Die gelbe Schlange

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7

Mr. Grahame St. Clay«, stellte Spedwell den Fremden noch einmal vor. Mechanisch streckte Narth seine Hand aus.

Bis zu diesem Augenblick waren für Stephen Narth alle Chinesen gleich. Aber als er in die tiefbraunen Augen dieses Mannes sah, wurde ihm klar, daß er sich von allen anderen unterschied. Er konnte nur nicht genau sagen, wie. Seine Augen standen weit auseinander, seine Nase war dünn und lang, die schmalen Lippen unterschieden ihn von allen anderen seiner Landsleute, die er gewohnt war, mit dem mongolischen Typ zu bezeichnen. Vielleicht gab das volle Kinn Grahame St. Clay ein anderes Aussehen. Besonders beim Sprechen unterschied er sich stark von anderen Chinesen, die Stephen North jemals gesehen oder gehört hatte.

»Ist dies Mr. Narth?« fragte er. »Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wirklich, ich denke, daß sie mir manche Vorteile bringen wird.«

Seine Sprache war die eines wohlerzogenen Mannes mit einem leicht nasalen Anflug und übertrieben korrekter Aussprache, wodurch sich Leute auszeichnen, die auf einer höheren Schule erzogen sind und ihre Studien an einer größeren Universität vollendet haben.

»Kann ich Platz nehmen?«

Narth nickte schweigend, und der Ankömmling legte eine schöne Ledermappe vor sich auf den Tisch.

»Sie sind ein wenig bestürzt, da Sie sehen, daß ich ein Chinese bin.« Mr. St. Clay lachte leise bei diesen Worten. »›Gelbe Gefahr‹, das ist doch wohl der Ausdruck, den man gewöhnlich für uns braucht, nicht wahr? Doch ich muß sehr dagegen protestieren, daß man mich eine Gefahr nennt, da ich der gutmütigste Mensch bin, der jemals von China hierherkam«, sagte er gutgelaunt.

Während er dies sagte, öffnete er seine Mappe und zog ein flaches Paket daraus hervor, das mit einem roten Band verschnürt war. Äußerst sorgfältig entfernte er die Schnur, nahm die oberste Lage von steifer Pappe weg und enthüllte vor den Augen Stephen Narths ein dickes Bündel Banknoten. Narth konnte von seinem Sitz aus sehen, daß es Tausendpfundscheine waren.

»Fünfzig, denke ich, beträgt die Summe, die Sie benötigen«, sagte Mr. St. Clay. Mit der Geschicklichkeit eines Bankkassierers zählte er die erforderliche Zahl ab und legte das kleine Bündel auf die Seite. Behutsam verpackte er den übrigen Stoß Banknoten wieder und legte ihn in die Mappe zurück. »Wir sind doch alle Freunde hier, denke ich.« Mr. St. Clay sah von einem zum andern. »Ich kann doch hier frei sprechen.«

Narth nickte.

»Nun wohl.« Er faltete zum Erstaunen Narths die Banknoten zusammen und steckte das Geld in seine Westentasche. »Natürlich ist eine Bedingung an die Verleihung des Geldes geknüpft. Selbst ich, nur ein Chinese ohne banktechnische Ratgeber, kenne mich doch so weit in den Handelsgebräuchen aus, daß ich diese große Summe nicht ohne eine Bedingung ausleihen könnte. Frei heraus gesagt, Mr. Narth, ich verlange von Ihnen, daß Sie einer der Unseren werden.«

»Einer der Ihrigen?« fragte Narth langsam. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie sagen.«

Spedwell vervollständigte die Information.

»Mr. St. Clay hat eine große Organisation in diesem Lande geschaffen. Es ist eine Art von –« Er machte eine Verlegenheitspause.

»Geheimgesellschaft!« vollendete Mr. St. Clay höflich. »Klingt das nicht sehr mysteriös und abschreckend? Aber in Wirklichkeit hat das nichts zu sagen. Ich habe mir ein bestimmtes Lebensziel gesetzt, und dazu brauche ich die Hilfe intelligenter Männer, denen ich vertrauen kann. Wir Chinesen haben mehr oder weniger die Eigenschaft von Kindern. Wir lieben Pomp und Geheimniskrämerei. Wir sind tatsächlich die wirklichen Exoten in der Welk, besonders spielen wir gerne mit den Dingen, und die ›Freudigen Hände‹ sind – frei heraus gesagt – meine Erfindung. Unser Ziel ist es, das chinesische Volk in die Höhe zu bringen und gleichsam Licht in der Finsternis zu verbreiten.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Und außerdem noch allerhand ähnliche Dinge.«

Stephen Narth lächelte.

»Das scheint ein sehr lobenswertes Ziel zu sein. Ich werde mich freuen, mich Ihnen anschließen zu können.«

Die dunklen Augen des Chinesen hatten eine fast hypnotische Gewalt. Sie durchbohrten ihn eine Sekunde lang, so daß er das schreckenerregende Gefühl hatte, daß er augenblicklich seinen Willen einer größeren, aber wohlwollenden Macht unterstellt hatte. Denn das war das Merkwürdige an dem Chinesen, daß er eine Atmosphäre des Wohlwollens um sich verbreitete.

»Also, es ist gut«, sagte Mr. St. Clay einfach, zog das Paket Banknoten aus seiner Tasche und legte es höflich auf den Tisch. Dabei wehrte er ab. »Nein, nein – ich brauche keine Quittung. Zwischen Gentlemen ist das vollkommen unnötig. Haben Sie etwa einen Grad in Oxford oder Cambridge erreicht? – Ach, das ist schade. Ich ziehe es vor, mit Leuten zu verkehren, die durch dieses Band gewissermaßen mit mir verknüpft sind. Aber es genügt mir, daß Sie ein Gentleman sind.«

Er stand plötzlich auf.

»Ich denke, das ist alles. In drei Tagen werden Sie mehr von mir hören, und ich muß Sie bitten, daß Sie sich von irgendwelchen Verabredungen und Geschäften zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit im Laufe der nächsten Woche frei halten. Ich hoffe, diese Bedingung ist nicht zu beschwerlich?«

Lächelnd stellte er diese Frage.

»Durchaus nicht«, sagte Stephen Narth und nahm mit zitternden Händen das Geld an sich. Es war ihm unmöglich, den Grund seiner Erregung anzugeben.

»Mr. St. Clay, ich muß Ihnen meinen tiefgefühlten Dank aussprechen. Sie haben mich aus einer sehr verzweifelten Lage befreit. Wie verzweifelt sie eigentlich war, können Sie gar nicht wissen.«

»Ich weiß alles«, sagte der Chinese ruhig.

Plötzlich erinnerte sich Stephen an etwas.

»Warum nannte er Sie denn ›Gelbe Schlange‹?«

Der Chinese starrte ihn mit großen Augen an und dachte, daß er nicht recht gehört habe, so daß Stephen seine Frage wiederholen mußte.

»Mr. Clifford Lynne nannte mich so«, sagte St. Clay langsam.

Nur einen kurzen Augenblick zeigte das unergründliche Gesicht dieses Mannes, daß der unbewußt gegen ihn gerichtete Pfeil ihn schwer verwundet hatte.

»Gelbe Schlange ... wie gemein! Wie ähnlich sieht das Clifford Lynne!«

Sofort nahm er sich wieder zusammen, und mit einem tiefen, wohllautenden Lachen griff er nach seiner Mappe.

»Sie werden von mir hören –« begann er.

»Noch einen Augenblick, Mr. St. Clay«, sagte Narth. »Sie sprachen von dem Ziel Ihres Bundes. Was ist denn dieses Ziel eigentlich?«

Der Chinese sah ihn einen Augenblick gedankenvoll an. »Die Herrschaft der Welt!« sagte er einfach. Mit einem Kopfnicken wandte er sich und ging.

Auf diese Weise trat Grahame St. Clay, Bachelor of Arts, in das Leben Stephen Narths ein, und von diesem Augenblick an war sein Geschick mit Stahlklammern an den Willen eines Mannes gebunden, der ihn zuerst beherrschte und dann zugrunde richtete.

8

Joan Bray war gewöhnt, früh aufzustehen, und bei ihrer Stellung im Narthschen Haushalt war das auch notwendig. Mr. Narth hatte keinen Hausmeister angestellt. Seiner Meinung nach war das eine unnötige Ausgabe, solange Joan die Arbeit versehen konnte. Nach und nach hatte sie alle die Pflichten auf sich genommen, die einem Hausmeister zustanden, ohne auch nur den geringsten Entgelt dafür zu erhalten. Sie vermittelte zwischen der Dienerschaft und der Familie. Sie regelte die großen monatlichen Abrechnungen mit den Kaufleuten und hatte dafür die heftigsten Auseinandersetzungen mit Mr. Narth auszuhalten, der jede Ausgabe für den Haushalt als eine unnötige Geldverschwendung ansah.

Ihr Tag war ganz mit Tätigkeit ausgefüllt. Sie hatte sich angewöhnt, um sechs Uhr aufzustehen, um morgens eine Stunde in der frischen Luft zuzubringen, bevor die Pflichten des Haushaltes sie ganz in Anspruch nahmen. Der gestrige Regen hatte den Boden aufgeweicht, und die Luft war abgekühlt. Aber es war ein herrlicher Morgen, der zum Spazierengehen einlud. Ein azurblauer Himmel wölbte sich über die Landschaft, er war mit weißen Spitzenwolken behängt.

Ihr Morgenspaziergang hatte heute ein ganz besonderes Ziel. Das große Ereignis in Slaters Cottage war das Tagesgespräch in Sunningdale. Sie hatte von ihrem Fenster aus gestern Abend gesehen, wie beladene Lastwagen heranfuhren und im Gehölz verschwanden. In der Nacht erlebte sie ein seltsames und anregendes Schauspiel. Ihre Wohnung war nahe genug an Slaters Cottage, daß sie den Klang der Hämmer und Spitzhacken hören konnte. Die schwarzen Schatten der Baumgruppen hoben sich phantastisch von dem unheimlich rötlichen Licht der qualmenden Naphthalampen ab.

Mr. Narth war über diese außerordentliche Geschäftigkeit in seiner nahen Nachbarschaft sehr ungehalten. Gestern Abend spät hatte er noch einen Gang nach Slaters Cottage unternommen und einmal nachgesehen, wie weit Clifford Lynne seine Verrücktheit treiben wollte. Bis jetzt wußte Joan nur vom Hörensagen, was in dem Landsitz vorging, und nun hatte sie Gelegenheit, sich persönlich nach dem Stand der Dinge umzusehen. Sie bog von der Landstraße ab und nahm den Weg nach Slaters Cottage. Aber weit kam sie nicht. Eine Gruppe von Männern war damit beschäftigt, den frisch angelegten Weg mit einer Teerlösung zu bestreichen. Drei schwerbeladene Lastwagen sperrten den Zugang zum Wohnhaus, das von Leuten wimmelte und sie an einen aufgestörten Ameisenhausen erinnerte. Der Baumeister des Ortes, den sie persönlich gut kannte, kam lächelnd auf sie zu.

»Miß Joan, was denken Sie von all diesen Dingen? Es ist doch ein Unsinn, wenn man ein kleines Landhaus, das kaum hundert Pfund wert ist, für tausend Pfund repariert?«

 

Sie konnte nur staunen. Während der Nacht waren das Dach und die Sparren abgedeckt worden, so daß nur das reine Skelett des Hauses übrigblieb.

»Wir haben die Fußböden herausgenommen, die Rohrleitung ist heute morgen um vier Uhr fertig geworden«, sagte der Baumeister stolz. »Im Umkreis von zwanzig Meilen habe ich jeden verfügbaren Arbeiter angestellt.«

»Aber warum in aller Welt macht Mr. Lynne das?« fragte sie.

»Ach, Sie kennen ihn?« fragte der Mann erstaunt, während sie errötete. Sie konnte ihm doch unmöglich erklären, daß Slaters Cottage später einmal ihr Heim werden sollte (wie sie sich augenblicklich einbildete), und daß dieser exzentrische Bauherr ihr späterer Gatte sei.

»Ja, ich kenne ihn«, sagte sie verlegen. »Er ist – ein Freund von mir.«

»Oh!«

Sichtlich nahm diese Entdeckung einen großen Teil der Zutraulichkeit des Baumeisters. Aber Joan konnte sich schon denken, was er hätte sagen wollen.

Sie mußte herzlich lachen, als sie auf die Straße zurückkam. Dieser launenhafte Wiederaufbau von Slaters Cottage in einer solchen Geschwindigkeit war gerade das, was sie von Clifford Lynne erwartet hatte. Warum sie das tat, wußte sie selbst nicht. Aber es schien, als ob er gerade ihr sein innerstes Wesen gezeigt hätte, und sie die einzige in der Familie war, die ihn verstand.

Sie hörte ein Trappeln von Pferdehufen hinter sich und bog seitlich aus.

»Guten Morgen, Joan!« hörte sie seine tiefe, wohllautende Stimme.

Erstaunt drehte sie sich um. Sie sah den Mann vor sich, mit dem sich ihre Gedanken eben so sehr beschäftigt hatten. Er ritt auf einem alten, zottigen Pony mit schläfrigen Augen. Das Pferd sah genau so zerzaust aus wie er selbst.

»Wieviel Mühe muß es Sie gekostet haben, ein Pferd zu finden, das so gut zu Ihnen paßt! Auch habe ich Ihr Auto gesehen, das Ihrem sonstigen Stil so gut entspricht.«

Clifford Lynne kniff die Augen zusammen, als ob er lachen wollte, aber man hörte keinen Laut. Sie hätte allerdings darauf geschworen, daß er sich innerlich vor Lachen schüttelte.

»Sie sind gerade nicht sehr höflich«, sagte er, als er vom Pferde absprang, »und obendrein aggressiv! Aber wir wollen keinen Streit anfangen, bevor wir verheiratet sind. Wo haben Sie eigentlich mein Auto gesehen?«

Auf diese Frage antwortete sie ihm nicht.

»Warum mühen Sie sich ab, dieses schreckliche, alte Landhaus neu aufzubauen. Mr. Carter, der Baumeister, sagte, es würde Sie Tausende kosten.«

Eine Weile sah er sie an, ohne zu sprechen, indem er mit seinem Barte spielte.

»Ich habe mir das so schön ausgedacht«, sagte er. »Ich bin nämlich etwas exzentrisch veranlagt. Wenn man so lange in einem heißen Klima lebt, ist es leicht möglich, daß der Verstand etwas darunter leidet. Ich habe eine Menge solcher Menschen kennengelernt. Auch finde ich es recht romantisch«, sagte er belustigt. »Ich habe mir gedacht, man müßte auch einige Kletterrosen und Geißblatt ans Haus pflanzen und dann einen schönen Gemüsegarten anlegen! Hühner gehörten auch hierher – ach, sagen Sie mir doch, haben Sie Hühner gerne?« fragte er so unschuldig wie möglich. »Wissen Sie, schwarze Dorkings oder weiße Wyandottes oder irgendeine andere Sorte. Oder mögen Sie Enten lieber?«

Sie hatten das Ende der Straße erreicht. Das zottige Pony war gehorsam gefolgt.

»Der alte Bray war so darauf versessen, daß Sie eine aus unserer Familie heiraten sollten, stimmt das?«

Diese Frage kam ihm so plötzlich und unerwartet, daß er einen Augenblick ganz verdutzt war.

»Warum fragen Sie eigentlich? Wenn Sie es durchaus wissen wollen – ja«, sagte er.

»Und Sie hatten Mr. Bray sehr gerne?«

Er nickte.

»Sehen Sie, ich lebte so lange mit ihm zusammen, und er war wirklich ein zu netter, alter Kerl. Wie ich die Cholera hatte, pflegte er mich persönlich, und hätte ich ihn damals nicht gehabt, so wäre ich abgekratzt, wie man so zu sagen pflegt. Ich hatte ihn wirklich gern.«

»Sie hatten ihn so gern,« sagte sie herausfordernd, »daß, als er Sie darum bat, nach England zu gehen und eine seiner Verwandten zu heiraten, Sie ihm das feierlich versprachen –«

»Das habe ich nicht direkt getan«, unterbrach er sie. »Ich habe kein Versprechen für lange Zeit auf mich genommen. Aber, um Ihnen einmal die Wahrheit zu sagen, ich dachte, er wäre verrückt.«

»Aber Sie haben es ihm doch versprochen«, sagte sie hartnäckig. »Und soll ich Ihnen sagen, was Sie ihm noch dazu versprochen haben?«

Er schwieg.

»Sie verpflichteten sich dem armen Joe Bray gegenüber, daß Sie nichts sagen würden, was die junge Dame, die Sie heiraten sollten, abstoßen und seine Pläne durchkreuzen könnte!«

Für einen kurzen Augenblick war der Mann mit dem langen Bart vollständig verwirrt.

»Hellseherei habe ich nie gern gehabt, das sieht der Hexerei zu ähnlich. Ich kenne nämlich eine alte Frau oben im Lande in der Nähe von Kung-chang-fu, die –«

»Weichen Sie mir nicht aus, Mr. Lynne. Also Sie versprachen Mr. Bray, daß, wenn sich in der Verwandtschaft eine junge Dame finden würde, die Sie heiraten könnten, Sie nichts sagen würden, um sie abzustoßen, und keine Abneigung gegen diese Heirat zeigen würden.«

Er kraute sich den Bart.

»Schon gut, es ist ja möglich, daß Sie recht haben«, gestand er. »Aber ich habe nichts gesagt«, fügte er schnell hinzu. »Habe ich Ihnen vielleicht gesagt, daß ich ein Hagestolz bin und die Ehe nicht leiden kann? Habe ich Ihnen etwa erzählt, daß der alte Joe Bray mir damit mein Leben verdorben hat? Bin ich etwa vor Ihnen auf die Knie gefallen und habe Sie gebeten, mir einen Korb zu geben? Sagen Sie doch selbst, Joan Bray!«

Sie schüttelte den Kopf, und das Lachen in ihren Augen teilte sich ihren Lippen mit.

»Also Sie haben mir gar nichts gesagt! Aber Sie haben sich selbst zu einem Popanz herausstaffiert –«

»Und entsetzlich abstoßend gemacht?« fragte er hoffnungsfreudig.

Aber sie schüttelte wieder den Kopf.

»Oh, doch nicht so ganz. Ich werde Sie heiraten. Ich vermute, daß Sie das verstanden haben?«

Die Erregung prägte sich so deutlich in seinen Gesichtszügen aus, daß sie es sehen konnte.

»In der Tat, ich habe es nicht nötig, Sie zu heiraten,« sagte sie mürrisch, »aber da sind – ich habe meine Gründe –«

»Der alte Narth hat Sie dazu gezwungen!« sagte er vorwurfsvoll.

»Genau so wie der alte Bray Sie dazu gezwungen hat!« antwortete sie schlagfertig. »Es ist eine merkwürdige Situation, und es könnte tragisch werden, wenn man nicht so darüber lachen müßte! Ich weiß nicht, was geschehen wird, aber ich hätte einen großen Wunsch, den Sie mir erfüllen könnten.«

»Und das wäre?«

»Gehen Sie doch zum Barbier und lassen Sie sich Ihren lächerlich großen Bart abrasieren. Ich möchte mich gern einmal davon überzeugen, wie Sie wirklich aussehen.«

Er seufzte schwer.

»In dem Fall bin ich gefangen«, sagte er. »Denn wenn Sie erst einmal mein Gesicht gesehen haben, werden Sie mich nie wieder freigeben. Ich war nämlich einer der hübschesten Männer in China.«

Er streckte ihr seine Hand entgegen.

»Dann kann man Ihnen ja gratulieren«, sagte sie einfach und brach in ein herzhaftes Lachen aus. Und sie war noch am Lachen, als sie den Weg zu ihrem Haus einbog und Mr. Narth in die Arme lief, der die Stirne runzelte.

9

Worüber freust du dich so?« fragte Stephen, der im Augenblick allen Grund hatte, nicht sehr erfreut zu sein.

»Ich habe gerade mit meinem Bräutigam gesprochen«, sagte sie.

Bei diesen Worten klärte sich Stephens Gesicht auf.

»Ach so, den wilden Mann!« antwortete er.

Er trug einen Brief in seiner Hand. Die Morgenpost wurde in Sunningdale früh bestellt.

»Joan, ich möchte, daß du heute zur Stadt kommst und mit mir zu Mittag speist.«

Diese Einladung war eine große Überraschung für sie. Gewöhnlich nahm sie ihre Mahlzeiten allein ein, wenn sie zur Stadt kam.

»So ein nettes, kleines Essen in meinem Bureau. Ich möchte, daß du dabei einen meiner Freunde kennenlernst. Hm – ein äußerst feiner Mensch, der in Oxford sein Examen gemacht hat, dazu hat er noch eine Menge anderer Dinge gelernt.«

Das Benehmen von Mr. Narth fiel ihr noch mehr auf als seine Worte. Er sah so schlecht aus, daß sie sich wunderte, warum er so verstört war.

»Ist Letty auch dabei?« fragte sie.

»Nein, nein«, sagte er schnell. »Nur du – und ich – und außer meinem Teilhaber Mr. Spedwell noch – hm – mein Freund. Ich nehme an, daß du nicht diese dummen Vorurteile gegen – Fremde hast –«.

»Fremde? Warum? Nein! Sie wollen wohl sagen, daß er nicht Europäer ist?«

»Ja, das wollte ich«, sagte Mr. Narth und hustete. »Er ist Asiate – um es genau zu sagen, Chinese. Aber er ist eine außerordentlich einflußreiche Persönlichkeit in seinem Lande. Er ist ein Mandarin oder Gouverneur einer Provinz oder sonst etwas Hohes. Aber abgesehen davon ist er ein vollkommener Gentleman. Ich würde dich nicht bitten, mit jemand zusammenzukommen, wenn ich nicht selbst mit ihm verkehrte.«

»Aber warum, Mr. Narth. Wenn Sie doch wünschen –«

»Er heißt Grahame St. Clay und hat große Handelsbeziehungen sowohl in unserem Lande als auch über See.«

»Grahame St. Clay?«

Wo hatte sie doch diesen Namen gehört? Sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern. Sie fragte noch, wann sie in der Stadt sein sollte, dann ging sie in das Haus und wunderte sich sehr, weshalb gerade sie als Gast von Mr. Narth geladen war, und warum er so ängstlich besorgt war, daß sie seinen neuen Freund treffen sollte. Sie hatte den Namen früher nicht gehört, bis –

Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, aber sie konnte sich nicht mehr darauf besinnen, wann ihr dieser Name genannt worden war.

Mr. Narth fühlte sich etwas erleichtert, ging zu der Bibliothek zurück und las den Brief noch einmal. Das war nun die erste Folge seiner Anleihe, und schon bedauerte er, es getan zu haben, da er dadurch dem Chinesen das Recht gab, ihn mit »Lieber Narth« anzureden. Der Brief enthielt nur ein Dutzend Zeilen in tadelloser Handschrift.

»Nachdem ich Sie heute getroffen hatte, hörte ich, daß Ihre hübsche Nichte, Miß Joan Bray, sich mit Clifford Lynne verlobt hat, den ich oberflächlich kenne. Ich würde mich sehr freuen, die Bekanntschaft dieser jungen Dame zu machen. Würden Sie so liebenswürdig sein, mit ihr zum Mittagessen zu Albemarle zu kommen oder, wenn es Ihnen besser paßt, in ein anderes Lokal in der City. Wählen Sie selbst Zeit und Ort. Arrangieren Sie bitte diese kleine Sache, und geben Sie mir durchs Telefon Antwort, sobald Sie in Ihr Bureau kommen.«

Es war ein Eilbrief, der gestern Abend in London aufgegeben war. Der Ton, den St. Clay ihm gegenüber anschlug, war einem Manne wie Narth sehr zuwider. Um seinem Charakter voll gerecht zu werden, muß man zugeben, daß es ihm keine großen Gewissensbisse verursachte, Joan mit diesem Manne zusammenzubringen. In diesem Punkt war er großzügig und skrupellos. Hätte es sich um Letty oder Mabel gehandelt, wäre es etwas anderes gewesen. Aber es war ja nur Joan.

Trotzdem er sich durchaus nicht scheute, in der Öffentlichkeit mit einem Orientalen zu speisen, hatte er sich doch dafür entschieden, das Essen in dem Sitzungszimmer seines Geschäfts abzuhalten, wo er seinen Bekannten schon manches kleine Mahl gegeben hatte.

Als er an diesem Morgen ins Bureau kam, fand er dort Major Spedwell, der auf ihn wartete, und zu seinem Erstaunen war der alte Militär weniger mürrisch als sonst.

»Soeben habe ich St. Clay gesehen«, sagte er. »Haben Sie das Essen für ihn arrangiert? Er legt großen Wert darauf.«

»Warum?« fragte Narth.

Spedwell zuckte die Achseln. »Der Himmel mag es wissen – St. Clay ist ein sonderbarer Vogel. Er ist freigebig wie ein Fürst – vergessen Sie das nicht, Narth. Er kann für Sie sehr nützlich werden.«

»Womit beschäftigt er sich eigentlich?« fragte Narth.

»Sie meinen, welche Geschäfte er betreibt? Alle möglichen. Er hat eine Fabrik in Peckham, aber er hat auch noch viele andere Geschäftshäuser und Firmen, aus denen er sein Einkommen bezieht. Sie haben Glück, Narth, daß er Sie gerne mag.«

»Oh!« stöhnte der andere. Er war durchaus nicht begeistert von dieser Mitteilung.

Spedwell sah ihn mit einem seltsam trockenen Lächeln auf seinem abstoßenden Gesicht an.

 

»Sie haben bis jetzt doch ein ganz ruhiges Leben geführt, Narth – ich meine, das Leben eines durchschnittlichen Geschäftsmannes aus der City. Sie haben sich doch noch nie mit abenteuerlichen Unternehmungen befaßt, wobei Blut vergossen wurde, oder starke Dinge passierten?«

»Beim Himmel, nein«, sagte Stephen Narth, indem er ihn anstarrte. »Warum?«

»Ich fragte nur so«, sagte der andere gleichgültig. »Nur können Sie nicht erwarten, daß Sie Ihr ganzes Leben lang eine so friedliche Kruke bleiben werden.«

»›Kruke‹ ist ein Wort, das ich durchaus nicht liebe«, sagte Stephen scharf.

»Das dachte ich mir gleich«, gab der andere zu. »Ich möchte nur feststellen, daß man unmöglich alle geschäftlichen Schwierigkeiten dadurch überwinden kann, daß man sich in einen gepolsterten Sessel setzt und neue Schwindeleien ausheckt. Darüber brauchen Sie nicht gleich in die Luft zu gehen, Narth. Wir kennen doch die Welt und wissen ganz genau, daß die Firma Narth Brothers in den letzten zehn Jahren nur von Schwindel und Betrug lebte. Entweder kommt eine so friedliche Kruke wie Sie dabei langsam zu Vermögen – oder sie kommt ins Gefängnis – und Sie sind dabei eben niemals zu Vermögen gekommen und werden auch nie dazu kommen.«

Stephen Narth sah ihm gerade ins Gesicht.

»Was ist denn eigentlich der Sinn von all diesem Gerede?« fragte er.

Der Major drehte gedankenvoll an seinem kleinen Schnurrbart.

»Ich will Sie nur warnen, das ist alles«, sagte er. »Selbst für jeden Baumpfropfer kommt einmal der Moment, wo er etwas anderes tut als Bäume pfropfen – wenigstens versucht er es einmal – verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Ihre Worte sind heute wirklich recht unklar«, sagte Narth sarkastisch. »Zuerst haben Sie mich eine Kruke und dann einen Baumpfropfer genannt! Mir wäre es lieber, wenn Sie etwas liebenswürdiger und deutlicher sprechen würden!«

Der Major nahm einen Stuhl und stellte ihn auf die andere Seite des Schreibtischs. Dann setzte er sich und kreuzte die Arme auf der Tischplatte.

»St. Clay stellt Sie auf die Probe«, sagte er. »Und wenn er sieht, daß Sie am selben Strang mit ihm ziehen, [Zeilenende fehlt im Buch. Re.]

Narth sah ihn an.

»Eine Million Pfund ist leicht gesagt – aber es ist eine ungeheuer große Summe«, sagte er.

»Mehr als eine Million!« antwortete Spedwell entschieden. »Das ist das größte Geschäft, in das Sie jemals hineingeraten sind, mein Freund!«

Narth war verwirrt. Eine Million – selbst wenn man sie noch nicht verdient hatte – war eine entsetzlich große Summe. Aber wozu all diese Überlegungen? War er denn nicht der Erbe von Joe Brays großem Vermögen?

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit Ihnen über solche Dinge unterhalte«, sagte er. »Joe Bray war doch wirklich kein armer Mann.«

Sekundenlang spielte ein Lächeln auf dem mürrischen Gesicht des andern.

»Wieviel glauben Sie denn aus der Erbschaft zu bekommen?« fragte er, fügte dann aber schnell hinzu: »Es ist schon möglich, daß Sie ein dickes Paket erhalten werden – aber wenn Sie mit St. Clay zusammen spielen, können Sie bedeutend mehr machen.«

Als der Major wegging, ließ er Stephen Narth unruhig und verwirrt zurück. Seitdem er die Nachricht von der Erbschaft Joe Brays erhalten hatte, legte er sich zum erstenmal die Frage vor, ob denn seine siegessichere Stimmung auch ganz berechtigt sei. Aber Joe war ein reicher Mann gewesen, der Inhaber äußerst wertvoller Konzessionen, ein Bankier, der mit seinem Gelde die ganze Regierung finanzierte – und wenn alles wahr war, was man sich in der City über ihn erzählte, mußte der alte Joe ein ungeheures Vermögen besessen haben, und das war doch ein beglückender Gedanke für ihn.

Ein Viertel vor eins kam Grahame St. Clay, tadellos gekleidet, in grauem Cut und spiegelblankem Zylinder. Narth hatte nun Zeit, ihn etwas näher zu betrachten. Er war ein wenig zu elegant gekleidet, die Diamantnadel in seiner Krawatte war etwas zu groß. Dabei hatte er sich stark parfümiert, und wenn er sein seidenes Taschentuch zog, verbreitete sich eine intensive Duftwolke, die Mr. Narth unangenehm auf die Nerven fiel.

»Haben Sie meinen Brief erhalten?« Der andere sprach wie der Vorgesetzte zu seinem Angestellten.

Mr. Narth ärgerte sich. Das Benehmen dieses Mannes hatte etwas aufreizend Beleidigendes für ihn. Der Chinese sah unverfroren Mr. Narth über die Schulter und las den Brief, den er soeben geschrieben hatte. Ohne Aufforderung nahm er sich einen Stuhl und setzte sich.

»Kommt dieses Mädchen?«

»Miß Bray wird mit uns speisen«, sagte Narth ein wenig steif und mit einem gewissen Unterton in seiner Stimme, der St. Clay warnte, nicht zu weit zu gehen. Er lachte.

»Mein lieber Freund, Sie schöpfen Verdacht gegen mich! Seien Sie doch friedlich! So kommen wir nicht weiter, besonders da wir uns eben kennengelernt haben! Sehen Sie, Narth, in meinem Vaterland bin ich eine Persönlichkeit von großem Einfluß, und ich habe die Gewohnheiten eines großen Herrn. Sie müssen das nicht so genau nehmen!«

Jemand klopfte an der Tür. Perkins, der Sekretär, kam herein und sah lautlos auf Stephen.

»Ist Miß Bray gekommen?«

»Jawohl«, sagte Perkins. »Soll ich ihr sagen, daß sie warten soll?«

»Lassen Sie sie hereinkommen!«

Zum erstenmal in seinem Leben wurde es Stephen Narth klar, daß Joan ein sehr hübsches Mädchen war. Sicher hatte sie noch nie so hübsch ausgesehen wie heute morgen. Sie trug ein blaues Tailormade und einen roten Hut. Das Kostüm stand ihr ausgezeichnet und hob ihren zarten Teint und ihre tiefblauen Augen.

Offensichtlich machte sie Eindruck auf St. Clay. Er sah sie mit großen Augen an, so daß sie errötete.

»Darf ich dir Mr. St. Clay vorstellen?« sagte Narth.

Sie wollte ihm eben die Hand geben, als die Tür zum Privatbureau plötzlich aufsprang und ein junger Mann hereinkam. Er war sehr gut gekleidet – das war der erste Eindruck, den Joan von dem Ankömmling hatte. Seine Kleider konnten nur in Sackville Street angefertigt sein. Er war noch jung an Jahren, aber doch kein Kind mehr. Ein leichtes Grau färbte seine Schläfen, und dünne Falten zeigten sich an seinen Augen. Mit einer faltigen Toga bekleidet, hätte man ihn mit seiner Adlernase und seinem beherrschenden Gesichtsausdruck für einen Tribunen des alten Rom halten können.

Er stand an der Tür und blickte bald St. Clay, bald Narth an – aber mit keinem Blick streifte er die junge Dame. Einen Augenblick lang war Narth bei dem plötzlichen Einbruch in sein Privatkontor wie vom Donner gerührt.

»Was wünschen Sie?« fragte er. »Sie müssen sich irren, dies ist ein Privatbureau –«

»Ich irre mich durchaus nicht«, sagte der Fremde. Bei dem Klang dieser Stimme wandte sich das Mädchen um und sah ihn mit großem Erstaunen an. »Der Irrtum ist auf Ihrer Seite, Narth, und noch nie haben Sie einen größeren Fehler gemacht, als wie Sie die Kühnheit besaßen, meine zukünftige Frau an einen Tisch mit diesem verdammten Mordbuben einzuladen! Fing-Su!«

Mr. St. Clay, B. A., bedeckte mechanisch seine Hände und verneigte sich.

»Exzellenz!« sagte er in der Mandarinensprache.

Joan seufzte verwirrt. Der schönste Mann Chinas hatte seine Wirkung auf sie nicht verfehlt – denn der Fremde in der Tür war Clifford Lynne!

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