelegentlich der Denkmalenthüllung in London ein empörter Tagesspiegel-Leser an seine Zeitung und forderte Revanche. Mit seiner Kolumne schlug Rühle zurück. Hier und jetzt konnte er an den nichtjüdischen Alliierten ausleben, was ihm an den nichtalliierten Juden seinerzeit versagt geblieben war. Damals musste er zurücktreten, nun trat er ersatzweise gegen die Briten zurück. Nach sieben mageren Jahren konnte er endlich das Ende der Schonkost verkünden: »Die Einweihung des Denkmals für den englischen Luftmarschall, genannt Bomber-Harris, hat in Deutschland doch mehr Emotionen hervorgerufen, als zu erwarten war. Die Wunden schmerzen auch noch nach zwei Generationen«, begann Rühle seinen Beitrag zum Denkmalsturm. Doch insgeheim schmerzte ihn nach zwei Generationen nicht diese Statue in London, sondern ein anderes und viel älteres Monument, ein bleibendes cineastisches Denkmal, das ein jüdischer Regisseur in Hollywood für die Deutschen errichtet hatte. Das Gangsternamen nachgebildete »Bomber-Har­ris«, wie er den Luftwaffengeneral beharrlich nannte, war Rühles auf England verschobene Rache an Lubitsch, in dessen »To be or not to be« ein Nazi sich vor Freude über die Auszeichnung »Konzentrationslager-Erhardt« gar nicht mehr einkriegen kann.

Rühle warf den Engländern nicht vor, wie sie sich an den militärischen Sieg über den Nationalsozialismus, sondern dass sie sich erinnerten: »Wer es nötig hat, noch Siege zu feiern, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen und schon einer anderen Welt zugehören, offenbart einen stillgestandenen Geist.« Mit wachem Geist freilich rief er sich dadurch selbst »Stillgestanden!« zu und wurde dem brandenburgischen Sozialdemokraten Gustav Just, einer noch älteren Altlast, zum Verwechseln ähnlich. Dieser hatte mit der Auskunft, er habe in einem »anderen Leben« Juden umgebracht und diese Sache sei ein »alter Hut«, seiner Persönlichkeitsspaltung wie einem kollektiven Bedürfnis knappen Ausdruck verliehen.

Rühle indes war nicht so kurz angebunden. Die feuilletonistische Erscheinungsform der Schizophrenie ist die Geschichtsklitterung, und der Überflieger im Tiefflieger, der Historiker im Stammtischbruder formulierte deshalb so: »Nun steht der Bomber-Harris also da, in Erz gegossen, von der uralten Königinmutter gesegnet, und ist doch viel weniger das Denkmal für einen heldenhaften Mann als ein ständiges Mahnmal dafür, wie der Krieg entartet ist, dass er gentlemanlike nicht mehr zu führen war, dass das blinde Töten auch dieses gesittete Volk ergriff.« Damit war im unsittlichen Geschwätz des Historikerstreits die russisch-deutsch-englische Dreifaltigkeit der Schuld etabliert: die deutschen Verbrechen eine Doublette des asiatischen Originals, die britischen Bombardements eine Kopie der deutschen Vorlage. Und wenn Rühle die Engländer als die Massenmörder unter den Alliierten identifizierte, dann konnte es nicht mehr weit sein, nämlich nur bis zur nächsten Zeile, dass er die Angehörigen des anderen gesitteten Volkes, das im Unterschied zu den Häftlingen in Auschwitz ja unter Bombenangriffen zu leiden hatte, dass er die Deutschen als Opfer von Nachahmungs­tätern sah: »Und die Toten von Köln und Bremen und Berlin und Dresden und Würzburg und Hamburg und Königsberg können nun dem Denkmal noch immer entgegenschreien und auf den Erzgegossenen hin deuten: da steht er, der unsere Höllen entfachte. Ein Denkmal mutiert leicht zum Schandmal.«3

Da haben es die Lebenden leichter. Ein Pfund Unkraut-Ex oder eine Flasche Benzin reichen aus, um Denkmale zu beseitigen, die an die deutschen Verbrechen erinnern und also – wie die von Rühle als »jüdisches Denkmal« apostrophierte KZ-Baracke in Sachsenhausen – zu Schand­malen mutiert sind. Wohl auch wegen dieser Beseitigungswut gegenüber der Erinnerung machte der Londoner Evening Standard den begrüßenswerten Vorschlag, gleich hundert Harris-Statuen aufzustellen – in Deutschland. Sie sollten die Deutschen daran gemahnen, was passieren würde, »wenn sie zum sechsten Mal in zwei Jahrhunderten versuchen sollten, ihre finanzielle und wirtschaftliche Hegemonie über Europa auf einer anderen Ebene durchzusetzen.«

Über die rückwärtsgewandte Feierstunde in London trösteten Rühle dann erst einmal praktische Gesichtspunkte hinweg: »Wo die Zukunft nichts bringt, herrscht die Vergangenheit.« Denn das Pfund ist schwach, und die Zukunft gehört der D-Mark. Doch bei einem so irdischen Verdikt mochte der Flakhelfer des Feuilletons es nicht belassen, sein Sinnen und Trachten war berufsmäßig nach oben gerichtet:

»Stärken und Schwächen wechseln wie Tag und Nacht«, sinnierte er über den unaufhaltsamen Lauf der Welt. Und seinen Aufstieg von der Hölle durch die Welt zum Himmel beschloss er mit einem moralischen Fazit:

… die Fäuste, der Schlag. Als habe sich der Kreis geschlossen.« »Kurzschluss«, verbesserte der Tagesspiegel. »Der Kämpfer geht nun auf den Markt und lamentiert«, ereiferte sich Rühle am 13.8.92 unter der Überschrift »Heyms Klagen«. Sein Kommentar war die Klarstellung eines von Heym sträflich unterschlagenen Unterschieds, des Unterschieds von 1931 und 1992: »In der Heymschen Schilderung des bösen Kölner Vorfalls, der hier weder beschönigt noch entschuldigt werden darf, fehlt schon der Hinweis auf die eigene Provokation«, schrieb Rühle, der damit den 1931 selbstverständlichen Tatbestand der nazistischen Notwehr rehabilitierte. Damals war das Opfer schuldig. Heute gewährt Rühle mildernde Umstände: Heym ist nur Mittäter.

»Die Lehre aus der Sache ist: wer zur unrechten Stunde verklärt wird, verdunkelt die Welt.« In sie brachte Rühle Licht, indem er den Tommies heimleuchtete: »Das Denk­mal in London wird manchem die Scham hochtreiben über das, was einmal möglich war – wie in unserem Land die Mahnmale von Dachau und Buchenwald. Die kurze Stunde des Triumphs schlägt schnell um in die Ewigkeit der Schuld.« Damit war den Engländern die Waffenbrüderschaft der SS angeboten – und Rühle zum Rächer der Vergangenheit geworden, indem er sie beerbte.

IV.

Doch alle Einwände, die das deutsche Feuilleton gegen die Royal Air Force abfeuerte, gingen daneben, und die Lage auf dem deutsch-britischen Kriegsschauplatz verschlechterte sich zusehends, als ein Namensvetter des Luftwaffengenerals sich einmischte.

Der britische Journalist Robert Harris, der sich in seinem Roman »Fatherland« die Frage gestellt hatte, wie Europa aussähe, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, suchte einen Verleger in Deutschland. Fünfundzwanzig Verleger winkten ab, das Werk sei »frivol« und vor allem »deutschfeindlich«. Sofort eilte der deutsche Botschafter in London, der namensmäßig ebenfalls vom Luftkrieg gezeichnete Hermann Freiherr von Richthofen, in die Chefredaktion der Sunday Times und drohte, wie zuvor Genscher, die deutsch-englische Freundschaft werde be­lastet.

Den Kampf gegen Harris, der mit einer deutschen Übersetzung als Franktireur hinter den feindlichen Linien operieren wollte, übernahm dieses Mal der Spiegel. »Deutschfeindlich« sei die Stimmung, für die der Thriller geschrieben sei, die Werbung für das Buch habe einen deutlichen »deutschfeindlichen Anstrich«. Virtuos appelliere Harris »an die Ängste und Ressentiments des angelsächsischen Publikums«. Und was unter Ressentiment in Deutschland verstanden wird, erläuterte der Spiegel im gleichen Atemzug mit einem Zitat von Harris: »Zum ersten Mal seit fünfzig Jahren beachtet ganz Europa ängstlich die Entscheidungen eines deutschen Kanzlers.« Deutschfeindlich ist, wer den Deutschen auf die Pfoten schaut, und wer sie einmal daran hinderte, weiter damit Millionen umzubringen, ein Massenmörder.4

Doch auch die Abwehr des Spiegel konnte nicht verhindern, dass der britische Autor schließlich mit einer Über­setzung bei einem deutschsprachigen Verlag, wenn auch in der neutralen Schweiz, landete. Der Luftkrieg schien zum zweiten Mal verloren. Jetzt konnte wieder nur noch die Wunderwaffe helfen. Ihr Einsatz war für den 3. Oktober, den »Tag der deutschen Einheit« geplant. Die Hoffnungen der schreibenden Flakhelfer ruhten nun allein auf der Industrie, wie umgekehrt sich die Industrie darauf verließ, dass beim ja nur symbolischen Abheben der Rakete eine symbolische Anschubfinanzierung für die deutschen Unternehmer herausspränge. Denn wie Arbeitnehmer in Deutschland nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern immer auch ihre Seele mitverkaufen wollen, so wünschen deutsche Unternehmer, dass ihre Produkte nicht als bloße Waren, sondern als Güter, als Waren mit einem zusätzlichen moralischen Gebrauchswert auf den Markt kommen – made in Germany.

Die deutschen Raketenhersteller, wie die Gaslieferanten insbesondere nach dem Golfkrieg in den Geruch geraten, vorbildliche Geschäftsleute zu sein, wollten sich bei einer staatlich beschirmten Gedenkfeier zur 50jähri­gen Wiederkehr des ersten deutschen Raketenabschusses dieses moralischen Gütesiegels versichern: es werde eine Pionierleistung der Raumfahrt gewürdigt; man wolle »an die Geburtsstunde einer Technik erinnern, die heute noch die Basis für die bemannte wie unbemannte Raumfahrt« sei, erklärte ein momentan nicht auf Umsatz, sondern ein auf immateriellen Zusatzgewinn, auf Tradition, erpichter Manager der deutschen Raumfahrtindustrie.

Am 21. September 1992 schrieb der Spiegel über den Autor von »Fatherland«: »Harris pflegt das Image ... des unbeugsamen Kritikers, des rastlosen Mahners. ›Die Deutschen‹, davon ist der eloquente Jung-Autor nun fest überzeugt, ›wollen im Grunde nichts mehr über ihre dunkle Vergangenheit hören‹.« Wenige Tage später ging die neue Wunderwaffe schon vor dem geplanten Start zu Bruch. Wieder war alles so geheim gehalten worden, dass die ganze Welt über die Feierstunde Bescheid wußte, nur die Veranstalter wussten nichts. Schon gar nichts davon, dass Peenemünde wie dessen Zuliefererstätte nicht die »Wiege der Raumfahrt«, sondern ein Massengrab für Sklavenarbeiter gewesen war, von den Opfern der Raketen gar nicht zu reden.

Erst vom Ausland daran erinnert, sprach der Schirmherr der Gedenkfeier, ein CSU-Staatssekretär, der an­sons­ten mit kühlem Kopf eine »asylantenfreie Zone« in seinem Wahlkreis fordert, von »absurden hysterischen Reaktionen«, die zeigten, »wie notwendig es ist, Peenemünde einmal aufzuklären und uns mit dem Inhalt der tragischen Verwicklung zwischen einem verbrecherischen System Adolf Hitlers und der Forschung auseinanderzusetzen.« Diesen Satz musste die örtliche PDS als Tagesbefehl im Ohr gehabt haben, das gleichzeitig an den Lippen der Lokalpolitiker ruhte. Und von dort murmelte es beschwörend: Raumfahrtpark, Arbeitsplätze und Touristen. Weit entfernt davon, den ganzen Spuk zu verhindern, wollte die PDS alternativ daran teilhaben: mit einer Talkshow zur Geschichte von oben, bei der ein ehemaliger britischer Bomberpilot von seinen Einsätzen über Peenemünde erzählen sollte. Angesichts dieser klassenübergreifenden Vorsätzlichkeit, mit welcher das Raketenprojekt in die politische Pleite geführt wurde, erwärmte sich sogar die Süddeutsche Zeitung für die abgewickelte Volkspolizei. »Gäbe es Hammer und Zirkel noch«, trauerte sie der DDR nach, »dann wären Offizielle und Industrielle aus der Bundesrepublik nie auf den Gedanken gekommen, in Peenemünde etwas zu feiern.« Nun hatten allein Proteste des demokratischen Auslands die Feierstunde in eine vorverlegte und selbstverschuldete Blamage verwandelt. »Wir sollten vorsichtig sein mit solchen Veranstaltungen«, sagte deshalb Klaus Kinkel, der Kosmetikberater für deutsches Ansehen. Dann eilte er nach Sachsenhausen, wo eine andere Veranstaltung bereits erfolgreich stattgefunden hatte. Dort, wie an anderen Brennpunkten der neuen Republik, wurde bewiesen, dass man auf Raketen vorerst verzichten kann.

 

Das Ausland mit seiner »hysterischen Reaktion« muss auf eine gebührende Antwort noch warten, die einstweilen Ausländern erteilt wird. Im Inland braucht man keine Raketen, sondern Mollis, hier bedarf es keiner ferngesteuerten Waffen, sondern kurzentschlossener Nahkampf­bürger. Hier ist nicht einmal eine Flugleitzentrale nötig, denn der kollektive Marschflugkörper zündet mit Selbstauslöser. Diesen technologischen Fortschritt hob der Außenminister bei seiner Stippvisite an der verbrannten KZ-Baracke hervor, indem er den demokratischen Charakter des Bündnisses von Elite und Mob betonte. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers rehabilitierte er dessen Voraussetzungen: er sagte den Reportern ins Mikrophon, jetzt müssten die Politiker den »Wünschen des Mainstream« nachkommen.

Nur Günther Rühle, dessen heimliche Wünsche nicht zur Verübung gelangen konnten, schwieg beharrlich. Er muss sich damit trösten, dass in der Halle des Flughafens Tegel eine Erinnerungstafel für den V2-Konstrukteur Wern­her von Braun hängt. Er muss aus lichten Höhen wieder auf den Boden der Tatsachen herab und die verbrannte Erde des Feuilletons bewässern, auf dass es dort vom Rhein bis zur Oder blühe: »Man muss sich gegenseitig als Teilhaber einer im Getrennten doch gemeinsamen Geschichte begreifen und Denken und Empfindung ohne Selbstgerechtigkeit wieder ineinander binden.«

1992