Überfallkommando

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In Lady's Stairs gab es kein Telefon. Li Yoseph war ein sparsamer Mann, der niemals unnötig Geld ausgab. Lange nachdem seine Besucher das Haus verlassen hatten, saß er zusammengekauert in einem alten, harten Lehnstuhl, den er an den großen, runden Tisch gezogen hatte. Zu seiner Linken brannte eine Lampe, und vor ihm lagen fünf engbeschriebene Bogen eines fast vollendeten Briefes.

Es fiel ihm schwer, diesen Brief zu schreiben, aber es mußte geschehen. Sobald er fertig war, wollte er ihn in einen Umschlag stecken, sich nach unten schleichen und den alten Sedeman aufsuchen, der in der Nachbarschaft wohnte und den Brief gegen ein Entgelt zu Inspektor Bradley bringen würde. Li nahm wahllos einen der Bogen auf und las ihn noch einmal durch.

»... McGill wußte, daß Ronnie mit Ihnen in Verbindung stand. Wenn Ronnie trank, war wenig Verlaß auf ihn, und er trank in der letzten Zeit heftig. Mit McGill hatte er einen Streit und sprach darüber, daß er ausscheiden wolle. Er erzählte mir die Sache, und ich sagte ihm auch, daß ich gern in meine Heimat zurückkehren wolle. Ich glaube, daß McGill das auf die eine oder andere Weise herausgebracht hat, denn in der fraglichen Nacht kam er hierher, nachdem er Ronnie von London aus gefolgt war. Ronnie hatte wieder getrunken. Um ein Uhr kamen McGill und Tiser. Sie stritten miteinander, und Ronnie sagte, daß er nichts mit Mord oder dergleichen zu tun haben wolle. Er behauptete, McGill sei für den Überfall bei der Northern- and Southern-Bank verantwortlich, bei dem ein Wachmann getötet wurde. Und dann prahlte er, daß er nur einen Finger zu heben brauche, um uns alle ins Gefängnis zu bringen. Wenn er das nicht gesagt hätte, wäre ich jetzt wohl nicht mehr am Leben; aber durch diese Äußerung wurde McGills Verdacht von mir abgelenkt. Ronnie stand mit einem großen Glas Portwein in der Hand am Tisch, als er das sagte, und wollte gerade trinken. Da schlug ihn McGill mit einem Totschläger über den Kopf, so daß er niederstürzte. McGill wickelte Ronnie in ein Bettuch und ließ ihn durch eine Falltür in mein Boot hinunter. Ich weiß nicht, wo er und Tiser ihn ins Wasser geworfen haben, aber nach einer halben Stunde kamen sie zurück und sagten, Ronnie habe sich wieder erholt und sei nach Hause gegangen. Dann drohte McGill, mich zu töten, wenn ich ein Sterbenswörtchen darüber sagen würde. Damals sprach er noch nicht davon, daß ich Ronnies Schwester eine erfundene Geschichte erzählen solle. Erst später, als er sie nach London holte, sagte er mir ...«

Li ließ den Bogen sinken. Es war nicht mehr viel zu schreiben, auf der nächsten Seite beendete er seinen Bericht, löschte das Papier ab und steckte es in einen Briefumschlag. Während er dies tat, sprach er zu sich selbst.

»... Sieh, mein kleines Täubchen, das muß ich tun, sonst kommen sie, nehmen den alten Li und legen einen Strick um seinen Hals. Und dann muß ich sterben, mein Kind.«

Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, schaute auf und steckte den Brief schnell in seine Tasche. Draußen auf der Treppe hörte er Marks Schritte – er kannte sie nur zu gut. Tiser begleitete McGill; das wußte Li schon, bevor sie die Tür öffneten und in den Raum traten.

Mark ging geradewegs auf den Tisch zu und schaute auf die Feder und das Papier.

»Du hast einen Brief geschrieben, wie? Hast du ihn schon abgeschickt?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Lieber Freund!« Tisers Stimme überschlug sich vor Erregung. »Vielleicht hast du etwas Unrechtes getan, Kamerad. Sage jetzt schnell Mr. McGill, daß sein Verdacht unbegründet ist. Sage ihm ...«

»Du brauchst ihm nicht zu sagen, was er mir zu antworten hat!« unterbrach ihn Mark eisig. »Gib den Brief her!« wandte er sich an Li Yoseph. »Du hast noch keine Zeit gehabt, ihn abzuschicken – die Tinte steht noch auf dem Tisch.«

Bevor Li wußte, was geschah, sprang Mark auf ihn zu, packte ihn und riß seinen Rock auf. Der Brief schaute aus der inneren Tasche hervor, und Mark zog ihn heraus.

»Also an Bradley – ich dachte es mir doch!«

Mark öffnete den Umschlag und überflog schnell den Inhalt.

»Du hast uns verraten wollen, was? Deshalb kam Bradley also hierher und sagte, daß er heute von zehn bis zwei in seinem Büro sei. Na, auf diesen Brief kann er verdammt lange warten!«

Li Yoseph bewegte sich nicht. Er stand dicht neben der geschlossenen Falltür, hatte die Hände vor sich auf der Brust gefaltet und schwieg. Er wußte, all dieses war verhängt, dem Geschick konnte er nicht entgehen. Vielleicht hörte er die Stimmen der Geister, die ihn umgaben und ihm Mut zuflüsterten, denn plötzlich lächelte er.

»Also nun zu dir, Li«, rief Mark erregt. Ihre Blicke trafen sich, und Li Yoseph sah Mord in Marks Augen.

»Mich kannst du nicht umbringen, mein guter Mark«, sagte er. »Ich mag sterben, ja – aber ich werde wiederkommen. Die kleinen Geister ...«

Plötzlich bückte sich der alte Mann hastig, riß die Falltür auf und eilte auf der Leiter nach unten. Mark zog seine Pistole schnell aus der Tasche; der Schalldämpfer blieb in dem Stoff hängen und riß ein Loch hinein, aber Mark achtete nicht darauf.

Zwei Schüsse folgten kurz hintereinander – der zweite klang lauter. Die Geschosse saßen zwischen den Schultern. Sie hörten, wie der Körper Li Yosephs unten ins Wasser fiel.

»Mach die Falltür zu!«

Tiser ging mit unsicheren Schritten vorwärts und schloß leise die Tür.

»Leg jetzt den Teppich darüber.«

Mark trat ans Fenster, riß einen Flügel auf und schaute hinaus. Die Nacht war dunkel; ein feiner Sprühregen fiel nieder, die Flut war auf ihrem Höhepunkt.

Tiser lehnte sich an einen Stuhl und atmete schwer wie ein Mann, der eine ungeheure Anstrengung hinter sich hat. Die Sprache versagte ihm, und er wagte nicht aufzusehen, bis er hörte, daß Mark McGill das Fenster schloß.

»Das ist in Ordnung. Komm jetzt! Vergiß nicht, was du gesehen hast!«

Tisers Zähne klapperten, als er seinem finsteren Herrn zur Treppe folgte. Sie standen auf dem Absatz, als unten laut an die Tür geklopft wurde. Tiser unterdrückte einen Schrei. Wieder ertönte das Klopfen.

»Offnen Sie die Tür!«

McGill taumelte in das Zimmer zurück, löschte schnell das Licht und schaute durch ein kleines Fenster auf die Straße.

Zwei Autos hielten unten. Das dritte fuhr gerade vor, aber noch bevor es zum Stehen kam, sprangen sechs Männer heraus und gingen eilig auf das Haus zu.

In dem hellen Licht eines der Scheinwerfer an den Wagen sah Mark ein wohlbekanntes, ihm so verhaßtes Gesicht. Nur für einen Augenblick tauchte es auf, dann verschwand es wieder in der Dunkelheit.

»Bradley!« zischte er. »Die Fliegende Kolonne – das Haus ist umzingelt!«

3

Mark schloß das Fenster, trat zurück und drehte das Licht wieder an. Mit einem scharfen Blick musterte er das Zimmer, verkorkte schnell das Tintenfass und stellte es beiseite. Dann zeigte er auf die Tür.

»Geh nach unten und laß sie herein!«

Das Klopfen ertönte lauter und dringlicher als zuvor.

»Warte noch einen Augenblick!« rief Mark, als Tiser schon in der Türöffnung stand. Mit größter Eile rollte er den Teppich zurück, riß die Falltür auf und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach unten. Aber nur das schwarze Wasser gähnte ihm entgegen. Plötzlich fiel ihm seine Pistole ein; rasch warf er sie hinunter, wartete noch, bis er das Aufschlagen auf dem Wasser hörte, schloß dann die Tür und legte den Teppich wieder darüber.

»Laß sie jetzt herein!« sagte er kurz.

Bradley trat zuerst ein. Einer der vier Detektive, die ihm folgten, hatte eine Pistole in der Hand.

»Durchsuchen Sie die beiden«, befahl Bradley.

Mark hob sofort die Hände in die Höhe.

»Wo ist Ihr Schießeisen?« fragte der Detektiv, der schnell alle Taschen Marks abtastete.

»Wenn Sie damit eine Pistole meinen«, entgegnete McGill kühl, »dann verschwenden Sie nur unnötig Ihre Zeit. Darf ich mir aber die Frage erlauben, was dieses ganze Theater zu bedeuten hat?«

»Wo ist Li Yoseph?«

Mark zuckte die Schultern.

»Das möchte ich auch gerne wissen. Ich unterhielt mich noch vor kurzem mit ihm in der freundschaftlichsten Weise. Dann ging er fort, um noch einen Bekannten aufzusuchen. In zehn Minuten wollte er zurückkommen.«

Der Detektiv verzog verächtlich die Lippen.

»So, er wollte einen Bekannten aufsuchen? Wollte ihn wohl nach seinem Hund fragen, was?« Er zog die Luft prüfend durch die Nase ein und runzelte die Stirn. »Es riecht hier ganz verdächtig nach Kordit.«

Bradley ging zu dem kleinen Schlafraum, sah sich dort um, nahm die Violine und den Bogen und betrachtete sie nachdenklich.

»Sein Instrument hat er nicht mitgenommen, wie ich sehe.« Er nahm die Violine unters Kinn und spielte eine kurze Melodie. »Sie wußten wohl nicht, daß ich Geige spiele?« fragte er, als er sie wieder auf den Tisch legte.

»Ich weiß nur, daß Sie sich hier aufspielen wollen. Ihre künstlerische Veranlagung scheint sich irgendwie betätigen zu müssen«, erwiderte Mark bissig.

Bradley sah ihn scharf an.

»Sie müssen sich von dem Wahn freimachen, daß Sie hier als Volksredner vor einer großen Versammlung stehen, McGill. Sagen Sie mir lieber, wo ich Li Yoseph finden kann.«

Marks Gesicht wurde dunkelrot, offener Haß flammte aus seinen Blicken.

»Wenn Sie wissen wollen, warum ich hierher kam, dann werde ich es Ihnen sagen. Tiser und ich versuchen etwas Gutes in der Welt zu tun und den Leuten zu helfen, die Sie unterdrückt und zugrunde gerichtet haben, Bradley –«

 

Der Detektiv lächelte.

»Ach, ich kenne Ihre Herberge, wenn Sie dieses Heim für Obdachlose meinen«, entgegnete er trocken. »Das ist doch weiter nichts als ein Ihnen angenehmer Treffpunkt für Verbrecher, die Sie für Ihre Zwecke brauchen können. Eine geniale Idee. Ich habe gehört, daß Sie dort fromme Predigten halten, Tiser?«

Der Mann grinste nur furchtsam, er war noch nicht fähig zu sprechen.

»Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß Sie Li Yoseph aufsuchten, damit er Ihnen bei der Besserung der Sträflinge helfen sollte? Wenn Sie das –«

In diesem Augenblick wurde Bradley von einem Beamten dringend auf den Gang gerufen. Er ging sofort hin und sprach mit ihm. Mark McGill sah das Erstaunen in seinem Gesicht.

»Nun gut, sagen Sie Miss Perryman, daß sie hereinkommen kann.«

Ann Perryman trat langsam ein und schaute von einem zum andern.

»Wo ist Mr. Yoseph?«

»Dieselbe Frage habe ich eben auch gestellt«, erwiderte Bradley freundlich.

Sie beachtete ihn nicht und wiederholte ihre Frage.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Mark. »Vor einigen Minuten war er noch hier. Er ist aus irgendeinem Grund fortgegangen und bisher noch nicht wieder zurückgekommen.«

Ann fühlte plötzlich, wie jemand ihren Arm faßte und sie herumzog. Sie zitterte vor Entrüstung, als sie Inspektor Bradleys Blick begegnete.

»Miss Perryman, wollen Sie so liebenswürdig sein und mir sagen, warum Sie jetzt hierherkamen? Ich frage Sie in meiner Eigenschaft als Polizeibeamter.«

»Ich kam, weil er mir schrieb, daß ich ihn besuchen solle«, erwiderte sie atemlos.

»Bitte, zeigen Sie mir seine Mitteilung.«

Tiser starrte sie mit offenem Mund an; auch Mark McGills Züge verrieten ungewöhnliche Bestürzung.

Ann Perryman zögerte, dann riß sie mit einer hastigen Bewegung ihre Handtasche auf und zog ein Blatt Papier hervor. Bradley las die beiden schnell hingeworfenen Zeilen:

»Ich muß Sie um zehn Uhr sehen. Es ist äußerst dringend.«

»Wo ist der Briefumschlag?«

»Den habe ich weggeworfen.« Sie atmete schnell, und ihre Stimme zitterte; aber Bradley wußte, daß nicht Furcht die Ursache ihrer Erregung war.

»Der Brief wurde Ihnen wohl durch einen Boten überbracht? Li hatte zuerst die Absicht, ihn durch die Polizei zu schicken. Er wollte Sie morgen Abend sehen – ich hatte auch eine Verabredung mit ihm für dieselbe Zeit«, warf Mark ein.

Bradley sah ihn durchbohrend an, aber McGill hielt den Blick aus.

»Wollen Sie mir bitte erklären, was dies alles zu bedeuten hat?« fragte Ann.

Mühsam hatte sie ihre Selbstbeherrschung wiedererlangt.

»Was das bedeutet?« erwiderte Bradley kühl. »Die Fliegende Kolonne ist hier – oder wenigstens eine Abteilung von ihr. Ich kam hierher, um Li Yoseph in Schutzhaft zu nehmen, bevor ihm etwas zustoßen konnte. Er wollte mir heute einen Brief schicken, und ich nahm an, daß er denselben Boten benützen würde, den er Ihnen gesandt hat. Ich verrate kein Dienstgeheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß ich um Li Yoseph ernstlich besorgt war und ihn in Sicherheit bringen wollte, bevor ihn dasselbe Schicksal erreicht wie Ihren Bruder.«

Ann Perrymans Lippen zitterten, aber wieder gelang es ihr, sich zu beherrschen.

»Sie meinen, bevor er durch die Hand von Polizeibeamten umgebracht wurde?« sagte sie leise, beinahe flüsternd. »Auf diese Weise ist mein Bruder ums Leben gekommen – wollten sie mit Li Yoseph auf dieselbe Weise verfahren? Als Sie mich vorhin am Arm packten und herumrissen, als ob ich eine Ihrer Gefangenen wäre, erkannte ich, was für ein brutaler Mensch Sie sind!«

»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich Ihren Bruder getötet habe?«

»Li Yoseph.«

Auf diese Antwort war Bradley nicht gefaßt.

»Das ist das Unglaublichste, was ich je gehört habe«, sagte er langsam. Dann war er plötzlich wieder der sachliche Beamte und sprach ganz geschäftsmäßig. »Es ist möglich, daß ich Sie, McGill und Tiser, heute Abend noch einmal sehen muß. Inzwischen können Sie nach Hause gehen. Miss Perryman, mit Ihnen werde ich morgen früh sprechen. Jetzt werde ich Sie nach Hause bringen.«

»Ich brauche Ihre Begleitung nicht – ich gehe mit Mr. McGill.«

»Sie gehen mit mir«, erwiderte er bestimmt. »Ich will wenigstens die Genugtuung haben, Sie einen Abend lang vor schlechter Gesellschaft bewahrt zu haben.«

»Was soll das heißen, Bradley?« rief McGill zornig. »Was wollen Sie von mir? Ich habe nun allmählich genug von Ihren Andeutungen und dunklen Bemerkungen. Stehen Sie mir jetzt Rede und Antwort!«

Bradley winkte einen seiner Leute heran.

»Begleiten Sie Miss Perryman zu meinem Wagen!«

Einen Augenblick sah sie ihn trotzig an, dann drehte sie sich um und folgte dem Detektiv die Treppe hinunter. Nachdem sie gegangen war, wandte sich Bradley an McGill.

»Ich will Ihnen sagen, was ich gegen Sie habe. Im ganzen Land ist in letzter Zeit ein starkes Anwachsen von Gewaltverbrechen wahrzunehmen. Vorige Woche wurde in der Oxley Road ein Polizist erschossen, und als jene Bande bei den Juwelieren Isligton einbrach und auf frischer Tat überrascht wurde, haben die Leute durch eine regelrechte Schießerei ihren Rückzug gedeckt. Das ist ungewöhnlich. Sie wissen doch, daß der englische Verbrecher keine Schusswaffe bei sich trägt. Eine neue Generation von Revolverhelden ist im Land aufgetaucht – und deshalb bin ich empört über Sie.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich Schießstände eingerichtet habe, wo ich den Verbrechern das Knallen beibringe?«

Bradley nickte langsam.

»Ja, das meine ich. Sie benützen die schlimmste Methode, um die Leute zu solchen teuflischen Taten zu treiben. Jeder, der die Geschichte der amerikanischen Verbrecherbanden kennt, weiß, was jetzt in England vorgeht. Sie haben einen neuen Weg gefunden, den Verbrechern Rauschgifte zu liefern! Aber wenn ich Sie fasse, dann werde ich Sie auch ganz zur Strecke bringen. Zwanzig Jahre werden nach Ihrer Verurteilung vergehen, bevor Sie wieder aus Dartmoor herauskommen.« Er trat näher an McGill heran. »Und ich werde Ihnen noch etwas anderes sagen. Ich weiß nicht, was Sie mit Miss Perryman im Sinn haben, aber denken Sie daran, daß ich sie bewachen werde wie eine Katze die Maus. Und wenn Sie etwas Böses im Schilde führen, dann werde ich schon Mittel und Wege finden, Sie einzusperren – auch ohne Beweise.«

4

Während der Fahrt zur Stadt stellte Bradley seine Fragen klug und geschickt, und Ann Perryman wußte wohl kaum, daß sie einem Kreuzverhör unterworfen war.

Am nächsten Morgen hatte sie in ihrem Wohnzimmer im Hotel eine Unterredung mit Bradley; er hatte sich vorher telefonisch mit ihr in Verbindung gesetzt. Als er dann bei ihr erschien, war sie gesammelt und ruhig. Sie sah ihn unverwandt an, während er sprach, und in dem Blick ihrer Augen las er Haß gegen sich und seinen Beruf.

»Wir haben noch keine Spur von Li Yoseph gefunden, aber ich hoffe, daß wir ihn noch entdecken werden, wenn er nicht beiseitegeschafft worden ist. Er besaß ein kleines Motorboot, das unten an seinem Haus befestigt war. Dieses Boot wurde von der Strompolizei leer auf der Themse gefunden.«

Sie betrachtete ihn mit kalten Blicken. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihn wohl für einen hübschen jungen Mann gehalten; er hatte intelligente Züge und große, ausdrucksvolle Augen. Es war seine Angewohnheit, die Menschen häufig durch halbgeschlossene Augenlider zu beobachten. Er lachte häufig; aber seine Lippen zuckten schmerzlich, als er von den armen Leuten sprach, die in Li Yosephs Nachbarschaft wohnten. Er sah gepflegt aus, hatte die Gestalt eines Athleten und schöne, wohlgeformte Hände, die er auf die Tischplatte legte – sie hatte ihm keinen Platz angeboten. Ihr Haß gegen ihn wuchs mehr und mehr, als sie seine anziehenden Eigenschaften erkannte.

»Es ist überflüssig, Theorien aufzustellen, Mr. Bradley«, sagte sie ruhig. »Li Yoseph wurde wahrscheinlich von Polizeibeamten getötet – genau wie der arme Ronnie!«

Ihre Behauptung war so lächerlich und aus der Luft gegriffen, daß Bradley, der Mutterwitz besaß und gewöhnlich sehr schlagfertig war, keine Antwort fand.

»Er wurde einfach mit einem Polizeiknüppel niedergeschlagen, weil er Ihnen nicht sagen wollte, was Sie gerne gewußt hätten. Warum sollte denn Li Yoseph entkommen? Er war ein Zeuge, der den Mord an Ronnie gesehen hatte.«

Bradley sah sie scharf an.

»Sie haben sich aufhetzen lassen. Wissen Sie eigentlich, welche Tätigkeit Ihr Bruder hatte, warum er so eng mit Li Yoseph befreundet war?«

Sie antwortete ihm nicht.

»Ich möchte Ihnen so gerne helfen.«

Er lehnte sich über den Tisch; seine Stimme klang sanft und eindringlich.

»Soviel ich weiß, sind Sie Lehrerin an einer Pariser Schule, und ich hoffe, daß Sie versuchen werden, all diese schrecklichen Ereignisse zu vergessen, wenn Sie dorthin zurückkehren. Ich habe Ihren Bruder gern gehabt, in gewissem Sinn war er sogar mein Freund. Ich war wohl einer der letzten, mit denen er vor seinem Tod sprach.«

Er sah, wie sie die Lippen unwillig zusammenzog, und schüttelte den Kopf.

»Das Unglück muß Sie so schwer getroffen haben, daß Sie im Augenblick nicht klar denken können. Warum sollte die Polizei ihm denn etwas getan haben? Und warum sollte denn gerade ich sein Mörder sein? Ich hätte mir die größte Mühe gegeben, wenn ich ihm hätte helfen können. Ich kenne seine ganze Vergangenheit, und ich weiß auch, wie wankelmütig er war ...«

»Ich glaube, wir können diese Unterredung beenden. Ob ich nach Paris zurückgehe oder nicht, ist meine eigene Angelegenheit. Ich weiß, daß Sie ihn haßten – und ich glaube, daß Sie ihn getötet haben. Alle Nachbarn Li Yosephs sind davon überzeugt, daß Ronnie von Polizeibeamten getötet wurde. Ich will nicht behaupten, daß man ihn mit Vorsatz ermordete, aber er starb von Ihrer Hand.«

Er machte eine verzweifelte Handbewegung.

»Darf ich später einmal mit Ihnen sprechen, wenn Sie die erste Aufregung überwunden haben?«

»Ich will Sie nie wieder sehen«, brauste sie auf. »Ich hasse Sie und Menschen Ihres Schlages! Sie sind so freundlich und können so aalglatt reden, und dabei sind Sie doch so heimtückisch und gemein. Alle Polizeibeamten sind Lügner, die ihre Schlechtigkeit durch Meineide beschönigen und ihre Fehler durch die Verfolgung unschuldiger Zeugen verbergen. Sie haben sich einen abscheulichen Beruf ausgesucht.«

Er wollte noch etwas erwidern, hielt es aber für besser zu schweigen, nahm mit einem leichten Lächeln seinen Hut auf und verließ den Raum.

Später bereute Ann ihre Heftigkeit, aber gleich darauf verachtete sie sich wieder selbst wegen dieser Schwäche. Dieser Mann hatte ihren Bruder ermordet ...

Und in dieser Überzeugung stand sie nicht allein. Die Leute in der Gegend von Lady's Stairs hatten ihre eigenen Ansichten, die durch das bestärkt wurden, was sie mit ihren Augen sahen. Sie wußten, daß Ronnie Li Yoseph öfters besuchte. Auch hatten sie gesehen, daß die Beamten um ein Uhr nachts in Li Yosephs Haus eindrangen. Ein Mann hatte sogar gehört, daß Bradley, der Führer der Fliegenden Kolonne, sagte: »Ich will die Wahrheit aus diesem Jungen herausbekommen, und wenn ich ihm den Schädel einschlagen müßte!«

Niemand glaubte daran, daß der alte Li Ronnie ermordet hatte, dieser Gedanke war nicht einmal den Polizeibeamten gekommen. Sie sagten nur, daß Li verschwunden war. Es stellte sich heraus, daß in jener Nacht ein großer holländischer Dampfer während der Flut die Themse hinuntergefahren war, und man nahm an, daß Li auf diesem Schiff Zuflucht gesucht hatte.

Li Yosephs Haus wurde abgesperrt; die Schlüssel deponierte man bei einem Hausagenten. Der alte Mann hatte seiner Bank ein für allemal den Auftrag gegeben, seine Hausmiete zu zahlen; er blieb deshalb theoretisch Inhaber der Wohnung, obwohl die Räume leerstanden.

Eine Stunde nach Bradleys Besuch kam Mark McGill zu Ann. Er war sehr frei und offen, obgleich er nicht wußte, was Bradley ihr gesagt und welche Geheimnisse er ihr anvertraut hatte. Im Augenblick sah er nur, daß Miss Ann überraschend schön war und vielleicht das brauchbarste Mitglied seiner Organisation werden würde.

»Ich will nichts vor Ihnen beschönigen oder verbergen, Miss Perryman. Ich sagte Ihnen schon, daß ich seit Jahren vom Schmuggel lebe – und Ronnie war mein bester Kamerad. Tiser kann ich nur bis zu einem gewissen Grad trauen, denn er trinkt und ist unzuverlässig. Ich selbst will mich nicht als Heiligen ausgeben, aber Sie wissen ja, wie die Gesetze gemacht sind. Wenn sich jemand gegen das Eigentum der besitzenden Klasse vergeht, wird er schrecklich bestraft, wenn aber ein Schuft seine Frau halbtot prügelt, bekommt er höchstens drei Monate dafür. Nimmt er dagegen ein paar Schillinge aus einer Ladenkasse, oder stiehlt er einem schwerreichen Mann ein paar hundert Pfund, dann kann er froh sein, wenn er mit einem Jahr Gefängnis davonkommt.«

 

Ann sah all diese Dinge plötzlich in einem neuen Licht; sie erschienen ihr nicht mehr so verdammenswert, im Gegenteil, es lag eine gewisse Romantik darin. Mark beobachtete sie, während er sprach, und sah, daß ihre Augen aufleuchteten. Seine Worte hatten Eindruck auf sie gemacht.

Auf vielen Waren lastet hoher Zoll – z. B. auf Sacharin, für das pro Unze dreieinhalb Schilling gezahlt wurden. Mark und Ronnie hatten mehr als zehntausend Unzen wöchentlich geschmuggelt. Bei dieser Menge blieben ihnen fast tausend Pfund Verdienst. Sie schmuggelten aber auch noch andere Waren und betrieben einige Nebengeschäfte. Ronnie hatte ihr früher davon erzählt, und jetzt war sie mit dieser Art »Verbrechen« ausgesöhnt. Ihrer Meinung nach war das keine entehrende Gesetzesübertretung. Mit Ausnahme der Regierung wurde niemand geschädigt; die armen Leute dagegen hatten Vorteile davon, denn sie konnten billig kaufen.

»Natürlich will ich nicht, daß der Tod des armen Ronnie Ihre Entscheidung irgendwie beeinflußt. Wenn Sie Ihre Absicht geändert haben und nicht zu uns kommen wollen ...«

Aber sie unterbrach ihn und schüttelte heftig den Kopf. Mark las in ihren Augen feste Entschlossenheit, als sie ihm mitteilte, daß Bradley sie einfach nach Paris hatte zurückschicken wollen.

»Ich habe meine Absicht in keiner Weise geändert«, sagte sie.

An diesem Tag wurde Ann in McGills Organisation aufgenommen.

Merkwürdigerweise dachte sie nicht mehr an Li Yoseph und sein geheimnisvolles Verschwinden. Um so mehr beschäftigte sich aber Bradley mit diesem Fall, und tagelang durchforschten Polizeibeamte in Booten die sumpfigen Gewässer der Bucht. Mit langen Bootshaken stießen sie durch den Schlamm und suchten nach Li Yoseph, der früher hier so friedlich am Fenster gesessen oder Geige gespielt hatte.

Es war nicht ganz ein Jahr später, am Abend eines Vorfrühlingstages ...

Von weither drang das Geräusch eines Flugzeugs zu Ann Perryman. Sie klappte ihr Buch zu und erhob sich von dem Trittbrett des kleinen, eleganten Autos, auf dem sie gesessen hatte. Schnell warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr – es war sieben Uhr fünfundvierzig. Der Pilot war pünktlich, fast auf die Sekunde.

Sie öffnete den Wagenschlag, nahm ein Fernglas heraus, trat aus dem Gebüsch, das ihren Wagen vor Sicht schützte, und suchte den Himmel ab. Gleich darauf entdeckte sie die niedergehende Maschine, der Motor war schon abgestellt, er war nicht mehr zu hören.

Schnell ging sie zu dem Auto zurück, griff ins Innere und setzte einen Hebel am Schaltbrett in Bewegung. Das schwarze Dach des Wagens bestand aus schmalen Streifen, und als sie nun an dem Handgriff zog, drehten sich die einzelnen Teile wie bei einer Fensterjalousie. Die Unterseite war mit Spiegelglas belegt, das in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne aufleuchtete. Dreimal bewegte sie den Griff, und dreimal öffnete und schloß sich das Dach des Autos. Dann öffnete sie es noch einmal, ließ die Spiegelfläche nach oben stehen und lief wieder ins Freie, um die Bewegungen des Flugzeuges zu beobachten.

Der Pilot hatte ihr Zeichen gesehen. Seine Signallampe blinkte mehrere Male auf, und er kam direkt auf ihren Halteplatz zu. Aus nächster Entfernung hörte sie, daß er den Motor wieder angestellt hatte.

Er war kaum zwanzig Meter vom Boden entfernt, als er ein Paket abwarf. Der kleine, seidene Fallschirm öffnete sich und bremste den Fall. Trotzdem schlug das Holzkistchen ziemlich schwer auf dem Boden auf. Kaum hatte sie gesehen, wo die Ladung abgeworfen war, als das Flugzeug wieder steil anstieg.

Ann wartete nicht, bis es außer Sicht war, sondern eilte zu dem Paket, hob es auf, brachte es zu dem Wagen und legte es mit dem zusammengefalteten Fallschirm in einen Hohlraum unter ihrem Sitz. Die Kiste war nicht schwer. McGill ließ nicht zu, daß sie die schweren Ladungen abholte; er überließ ihr nur die leichten Pakete, die ungehindert von der See her durch Flugzeuge ins Land gebracht wurden.

Nach einer ermüdenden Fahrt auf holprigem Grund erreichte Ann endlich die Hauptstraße. Erleichtert nahm sie die Richtung nach Norden und fuhr im schärfsten Tempo nach London. Ann Perryman fuhr leidenschaftlich gern mit höchster Geschwindigkeit. Es war ihr größtes Vergnügen, am Steuer zu sitzen und mit Genugtuung festzustellen, daß der Geschwindigkeitsmesser immer höher kletterte.

Als sie nach Kingston Hill kam, verlangsamte sie das Tempo. Ein Polizist rief ihr etwas zu, und sie drehte ihre Scheinwerfer an, obgleich es noch nicht sehr dunkel war. Der Mann hatte eigentlich kein Recht dazu, diese Anordnung zu geben, und handelte etwas eigenmächtig im Bewusstsein seiner Autorität.

Noch vor einem Jahr würde sie über eine derartige Aufforderung gelacht haben und ihr nicht nachgekommen sein. Im Gegenteil, damals machte es ihr das größte Vergnügen, den Anordnungen dieser unbedeutenden Beamten zu trotzen. Aber Mark hatte darauf bestanden, daß sie sich in all diesen kleinen Dingen den Vertretern des Gesetzes gefügig unterwarf. Sie haßte alle Polizisten. Der Anblick eines weißen Arms mit einem Handschuh, der ihr an einer Straßenkreuzung Halt gebot, trieb ihr das Blut in die Wangen.

Wieder verlangsamte sie die Fahrt, als die Lichter von Hammersmith Broadway in Sicht kamen. Hier traf sie auf einen lebhaften Wagenverkehr und suchte ihren Weg mühsam zwischen einem schweren Lastwagen und einem Autobus. Schließlich mußte sie neben dem Gehsteig anhalten. Als sie nach rechts schaute, sah sie einen Herrn in der Nähe stehen und schrak zurück. Aber die hellen Lampen eines Kolonialwarenladens beleuchteten grell ihr Gesicht, und es war unmöglich, der Beobachtung dieses Mannes zu entgehen.

Seine Haltung war charakteristisch. Die Hände hatte er tief in die Hosentaschen gesteckt, Schultern und Kopf waren vornübergeneigt. Obwohl das scharfgeschnittene, braune Gesicht im Schatten war, konnte man doch aus der Haltung erraten, daß seine Gedanken weit von Hammersmith Broadway entfernt weilten. Zuerst gab er nicht zu erkennen, daß er sie gesehen hatte. Sie wandte rasch den Kopf und schaute krampfhaft nach dem Lastwagen, der auf der anderen Seite hielt. Aber sie sah doch, wie er auf sie zukam. Gleich darauf stützte er die Ellbogen auf den unteren Rand ihres offenen Fensters.

»Haben Sie eine Spazierfahrt gemacht, Miss Perryman?« Sie haßte ihn, sie haßte seine gedehnte Sprache, sein ganzes Wesen, seinen Beruf. Mark sprach immer von Zweckmäßigkeit, aber die Bekanntschaft mit diesem Mann hatte sie nach ihrem eigenen Willen gepflegt. Überlegt und kaltblütig hatte sie damals eine zweite und dritte Begegnung mit ihm herbeigeführt und hatte ihn später noch viele Male getroffen. Noch empfand sie heftigen Schmerz über den Tod ihres Bruders, aber sie spielte ihre Rolle gut. Mit vielen Worten hatte sie sich wegen der Beleidigung bei ihm entschuldigt, die sie ihm damals zugefügt hatte. Er konnte nicht ahnen, welchen Haß sie gegen ihn im Herzen trug.

»Ach, Mr. Bradley! Ich hatte Sie gar nicht gesehen.«

»Die Leute pflegen mich auch selten zu sehen, wenn sie nach der entgegengesetzten Richtung schauen«, sagte er.

Sie glaubte, daß seine Blicke das Innere des Wagens absuchten.

»Sind Sie ganz allein? Das ist großartig. Wenn ich von mir sprechen darf, so liebe ich es auch, mich nur mit mir selbst zu unterhalten. Vielleicht fühlen Sie ähnlich.«

Er sah, daß der Verkehrspolizist den Weg freigab.

»Fahren Sie zufällig in die Nähe der Marble Arch? – Wissen Sie, ich spare immer das Geld für den Autobus, deshalb hält man mich für einen Schotten.«

Sie zögerte. Es war unerträglich, ihn neben sich zu wissen, aber Mark hatte gesagt ...