Die Gräfin von Ascot

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»Mrs. Carawood fährt jetzt sehr oft nach Cheltenham, bis Mylady nach Ascot zieht«, erklärte Herman. »Sie hat noch verschiedenes vorzubereiten.«

John lächelte.

»Unter Mylady verstehen Sie doch die Gräfin Fioli?«

Herman nickte eifrig.

»Sind Sie ein Freund von ihr?« fragte er dann.

»Das möchte ich nicht gerade behaupten, aber ich kenne die junge Dame oberflächlich.«

Herman strahlte.

»An Mylady kann man sehen, daß der alte Fenner unrecht hat.«

»Wer ist denn Mr. Fenner?«

John war erstaunt über die Herzlichkeit, mit der er hier empfangen wurde. Erst später erfuhr er, daß das Faktotum von Mrs. Carawood hohe Achtung vor allen Leuten hatte, die Mylady kannten oder mit ihr verkehrten.

»Fenner ist ein Sozialdemokrat. Er kann sehr gut reden, hat Bildung und so weiter.«

»Spricht er denn schlecht von Mylady?« fragte Morlay, der sich heimlich amüsierte.

Herman schüttelte den Kopf.

»Nein, das tut er nicht! Das ist das einzige Gute an Mr. Fenner. An Königen, an Lords und an Grafen läßt er keinen guten Faden, aber über Mylady hat er noch nie etwas Schlechtes gesagt.«

John Morlay lenkte geschickt die Unterhaltung auf Mrs. Carawood und ihre Geschäfte und erfuhr, daß sie insgesamt acht Läden in der Stadt hatte, die alle gut gingen. An diesem Nachmittag war sie nach Cheltenham gefahren; Herman nannte die genaue Abfahrtszeit des Zuges.

»Mrs. Carawood liest wohl sehr viel«, erkundigte sich John, während er die Bücherregale betrachtete.

Herman lächelte verklärt.

»Sie hat jede Geschichte gelesen, die hier steht.« Zärtlich fuhr er mit der Hand über die Rücken der Bücher und Heftromane. »Und ich habe jede gehört!«

»Sie wollen wohl sagen, daß Sie auch alle diese Geschichten gelesen haben?«

»Nein, ich kann nicht lesen, auch nicht schreiben«, erklärte er einfach. »Aber wenn das Geschäft geschlossen ist, liest Mrs. Carawood mir vor.«

»Ist denn Mr. Fenner damit einverstanden?« fragte John Morlay lächelnd.

»Es kommt gar nicht darauf an, was er tut oder nicht tut. Er sagt, ich bekäme dadurch falsche Vorstellungen, aber das versteht er nicht.«

John Morlay war sehr erstaunt und nachdenklich, als er langsam zum Viktoria-Bahnhof ging. Und dann tat er etwas, was ihm selbst ganz unerklärlich war: Er nahm ein Taxi, fuhr zu seiner Wohnung zurück, packte einen Koffer und ließ sich dann zur Station Paddington bringen, wo er in den Zug nach Cheltenham stieg. Plötzlich hatte er das unwiderstehliche Verlangen, Mrs. Carawood kennenzulernen – vielleicht aber wünschte er noch mehr, Mylady wiederzusehen.

3

Mrs. Carawood ging durch den großen, grauen Steinbogen, der den Eingang zu dem bekannten und berühmten Mädchen-College in Cheltenham bildete, und wandte sich nach links, wo die Steintreppe lag.

Die einzelnen Klassen kamen aus den verschiedenen Wohngebäuden zum Haupthaus, lange Reihen junger Mädchen zu zweien und zweien, in dunkelblauen Röcken und weißen Blusen. Dazu trugen sie Krawatten in den Farben der Schule.

Der Portier eilte auf Mrs. Carawood zu, als er sie erkannte.

»Guten Morgen! Haben Sie Mylady schon gesehen?«

»Nein, Mr. Bell«, sagte die untersetzte Frau freundlich. »Ich kam gestern spät mit dem Abendzug. Geht es ihr gut?«

Ihre Stimme hatte einen gewissen Anklang an den Londoner Jargon. Dem Portier gefiel sie, wenn er das Äußere und die Manieren dieser Frau auch nicht gerade sehr fein fand. Jedenfalls war sie anders als die Eltern der jungen Damen, die hier erzogen wurden, und er fühlte sich mit ihr eigentlich gesellschaftlich auf einer Stufe.

»Es ging ihr sehr gut, als ich sie gestern sah. Wollen Sie sie heute nach Hause mitnehmen?«

Mrs. Carawood schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte sie kurz und ging dann weiter.

Am oberen Ende der Treppe wurde sie von einer der Lehrerinnen empfangen, die als Zeichen ihrer Würde eine Art Medaillon um den Hals trug. Diese geleitete sie durch eine große Tür in einen Saal, wo sie ihr einen Platz anwies. Sie befand sich oben auf der Galerie, die die große Halle auf drei Seiten umgab. Unten war auf der einen Seite ein Podium aufgeschlagen und mit schweren, blausamtenen Vorhängen drapiert. Auf dem Tisch standen ein silbernes Lesepult und eine Vase mit prachtvollen Blumen. Im Hintergrund präludierte eine Orgel. Die Mädchen der einzelnen Klassen nahmen ihre Plätze ein, bis der große Raum und die Galerien gefüllt waren.

Zuletzt erschienen die Schülerinnen des obersten Jahrgangs, die besondere Sitze hatten. Eins der Mädchen sprach mit einer älteren Dame und entfernte sich dann. Mrs. Carawoods Augen leuchteten auf, als sie bald darauf die schlanke Gestalt auf sich zukommen sah.

Es war Marie. Ihr Gesicht hatte sich vor Freude gerötet, und sie kam eilig auf Mrs. Carawood zu. Sie reichte der alten Frau die Hand und drückte einen Augenblick die Wange an die ihre.

Nun erschienen unten die Lehrerinnen. Eine trug das große Gebetbuch. Eine große, majestätisch aussehende Dame folgte ihr. Sie hatte ernste, würdevolle Züge, schaute aber etwas müde auf die Versammlung.

John Morlay saß auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie und beobachtete Mrs. Carawood und Marie Fioli. Er war einer der ersten gewesen, die die Galerie des großen Saals betreten hatten, und wartete nun schon über eine Viertelstunde, während die vielen jungen Mädchen nach und nach den Raum füllten.

Jetzt fiel ihm ein, daß er Mrs. Carawood schon in Ascot gesehen hatte, als sie aus dem Auto stieg. Sie mußte etwa fünfzig Jahre alt sein, hatte eine dunkle Gesichtsfarbe und angenehme, freundliche Züge. Sie erinnerte John Morlay in gewisser Weise an eine Zigeunerin, denn sie hatte schwarze Haare, die noch nicht im mindesten ergraut waren. Und auf diese Entfernung hin konnte er auch nicht die kleinen Falten in ihrem Gesicht sehen, so daß es glatter und jugendlicher erschien, als es in Wirklichkeit war.

Aufs höchste erstaunt und interessiert betrachtete er Marie Fioli, als sie hereinkam. Er konnte sich zwar noch auf das schlanke junge Mädchen besinnen, das er vor einigen Monaten kennengelernt hatte, aber sie hatte sich inzwischen sehr verändert. Eine Frau konnte man sie noch nicht nennen, aber sie war unter keinen Umständen mehr ein Kind. John war geradezu begeistert von ihrem Aussehen. Als er sie das letztemal gesehen hatte, war sie jungenhaft schlank, etwas ungelenk und befangen gewesen. Aber nun bewegte sie sich harmonisch und natürlich, anmutig und formvollendet.

Es wurde eine kurze Andacht abgehalten, aber Morlay hörte die Worte der Direktorin nicht; er konnte den Blick nicht von Maries Gesicht abwenden. Und je länger er zu ihr hinüberblickte, um so verächtlicher und gemeiner erschien ihm die kaltblütige Art, mit der sich Julian Lester in den Besitz ihres Vermögens setzen wollte. Der Auftrag, den ihm der junge Mann erteilt hatte, war häßlich. John Morlay wollte nichts damit zu tun haben.

Als die Andacht vorüber war, traten Mrs. Carawood und Marie Fioli aus der Galerie in den Gang. Die alte Frau war immer in einer gewissen Hochstimmung, wenn sie bei der jungen Gräfin weilen durfte. Sie bemerkte den Fremden, der in ihrer Nähe stand und sie beobachtete. Es war ein großgewachsener, schlanker, hübscher Mann, der sie freundlich anlächelte.

»Ich habe doch die Ehre, Gräfin Fioli vor mir zu sehen?« fragte er höflich und hielt den Hut in der Hand.

Marie sah ihn einen Augenblick überrascht an, dann lachte sie leise.

»Ach, ich besinne mich auf Sie – Sie sind doch Mr. Morlay?«

Er war erstaunt, daß sie sich noch an ihn erinnerte.

»Mr. Lester hat Sie mir doch bei Rumpelmeyer vorgestellt.«

Allmählich glättete sich die Stirn der älteren Frau wieder, und John glaubte zu bemerken, daß sie erleichtert aufatmete. Sie gingen zusammen bis zum äußeren Schultor, wo das junge Mädchen unversehens Mrs. Carawood umarmte und küßte. Dann nickte sie John noch einmal lächelnd zu und verschwand im Haus.

Einige Sekunden schwiegen die beiden anderen. Mrs. Carawood schaute noch auf die Tür, in der Marie verschwunden war.

John staunte, daß diese Frau die junge Gräfin so sehr verehrte. Schon dieses kurze Zusammensein hatte sie in freudige Erregung gebracht.

»Sie haben Ihre kleine Freundin sicher sehr gern?« sagte er freundlich.

Sie schrak zusammen und wandte sich nach ihm um.

»Ja, ich habe sie gern«, erwiderte sie. »Es ist, als ob sie mein eigenes Kind wäre.«

»Ich habe gehört, daß sie die Schule bald verlassen wird?«

Sie nickte.

»Nächste Woche. Sie wird jetzt ihren eigenen Haushalt führen.«

Mrs. Carawood erklärte das mit einem gewissen Stolz.

»Ist sie nicht noch etwas sehr jung, um schon ihr eigenes Haus in Ascot zu halten? Oder geht sie vielleicht vorher noch nach Italien?«

Ihre Blicke trafen sich, und er sah, daß sie argwöhnisch wurde.

»Nein«, erklärte sie kurz. Aber als ob sie ihren scharfen Ton bedauerte, fügte sie gleich hinzu: »Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Sie ist wirklich noch sehr jung.«

»Zu jung, um zu heiraten«, entgegnete Morlay.

Er hätte vor allem gern erfahren, ob sie die Annäherungsversuche dieses eleganten Taugenichts Lester begünstigte, und seine unausgesprochene Frage wurde beantwortet, als er in ihr düsteres Gesicht sah.

»Ja, noch viel zu jung«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Außerdem hat Marie auch nicht den Wunsch, von mir fortzugehen.«

Er konnte nicht gut noch länger bleiben, zog höflich den Hut und entfernte sich. Sie sah ihm nach, bis er um die nächste Ecke bog, und wandte sich dann an den Portier.

 

»Wer war eigentlich der Herr, Mr. Bell?«

»Meinen Sie den Mann, mit dem Sie eben sprachen?«

Sie nickte.

»Das ist Mr. Morlay. Er kam vor zwei Jahren einmal hierher. Man hatte ihn gerufen, damit er einen Betrug aufdecken sollte. Er ist nämlich so eine Art Privatdetektiv ...«

Ihre Hand zitterte plötzlich, und ihr Gesicht wurde grau. Der Portier sprach noch weiter über Mr. Morlay, aber sie hörte seine Worte nicht.

Ein Privatdetektiv! Ihr Herz schlug wild, während ihre Lippen noch einmal leise das Wort formten. Ein Privatdetektiv!

4

John Morlay bog in die breite Hauptstraße ein, die zu beiden Seiten von hohen Bäumen umsäumt wurde. Ab und zu blieb er vor einem der hübschen Läden stehen, aber er sah nichts von den ausgestellten Gegenständen. Nur Maries Bild stand ihm immer vor Augen. Bisher hatte er sich um Frauen sehr wenig gekümmert und sich fast ausschließlich seinem Beruf und dem Sport gewidmet.

»Es war nicht richtig, daß ich hierherkam«, sagte er sich.

Während der Rückfahrt nach London dachte er über das Problem nach, das durch den Besuch Julian Lesters in sein Leben getreten war. Aufgrund seiner vielfachen Erfahrungen besaß er gute Menschenkenntnis und war deshalb fest davon überzeugt, daß Mrs. Carawood ein durchaus ehrlicher, aufrichtiger Charakter war.

Es war schon spät, als er in seiner Wohnung ankam. Er hatte im Zug zu Abend gegessen, schlüpfte nun in Hausjacke und Pantoffeln und setzte sich mit einem Buch in einen Lehnsessel, um sich die Zeit bis zum Schlafengehen zu vertreiben.

Aber die Lektüre fesselte ihn nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen legte er den Band beiseite und begann über das Verhalten Mrs. Carawoods nachzudenken.

Plötzlich klingelte es an der Haustür, und nach einiger Zeit erschien sein Diener und meldete einen Besucher an, den John um diese Stunde am wenigsten zu sehen wünschte.

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe, alter Freund«, sagte Julian, als er mit seinem stereotypen Lächeln ins Zimmer trat. Er trug einen Abendanzug. »Ich habe mit der Familie Weirs zu Abend gegessen. Ich rief Sie an, um Sie auch einzuladen, aber Sie waren nicht zu Hause. Geht die Uhr auf dem Kamin richtig? Dann ist es ja schon zehn.«

Er hatte den Frackmantel vorsichtig über die Lehne des Sofas gelegt und setzte sich nun in den bequemen Sessel.

»Ihr Diener erzählte mir, daß Sie nach Cheltenham gefahren seien. Außerordentlich liebenswürdig von Ihnen. Nach Ihrem Verhalten neulich im Büro dachte ich nicht, daß Sie bereit wären, den Fall zu übernehmen.«

»Darin haben Sie sich auch nicht getäuscht. Ich habe nicht die Absicht, Ihren Auftrag auszuführen.«

Lester runzelte die Stirn.

»Sie wollen mir nicht helfen?«

»Ich will Ihnen wenigstens eine Aufklärung geben«, sagte John langsam. »Mrs. Carawood ist meiner vollen Überzeugung nach eine durchaus ehrliche Frau. Wenn Marie Fioli überhaupt ein Vermögen besitzt, dann ist es vollkommen sicher in den Händen ihrer Erzieherin, genauso sicher, als ob es auf der Bank von England läge.«

Julian lächelte.

»Für einen Mann mit Ihrer großen Erfahrung –«

»Bei meiner Menschenkenntnis«, unterbrach ihn John, »fällt es mir leicht, einen Verbrecher zu durchschauen, ganz gleich, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt. Und ich sage Ihnen, ich habe die größte Achtung vor Mrs. Carawood.«

»Haben Sie sie eingehend nach allem gefragt?«

John füllte seine Shagpfeife und grinste.

»Selbstverständlich. Ich habe sie auf die Folterbank gespannt, und dann hat sie zugegeben, daß sie ehrlich ist! Meinen Sie, ich wäre so blöd, daß ich hinginge und sie geradewegs fragte? Daß ich sie traf, war ein Zufall – allerdings habe ich ihn herbeigeführt.«

»Haben Sie auch Marie gesehen?« fragte Julian eifrig.

»Ja.«

»Was halten Sie von ihr?«

»Meiner Meinung nach ist sie« – er zögerte einen Augenblick –, »sehr, sehr lieb. Außerdem bin ich davon überzeugt, daß sie für Sie viel zu jung ist.«

Auf Julian machten diese Worte wenig Eindruck. Er war es gewohnt, daß sich die Leute ihm gegenüber unfreundlich und abweisend verhielten.

»Möglich«, erwiderte er langsam. »Wenn wir alles mit der Goldwaage wiegen wollten, paßten die Leute überhaupt nicht zusammen, mein Lieber. Ich habe Sie wirklich nicht engagiert, um das zu entdecken.«

»Ich möchte vor allem zunächst klarstellen, daß Sie mich nicht engagiert haben. Es war eine Laune von mir, daß ich nach Cheltenham fuhr. Und ich wiederhole noch einmal, daß ich den Fall nicht übernehme.«

Julian seufzte.

»Dann muß ich zu einem anderen gehen«, sagte er mißmutig. »Sie behandeln mich wirklich nicht liebenswürdig, John. Man sagt, Sie seien so unendlich klug und gewandt und könnten mit Leichtigkeit die Geheimnisse anderer Leute herausbringen. Deshalb dachte ich, dieser Fall müßte für Sie interessant sein. Wenn es sich nur um die Höhe des Honorars handelt, das Sie dafür beanspruchen –«

»Nein, darauf kommt es nicht an. Es ist eine Prinzipienfrage. Erstens übernehme ich derartige Aufträge nicht. Zweitens spioniere ich junge Mädchen nicht aus, ebensowenig eine ehrbare Frau, die sich um die Erziehung einer ihr anvertrauten Person bemüht. Wenn Sie etwas wissen wollen, dann gehen Sie doch zu Mrs. Carawood und fragen sie.«

»Das tue ich nicht, denn sie lügt mich doch nur an. Außerdem würde ihr Argwohn erregt werden. Das ist der schlechteste Rat, den Sie mir geben können!«

»Glauben Sie?« erwiderte John ironisch und strich mit der Hand nachdenklich übers Kinn.

»Sie lehnen also die Bearbeitung des Falles definitiv ab?«

»Ja. Ich will nichts damit zu tun haben«, erklärte John energisch.

»Wenn Sie mehr mit Damen verkehrten, würde ich sagen, daß Sie sich in Marie verliebt haben«, meinte Julian und seufzte tief.

»Sie wissen doch, daß ich mir aus Frauen nicht viel mache«, entgegnete John kurz und öffnete dann die Tür, so daß Julian nichts übrigblieb, als fortzugehen.

5

Mrs. Carawood wurde Tag und Nacht von dem Gedanken gequält, daß Mr. John Morlay ein Privatdetektiv war. In ihrem kleinen Büro in der Penton Street dachte sie dauernd darüber nach. Diese Entdeckung hatte sie in panischen Schrecken gestürzt, und sie hatte sich von ihrem Entsetzen noch nicht wieder erholen können. Aber sie war jetzt wenigstens fähig, klar und vernünftig zu überlegen. Einen Entschluß hatte sie gefaßt: Sie mußte alles daransetzen, diesen jungen Mann auf ihre Seite zu ziehen. Er mußte ihr Freund werden, er durfte nicht eine unheimliche Drohung für sie bleiben. Aber wie sollte sie dieses Ziel erreichen?

Er mochte Marie gern. Einen kurzen Augenblick hatte sie gesehen, wie er das junge Mädchen voll aufrichtiger Bewunderung und Verehrung anschaute. Gefühlsmäßig wußte sie, daß er nur nach Cheltenham gekommen war, um Marie zu sehen. Wer hatte ihm den Auftrag dazu gegeben? Die Familie Fioli war nahezu ausgestorben; es gab keine Mitglieder des alten Adelsgeschlechts, die sich für das Mädchen interessieren konnten. Manchmal war dieser schreckliche Gedanke allerdings schon in ihr aufgetaucht.

Aber wenn andere Leute Privatdetektive bezahlen konnten, um die Geheimnisse um Marie zu lüften, konnte sie denn nicht auch derartige Leute engagieren, um sie zu hüten? Am Montag ging sie zu ihrem Rechtsanwalt und fragte ihn nach der Firma Morlay aus. Sie erfuhr, daß John bei seinen Geschäftsfreunden den besten Ruf genoß, und hielt es nun für ausgeschlossen, daß er eine Gefahr für sie bedeutete. Rasch entschied sie sich dafür, geradewegs in die Höhle des Löwen zu gehen.

John Morlay war aufs höchste erstaunt, als sie ihm gemeldet wurde. Er schob seine Arbeit zur Seite und erhob sich.

»Das ist aber ein unerwartetes Vergnügen, Mrs. Carawood«, begrüßte er sie freundlich.

Ihre Lippen und ihr Gaumen waren trocken, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sprechen konnte.

»Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit, Mr. Morlay«, erwiderte sie nervös.

»Es tut mir leid, das zu hören«, entgegnete er lächelnd, während er ihr einen Stuhl hinschob. »Alle Leute, die herkommen, haben ihre Sorgen, und sie kommen erst dann zu mir, wenn sie von anderen Leuten rücksichtslos beschwindelt worden sind.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht beschwindelt worden – und ich glaube auch nicht, daß mich so leicht jemand betrügen kann.«

Aus dieser Bemerkung schloß er, daß sie mit ihren geschäftlichen Erfolgen und ihrer Tüchtigkeit zufrieden sein konnte.

»Nein, ich wollte Sie wegen einer anderen Sache fragen –«

Sie machte eine Pause, und er sah sie erwartungsvoll an.

»Es handelt sich um Mylady.«

»Ach, Sie meinen die Gräfin Fioli?«

Sein Interesse stieg aufs höchste, als sie nickte.

»Sie ist doch nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten?«

»Nein. Mylady versteht nichts von Geschäften. Es ist – es ist etwas anderes.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Wie Sie sicher wissen, bin ich die Sachverwalterin für Mylady und kümmere mich auch um ihr Wohl und ihre Erziehung. Als ihre Mutter starb, war Mylady nur ein paar Wochen alt. Die Gräfin übergab mir das Kind, und ich habe ihr versprochen, alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Und seit dieser Zeit habe ich für Mylady gesorgt.«

»Sie sind wohl Witwe?«

»Ja, ich stehe allein; ich habe keinen Menschen, auf den ich mich verlassen kann. Nicht einmal meinem eigenen Rechtsanwalt kann ich sagen, was ich Ihnen mitteilen möchte, Mr. Morlay, und gerade in diesem Augenblick fühle ich so sehr, daß ich die Hilfe eines Mannes brauche.«

Sie machte wieder eine Pause. Als sie von zu Hause fortging, war ihr der Plan so überzeugend erschienen, aber nun fiel es ihr schwer, davon zu sprechen.

»Ich brauche jemanden, der die Interessen der jungen Gräfin wahrnimmt«, sagte sie schnell, »jemanden, an den ich mich wenden kann, wenn es Schwierigkeiten und Sorgen geben sollte. Und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«

Er war erstaunt über ihren Vorschlag, denn ein solches Angebot hatte er am letzten erwartet. Und er wollte auch nicht Beschützer und Schutzengel der Gräfin Fioli spielen.

»Ich weiß nicht recht, wie Sie das meinen, Mrs. Carawood.«

»Ach, Sie verstehen mich doch ganz gut«, sagte sie hartnäckig. »Wenn andere Leute Sie engagieren können, um Nachforschungen über die Gräfin anzustellen –«

»Es hat mich niemand zu diesem Zweck engagiert«, unterbrach er sie. »Ich war nur neugierig, weil ich soviel von ihr gehört hatte.«

Sie wußte instinktiv, daß das nur zu einem Teil wahr sein konnte, und vermutete, daß ihm tatsächlich ein Angebot gemacht worden war, das er aber abgelehnt hatte.

»Ich habe mich wahrscheinlich nicht gut ausgedrückt, ich habe nicht die Bildung wie Sie«, erwiderte sie ein wenig hilflos. »Aber es ist doch schließlich nichts Besonderes, um was ich Sie bitte. Jeder Gentleman könnte das doch tun. Vielleicht handle ich nicht richtig, aber ich brauche einen Beschützer für das Mädchen. Mr. Morlay, ich kann Sie dafür bezahlen, ich bin nicht arm.«

John lehnte sich in seinem Sessel zurück und beobachtete sie.

»Ich glaube, ich verstehe Sie jetzt. Es ist Ihr Wunsch, daß ich in gewisser Weise auf die junge Gräfin aufpasse. Es ist nicht ungewöhnlich, daß reiche Leute Privatdetektive für solche Zwecke anstellen. Aber leider ist das nicht mein Fach.«

Er sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht.

»Es wird mir aber ein Vergnügen sein, wenn ich eine derartige Tätigkeit ehrenhalber übernehmen darf«, fuhr er fort. »Das heißt, wenn Sie es gestatten und wenn es der jungen Dame selbst nicht unangenehm ist.«

»Sie wollen mir also helfen, aber keine Bezahlung dafür annehmen?« fragte sie eifrig.

»Sie haben mich vollkommen richtig verstanden.«

Er lächelte sie an, aber sie schüttelte den Kopf.

»Die Sache soll rein geschäftlich zwischen uns geregelt werden. Ich möchte nicht, daß Sie es umsonst tun, sonst würde ich das unangenehme Gefühl nicht los, daß –«

Sie zögerte und suchte nach den rechten Worten.

»Daß Sie mir verpflichtet sind?« ergänzte er nach einer kurzen Pause. »Aber was würde denn die Gräfin Fioli dazu sagen, wenn sie einen bezahlten Freund hätte?«

 

Der Gedanke war ihr noch nicht gekommen, und sie überlegte.

»Marie würde nichts dagegen haben«, erwiderte sie schließlich, »wenn ich es gern sehe. Wollen Sie es für mich tun?«

Es war eigentlich ein ziemlich phantastischer Plan. Bei ruhigem Nachdenken hätte er ihn wohl doch noch abgelehnt. Aber Mrs. Carawood bat so dringend und sah ihn so flehentlich an, daß er nicht ruhig nachdenken konnte.

»Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht«, entgegnete er kurz. »Nun sagen Sie mir aber auch genau, welche Pflichten ich habe.« Das hatte sie sich vorher schon überlegt.

»Sie wird ein paar Monate in Ascot wohnen – ich habe dort ein Haus für sie gekauft. Selbstverständlich sollen Sie nicht dauernd in Ascot sein, und auch sie bleibt nicht für immer dort. Wenn sie aber in London ist, möchte ich Sie bitten, sie zu begleiten. Ich weiß nicht, was alles passieren wird, aber ich fühle« – sie drückte die Hand aufs Herz –, »daß Marie Schweres bevorsteht. Und ich möchte jemanden haben, auf den ich mich verlassen kann, der mir hilft, wenn Schwierigkeiten entstehen.«

Ein merkwürdiger Vorschlag. Er sollte ein junges Mädchen ausführen und ihren Beschützer spielen. Und dabei kannte er Marie Fioli doch nur ganz oberflächlich. John war über sich selbst erstaunt, daß er auf diesen sonderbaren Plan einging. Im Grund seines Herzens fand er sogar großen Gefallen an diesen Aussichten für die Zukunft.

Auf dem Rückweg wiederholte sich Mrs. Carawood noch einmal jedes Wort ihrer Unterhaltung mit Morlay. Es kamen ihr zwar leise Zweifel, aber im Augenblick war sie beruhigt, daß sie die Gefahr sofort erkannt und beseitigt hatte. Nun besaß sie einen Verbündeten statt eines Gegners, der ihr sehr gefährlich hätte werden können.

Als sie ihren Laden in der Penton Street erreichte, fand sie dort wie gewöhnlich Mr. Fenner vor, der in ein eifriges Gespräch mit Herman verwickelt war.

Mr. Fenner war ein Schreinermeister mit merkwürdigen, anarchistischen Anwandlungen, im übrigen aber ein kluger, tüchtiger Mann. Er sprach wie jemand, der gewohnt ist, als öffentlicher Redner aufzutreten. Meistens war sein Gesicht düster; er haßte den Adel und setzte sich für die Arbeiterklasse ein. Aber Mrs. Carawood nahm ihn in der Beziehung nicht ganz ernst. Jeden Abend, wenn er mit der Arbeit fertig war und zufällig nicht auf einer Versammlung sprach, machte er einen Besuch in der Penton Street. Um eine Entschuldigung für seine Anwesenheit war er nie verlegen. Er hatte den Parkettboden gelegt und die Wände mit Paneel verkleidet, und er war so zuvorkommend, daß er eine Bezahlung für seine Arbeit ablehnte. Aber in diesem Punkt blieb Mrs. Carawood fest; sie ließ sich nichts schenken. Im Lauf der Auseinandersetzung kam es sogar so weit, daß sie ihn aufforderte, den Laden zu verlassen. Dann einigten sie sich aber doch.

»Guten Abend, Mrs. Carawood«, sagte Fenner. »Es ist schade, daß Sie nicht schon vorher hier waren, ich habe Herman gerade wieder einmal ein klares Bild der reichen Leute gezeichnet.«

»Es wäre besser, wenn Sie ihn in Ruhe ließen. Und machen Sie den Mund nicht so weit auf! Sie haben mir doch erst vorige Woche erzählt, daß Sie selbst sechshundert Pfund auf der Bank haben.«

»Das ist eine vollkommen irrige Auffassung, das ist kein Kapital, das sind Ersparnisse!« entgegnete Fenner ruhig.

Herman lachte laut auf.

Mr. Fenner sah den jungen Mann mitleidig an, sagte aber nichts.

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