Der leuchtende Schlüssel

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4

Fünf Minuten später war ein Dutzend Polizeibeamter zur Stelle. Ein Sergeant in der Marlborough Street, der gerade einen Betrunkenen transportierte, hatte sie alarmiert.

»Der ist mit einer Pistole von sehr kleinem Kaliber aus allernächster Nähe erschossen worden«, sagte er, als er den Toten oberflächlich untersucht hatte.

Kurz darauf kam der Krankenwagen, und Horace Tom Ticklers Leiche wurde fortgeschafft. Ein Polizist brachte das Auto zur nächsten Polizeiwache. Die Nummer war bereits aufgeschrieben, und Scotland Yard hatte Beamte ausgeschickt, um den Eigentümer, den Taxichauffeur Wells, aufzutreiben.

Man hatte Dick Allenby nicht besonders eingeladen, an den Ermittlungen teilzunehmen, aber er ging trotzdem zur Polizeiwache mit.

Der Mann war tatsächlich im Wagen erschossen worden. Das Geschoss hatte ein Loch in den Lederbezug gerissen.

»Wahrscheinlich lebte er noch, als er auf dem Boden lag«, meinte Smith. »Der Mörder muß einen zweiten Schuss abgefeuert haben. Wir haben nämlich eine Kugel im Boden des Wagens entdeckt.«

»Haben Sie den Chauffeur gefunden?« fragte Dick.

»Der ist auf dem Weg hierher.«

Mr. Wells war entsetzt, als er erfuhr, unter welchen Umständen man sein Auto gefunden hatte. Seine Aussagen waren klar.

Kurz vor zwei Uhr hatte er den Wagen wie gewöhnlich vor der verschlossenen Garage stehenlassen, damit er am frühen Morgen geputzt und für die Tagestour fertiggemacht werden konnte. Er durfte das riskieren, da Taxis äußerst selten gestohlen wurden; sie konnten leicht erkannt werden und brachten daher den Autodieben nichts ein.

Wells hatte ein vorzügliches Alibi. Als er den Wagen verlassen hatte, war er zur nächsten Polizeiwache gegangen, um dort einen Regenschirm und eine Brieftasche abzugeben, die einer der Fahrgäste liegengelassen hatte. Ein Polizist hatte gesehen, wie er den Wagen vor der Garage stehenließ, und war auch später dazugekommen, als der Chauffeur die Gegenstände persönlich auf der Wache abgab.

Es war bereits sieben Uhr, und die Straßen in West End belebten sich allmählich. Dick fuhr zu seiner Wohnung in Queen's Gate zurück. Er war sehr beruhigt darüber, daß Mary nicht über die Straße gegangen war und die Tür des Unglücksautos geöffnet hatte. Es war zwanzig Minuten vor der Entdeckung an der Stelle geparkt worden. Der Portier hatte beobachtet, wie der Chauffeur den Wagen verließ und in Richtung der Air Street ging.

Die Polizeibeamten stellten fest, daß der Hebel der Zähluhr immer noch nach unten gedrückt war und auf siebzehn Shilling zeigte. Daraus konnten sie annähernd berechnen, wieviel Zeit zwischen dem Mord und der Entdeckung des Verbrechens vergangen war.

Spät am Nachmittag suchte der Chefinspektor Dick Allenby in seiner Wohnung auf.

»Ich dachte, Sie würden sich dafür interessieren, wie weit wir mit unseren Nachforschungen gekommen sind. Wir haben in einer der Taschen des Toten hundert Einpfundnoten gefunden.«

»Was, so viel Geld hatte Tickler bei sich?«

»Woher wußten Sie denn, daß der Mann Tickler heißt?« Surefoot Smith sah ihn argwöhnisch an.

Dick antwortete nicht gleich.

»Nun ja, ich erkannte ihn, als er im Wagen lag. Früher war er einmal Diener bei meinem Onkel.«

»Davon haben Sie aber gestern Abend kein Wort gesagt.«

»Ich war meiner Sache zuerst nicht ganz sicher. Erst als er aus dem Wagen gehoben wurde, konnte ich es genau feststellen. Ich glaube, der Mann wurde entlassen, weil er gestohlen hatte, und zwar vor etwa sechs oder sieben Jahren.«

Der Chefinspektor nickte.

»Nun, dann ist alles in Ordnung. Ich wollte Ihnen eben dasselbe erzählen. Heute morgen habe ich nämlich den alten Lyne aufgesucht, aber der kümmert sich nicht um Scotland Yard. Der ist also Ihr Onkel? Da kann man Ihnen ja gratulieren!«

»Was sagte er denn?« fragte Dick neugierig.

Surefoot Smith steckte seine große Pfeife an und setzte sich.

»Die Geschichte machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Er erinnerte sich nur noch daran, daß Tickler gestohlen hatte, und das wußten wir selbst auch schon. Hundert Einpfundnoten! Wenn wenigstens eine Fünfpfundnote darunter gewesen wäre! Dann kämen wir leichter vorwärts. Ich möchte nur wissen, wer den auf die Fahrt mitgenommen hat. Sicher war es ein Amerikaner.«

Smith sah mehrere Flaschen Bier unter einer der Werkbänke, öffnete zwei und trank sie kurz hintereinander aus.

»Wie fanden Sie denn meinen lieben Onkel?«

»Sind Sie mit ihm befreundet?«

Dick schüttelte den Kopf.

»Nun, dann kann ich Ihnen ja ruhig sagen, was ich von ihm denke.«

Der Chefinspektor äußerte sich in wenig schmeichelhafter Weise über Hervey Lyne.

»Das mag stimmen«, pflichtete Dick Allenby bei und sah ruhig zu, wie der Chefinspektor eine weitere Flasche Bier nahm. »Ich spreche in der letzten Zeit überhaupt nicht mehr mit ihm.«

»Sagen Sie mal, hatten Sie nicht seinerzeit einen Wortwechsel mit Tickler?«

Dick kniff die Augenlider zusammen.

»Hat Lyne Ihnen das erzählt?«

»Irgend jemand hat es mir gesagt«, bemerkte Smith.

»Ja, ich habe ihn aus meiner Wohnung hinausgeworfen. Er brachte eine beleidigende Mitteilung von meinem Onkel und fügte von sich aus noch ein paar unverschämte Bemerkungen hinzu.«

Smith erhob sich von der Bank und klopfte sich sorgfältig ab.

»Das hätten Sie mir alles gestern Abend sagen sollen«, entgegnete er vorwurfsvoll. »Sie hätten mir damit viel Arbeit erspart.«

Er betrachtete die merkwürdig aussehende Luftpistole, nahm sie in die Hand und legte sie wieder hin.

»Mit so einer Waffe hätte man die Schüsse abfeuern können, die Tickler getötet haben.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich den Mann umgebracht habe?« fragte Allenby ärgerlich.

Der Chefinspektor lächelte.

»Lassen Sie sich die Laune nicht verderben. Ich habe ja gar nichts gegen Sie. Mein Groll richtet sich nur gegen die wissenschaftlichen Methoden, mit denen die Verbrecher heutzutage arbeiten.«

»Gewiß ist das eine gute Waffe«, erwiderte Dick, der sich wieder faßte, »aber ich verfolge damit ganz andere Ziele – ich weiß nicht, ob ich das in Ihren Schädel trommeln kann ...«

»Danke schön«, murmelte Smith.

»Sie soll vor allem für die Industrie nutzbar gemacht werden. Wenn ich hier in dieser Stahlkammer eine gewöhnliche Patrone abschieße, erziele ich einen unheimlich hohen Luftdruck, den ich dazu verwenden kann, eine Maschine in Gang zu setzen. Genauso kann ich mit dem Ding einem Galgenvogel das Lebenslicht ausblasen.«

Smith sollte um vier Uhr nachmittags an einer Konferenz in Scotland Yard teilnehmen. Er haßte derartige Besprechungen, bei denen die Leute an einem runden Tisch zusammensaßen, rauchten und hochtrabende Reden über Dinge hielten, von denen sie nichts verstanden. Aber dieses Mal kam er pünktlich und fand, daß seine vier Kollegen dieses Verbrechen ebensowenig erklären konnten wie er selbst.

Eine neue Nachricht war inzwischen eingetroffen. Ein Polizist, der am Portland Place patrouillierte, hatte in dem Toten einen Mann wiedererkannt, den er kurz vor zwei Uhr in einer Nebenstraße gesprochen hatte. Das stimmte mit den Beobachtungen des Chefinspektors überein, der um zwei Uhr Tickler vom Portland Place her die Regent Street hatte entlanggehen sehen.

Merkwürdigerweise hatte der Polizist nichts von dem betrunkenen Mann erzählt, für den sich Tickler so sehr interessiert hatte.

»Das bringt mich auch nicht weiter«, sagte Surefoot und legte den Bericht beiseite. »Ich möchte nur wissen, warum dieser kleine Dieb ums Leben kam. Er war ziemlich am Ende. Bevor ich ihn anrief, habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er sich nach Zigarettenstummeln bückte.«

Smith fand in seinem kleinen Büro eine Anzahl von Briefen. Einer davon war in Westminster aufgegeben und am Nachmittag zugestellt worden. Das Kuvert war schmutzig, und eine wenig geübte Hand hatte die Adresse geschrieben. Der Chefinspektor riß den Umschlag auf und nahm ein Blatt Papier heraus, das von einem billigen Notizblock abgerissen war. Mit Bleistift stand darauf gekritzelt:

Wenn Sie wissen wollen, wer den armen Mr. Tickler ermordet hat, so erkundigen Sie sich am besten bei Mr. L. Moran.

Smith sah lange auf die Nachricht.

»Warum auch nicht?« fragte er dann laut. Er hielt Mr. Moran schon immer für eine dunkle Persönlichkeit.

5

Mary Lane war davon überzeugt, daß sie eines Tages im West End als große Schauspielerin gefeiert werden würde, wenn sie sich auch den Wunschtraum, über Nacht berühmt zu werden, aus dem Kopf geschlagen hatte.

Am zweiten Morgen nach der Gesellschaft bei Washington Wirth hatte sie eine kurze Unterredung mit Mr. Hervey Lyne über die Rente, die er ihr zahlte. Es war keine angenehme Unterhaltung.

»Wenn du zur Bühne gehst, mußt du eben damit rechnen, daß du nur ein Hungerleben führen kannst. Dein Vater hat mich zum Vollstrecker seines Testaments gemacht, und ich besitze unbeschränkte Vollmacht. Und ich sage dir nochmals, bis zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag bekommst du nicht mehr als hundertfünfzig Pfund jährlichen Zuschuss. Es hat keinen Zweck, noch weiter darüber zu reden.«

Mary Lane beherrschte sich in bewunderungswürdiger Weise.

»Ein Vermögen von zwanzigtausend Pfund bringt mehr als hundertfünfzig jährlich ein«, sagte sie.

»Du bekommst nicht mehr Geld in die Hand, ehe du fünfundzwanzig bist. Und dann werde ich glücklich sein, wenn ich nicht mehr dein Vormund sein muß. Übrigens noch eins: Du bist mit meinem Neffen Richard Allenby befreundet?«

 

Sie warf den Kopf in den Nacken.

»Ja.«

Er drohte ihr mit dem Finger.

»Ich möchte dich warnen. Von mir bekommt er nichts, ganz gleich, ob ich lebe oder tot bin.«

Der Butler Binny begleitete sie bis zur Tür und war sehr liebenswürdig zu ihr.

»Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen«, sagte er beruhigend. »Heute hat er seinen bösen Tag.«

Sie erwiderte nichts darauf. Binny seufzte schwer und schüttelte traurig den Kopf, als er die Haustür schloß.

Der alte Hervey Lyne war ein exzentrischer Mensch, mit dem nicht leicht auszukommen war.

Die vornehmen Herren, die während der Regierungszeit der Königin Viktoria Tausende auf ihre Rennpferde setzten und Einladungen und Sektgelage gaben, waren manchmal in Schwierigkeiten, bares Geld aufzutreiben. Dann kamen sie immer zu Hervey, weil sie sofort wußten, ob er ihnen Geld leihen würde oder nicht.

Das war das Angenehme an ihm, daß er sofort ja oder nein sagte. Und was er sagte, meinte er auch, ohne lange zu handeln oder zu feilschen. Er gab das Geldgeschäft auf, als die Testamentsvollstrecker des Herzogs von Crewdon einen großen Prozeß gegen ihn anstrengten und verloren. Hervey hatte bestimmt damit gerechnet, daß die Gegner gewinnen würden.

Er betrachtete alle Leute, die zu ihm kamen, als Narren und hatte nicht die geringste Achtung vor ihnen. Seiner Meinung nach war es töricht, Geld zu borgen, hohe Zinsen zu zahlen und das Geld zurückzugeben.

Auch Dick Allenby hielt er für einen Narren, einen unverschämten Burschen, der sich für einen Erfinder hielt und nicht klug genug war, beizeiten Geld zu verdienen. Ebenso war Mary Lane in seinen Augen eine dumme Person, eine alberne Schauspielerin, die sich in Pose setzte, ihr Gesicht schminkte und für eine viel zu kleine Gage auf der Bühne arbeitete. Allenby war sein Neffe, der bei etwas vernünftigem Benehmen leicht von ihm eine Million hätte erben können. Mary Lane war die Tochter seines früheren Partners und hätte, wenn sie einen anderen Beruf gehabt hätte, dieselbe Summe bekommen können.

Seine Dienstboten hielt er natürlich auch für besondere Dummköpfe.

Binny kümmerte sich aber nicht um das, was sein Herr von ihm dachte. Er war freundlich, hatte große treue Augen und einen vollständig kahlen Kopf. Er war ein wenig faul, und seine Frau hatte morgens immer viel Mühe, ihn aus dem Bett zu bringen.

Er versah alle möglichen Dienste bei Mr. Lyne: er war Kammerdiener, Privatsekretär, Bote, Butler und Krankenpfleger. Von Rechts wegen hätte er ein hohes Gehalt haben müssen.

Der alte Hervey saß in seinem Rollstuhl zwischen den Kissen und sah düster auf die Setzeier und die Toastschnitten, die vor ihm auf einem Tablett standen.

»Hat dieser verrückte Detektiv wieder nach mir gefragt?«

»Nein«, entgegnete Binny. »Sie meinen doch Mr. Smith?«

»Ich meine den blöden Kerl, der sich nach diesem Verbrecher Tickler erkundigte«, rief der Alte heftig und schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, daß die Tassen tanzten.

»Der im Auto gefunden wurde?«

»Fragen Sie nicht so dumm, Sie wissen es doch ganz genau. Natürlich hat ihn irgendeiner von dem Diebsgesindel getötet, mit dem er befreundet war. Die Leute nehmen ja gewöhnlich ein solches Ende.«

Hervey Lyne verfiel in Schweigen. Er schaute düster vor sich hin und dachte darüber nach, ob Binny ihn auch bestahl. Seit einiger Zeit war sein Verdacht gewachsen, da die Rechnungen bei der Kolonialwarenhandlung immer größer wurden. Binny hatte zwar erklärt, daß die Lebensmittelpreise in die Höhe gegangen seien, aber das war nach Lynes Meinung gelogen. Der Kerl gehörte zu diesen verdammt ruhigen Leuten, die vor ihrem Herrn kriechen, sich aber kein Gewissen daraus machen, ihn zu bestehlen. Es war höchste Zeit, daß er Binny entließ und einen anderen Butler engagierte.

»Wann kommt dieser Bursche?« fragte er barsch.

Binny schenkte am Nebentisch seinem Herrn gerade eine Tasse Tee ein. Er wandte den Kopf und sah ihn ungewiß an.

»Wen meinen Sie? Die junge Dame ist um neun gekommen.«

Hervey verzog verächtlich den Mund.

»Sie Dummkopf, ich meine den Bankdirektor.«

»Mr. Moran – um zehn.«

»Bringen Sie mir den Brief – bringen Sie ihn sofort!«

Binny stellte die Teetasse vor Mr. Lyne, blätterte in einem kleinen Stoß von Papieren, die auf dem offenen Sekretär lagen, und fand schließlich, was er suchte.

»Lesen Sie vor – lesen Sie genau«, drängte der alte Mann.

Sein Augenlicht war sehr schlecht geworden. Er konnte wohl noch hell und dunkel unterscheiden, an dem lichten Schein erkennen, wo das Fenster lag, ohne Hilfe die siebzehn Treppenstufen hinaufsteigen, die zu seinem Schlafzimmer führten, und seinen Namen unterschreiben. Aber das war auch alles.

Binny las mit monotoner Stimme:

»Sehr geehrter Mr. Lyne, es wird mir ein Vergnügen sein, morgen vormittag um zehn Uhr bei Ihnen vorzusprechen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Leo Moran«

Hervey lächelte wieder.

»So, es wird ihm ein Vergnügen sein?« wiederholte er mit schriller Stimme. »Meint der Kerl denn, ich bestelle ihn zum Vergnügen her?«

Es klingelte an der Haustür. Binny ging nach unten und kam kurz darauf mit dem Besucher zurück.

»Mr. Moran«, meldete er.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Moran.« Der alte Mann machte eine ungewisse Handbewegung. »Binny, bringen Sie einen Stuhl, und dann machen Sie, daß Sie hinauskommen – verstanden? Und horchen Sie nicht an der Tür, verdammt noch mal!«

Der Besucher lächelte, als sich die Tür hinter Binny schloß. Die Worte schienen wenig Eindruck auf den Butler gemacht zu haben.

»Mr. Moran, Sie sind mein Bankier.«

»Ja, Mr. Lyne. Ich habe schon vor einem Jahr angefragt, ob ich einmal mit Ihnen sprechen könnte – vielleicht erinnern Sie sich daran?«

»Natürlich. Aber ich mag keine Bankdirektoren sehen. Die sollen dafür sorgen, daß mein Geld Zinsen bringt. Das ist ihre Pflicht, dafür werden sie bezahlt. Haben Sie die Abrechnung?«

Der andere zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm zwei große, zusammengefaltete Bogen heraus.

»Hier«, begann er. Sein Stuhl krachte, als er sich erhob.

»Ich will die Abrechnung nicht sehen. Sagen Sie mir die Endsumme.«

»Zweihundertundzwölftausendsiebenhundertsechzig Pfund und einige Shilling.«

»Hm!« erwiderte Mr. Lyne zufrieden. »Und wie steht es mit den Wertpapieren?«

»Nach dem jetzigen Kursstand sind sie sechshundertzweiunddreißigtausend Pfund wert.«

»Ich will Ihnen sagen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte«, sagte Lyne, fügte aber sofort argwöhnisch hinzu: »Öffnen Sie doch einmal die Tür und sehen Sie zu, ob dieser verdammte Kerl horcht.«

Der Besucher erhob sich, machte die Tür auf und schloß sie wieder.

»Es ist niemand draußen.«

Er lächelte, aber Mr. Lyne konnte das nicht beobachten.

»So, es ist niemand draußen? Also, Moran, dann hören Sie einmal zu. Ich halte mich für einen sehr fähigen Mann. Damit will ich mich nicht rühmen; das ist eine Tatsache, die Sie selbst feststellen können. Ich traue niemandem, nicht einmal einem Bankdirektor. Meine Sehkraft ist nicht mehr besonders gut, und es fällt mir schwer, Rechnungen zu kontrollieren. Aber ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, das ich dauernd trainiere. Ich kann Zahlen unheimlich lange behalten, und ich hätte Ihnen bis auf einige Shilling genau die Summe nennen können, die Sie eben angaben.« Der alte Mann machte eine Pause und sah durch seine dicken Gläser zu dem Besucher hinüber, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß.

»Hoffentlich spekulieren und spielen Sie nicht?«

»Nein, Mr. Lyne.«

Mr. Moran atmete erleichtert auf, als er sich wieder von dem Alten verabschieden konnte.

Binny wurde durch ein Klingelzeichen seines Herrn in seinem Zimmer aufgestört. Als er nach oben kam, war der Besucher schon gegangen.

»Sagen Sie, Binny, wie sah der Mann aus? Hatte er ein ehrliches Gesicht?«

Der Butler dachte lange nach.

»Er hatte ein ganz gewöhnliches Gesicht«, meinte er dann.

Lyne war ärgerlich.

»Bringen Sie das Frühstücksgeschirr weg. Wer kommt denn heute sonst noch?«

Binny überlegte lange.

»Ein gewisser Dornford.«

»Ein Herr namens Dornford«, verbesserte ihn der Alte. »Er schuldet mir Geld, deshalb ist er ein Herr. Wann kommt er?«

»Ungefähr um acht.«

»Sie bleiben im Zimmer, wenn er kommt. Haben Sie mich verstanden? Er ist ein gemeiner Kerl – ein gefährlicher Mensch. Es ist gut, wenn Sie da sind.«

»Jawohl.«

6

Arthur Jules, der sich stets sehr wichtig vorkam, war ein düsterer, verhältnismäßig kleiner junger Mann. Er trug ein Monokel, hatte eine tadellose Frisur und war immer so gekleidet, als ob er an einer großen Festlichkeit teilnehmen sollte.

Als Attaché bei einer südamerikanischen Gesandtschaft befaßte er sich auf eigene Faust mit Diplomatie. In einem Land, wo die Leute mehr verdächtigt werden als in England, hätte man ihm vermutlich äußerst höflich seinen Paß zugestellt und ihn unter besonderer Aufsicht eines Detektivs in seine Heimat abgeschoben.

Eines Tages saß er an seinem Fenster, von dem aus er die St. James Street übersehen konnte. Er strich seinen kleinen schwarzen Schnurrbart nachdenklich und unterhielt sich mit Jerry Dornford.

Jedermann kannte Jerry. Er besaß all die angenehmen Umgangsformen, die begüterten Leuten einen Verschwender lieb und wert machen. Wie Jules war er Mitglied des Snells-Club. Er gehörte auch all den vornehmen Klubs an, in denen sich die oberen Zehntausend treffen, zahlte pünktlich seine Beiträge, und alle seine Schecks wurden von der Bank honoriert. Man konnte ihm nichts vorwerfen, er war bisher all seinen Verpflichtungen nachgekommen. Er war groß, trug elegante Kleidung, ging aber etwas vornübergeneigt. Seine braunen Haare lichteten sich auf dem Scheitel schon stark. Er hatte tiefliegende Augen und lächelte müde und nachsichtig, wenn er jemand ansah.

Jerry hatte ein sehr flottes Leben hinter sich und brauchte viel Geld. Er war Junggeselle und lebte in einer kleinen Wohnung in der Half Moon Street, wo er auch gelegentlich seine Gesellschaften gab.

Augenblicklich hatte er wieder einmal dringend Geld nötig, und Jules wußte, wie sehr er in der Klemme war. Die beiden hatten nur wenig Geheimnisse voreinander und kannten sich sehr gut.

»Wie heißt denn eigentlich dieser Mann?«

»Hervey Lyne.«

»Hervey Lyne? Ja, den kenne ich. Das ist ein alter Tapergreis. Als mein Vater in London Legationssekretär war, hat er auch schon Geld von ihm geborgt. Das muß in den neunziger Jahren gewesen sein. Aber ich dachte, der Mann hätte jetzt das Geschäft aufgegeben.«

Jerrys Mundwinkel zuckten leicht.

»Er hat sich schon lange vom Geschäft zurückgezogen. Seit Jahren schulde ich ihm dreitausend Pfund, jetzt sind es mit Zinsen viertausend geworden. Sie wissen doch, daß ich beim Tod meiner Tante Aussicht auf eine große Erbschaft hatte, aber die alte Hexe hat mir nichts vermacht.«

»Und jetzt drängt Sie der Geldverleiher?«

»Ja. Er droht, mich zum Bankrott zu treiben, und ich kann ihn leider nicht daran hindern. Bis jetzt habe ich diese Klippe immer vermeiden können. Es hat schon manchmal sehr böse ausgesehen, aber ich habe die Sache stets eingerenkt.«

Ein langes Schweigen folgte. Jules strich seinen kleinen Schnurrbart häufiger und schneller.

»Mit zweitausend könnten Sie sich helfen? Nun gut, Sie sollen zweitausend haben. Ich stelle nicht die Bedingung, daß Sie zum Kriegsministerium gehen und die Mobilisationspläne stehlen sollen, wie man es in manchen Romanen lesen kann. Aber etwas muß ich doch dafür haben, und zwar für einen Herrn, der einen ähnlichen Beruf hat wie Ihr Freund. Mir erscheint die Summe ja reichlich hoch für einen so kleinen Dienst. Natürlich sage ich das dem Betreffenden nicht. Wenn er so ungeheuere Beträge zahlen will, ist das schließlich seine Sache und berührt mich nicht weiter.«

Jerry Dornford sah düster auf die Straße hinaus. Wenn ihm einer sagte, daß er für Geld arbeiten sollte, fiel ihm immer ein, daß er ein Gentleman war, aber er hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden, noch viel unangenehmere Dinge zu tun.

»Ich weiß noch nicht genau, ob ich es durchführen kann«, sagte er.

 

In diesem Augenblick kamen zwei Herren in den Rauchsalon. Jerry kannte beide, aber er interessierte sich nur für den einen.

»Das ist geradezu ein Wink des Schicksals.«

»Wer ist es denn?« fragte Jules. Der zweite war ein Klubmitglied. Aber der andere untersetzte Mann mit den blonden Haaren war ihm fremd.

»Das ist Mr. Moran, mein Bankier. Zufällig hat Mr. Lyne auch sein Geld bei ihm.«

Jules warf einen schnellen Blick zu den beiden hinüber.

»Nun, wie denken Sie über die Sache?«

Jerry holte tief Atem, dann schüttelte er den Kopf.

»Ich muß es mir erst noch überlegen. Es ist eine ekelhafte Geschichte.«

»Aber ein Bankrott wäre doch noch viel ekelhafter«, erwiderte Jules liebenswürdig. »Sie müßten dann aus allen Klubs austreten und wären ein armer Junge wie Mike Hennessey. Das wollen Sie doch sicher nicht?«

»Wie kommen Sie auf Mike Hennessey?« fragte Jerry.

Jules lachte.

»Das ist so eine Gedankenverbindung. Sie gehen doch oft ins Sheridan-Theater? Ich mache Ihnen deshalb nicht die geringsten Vorwürfe. Sie ist wirklich ein hübsches Mädel.« Er verzog den Mund, als ob er pfeifen wollte. »Allenby hat die junge Dame auch sehr gern. Also überlegen Sie es sich noch einmal, Jerry. Sie können mich ja später im Grosvenor-Hotel anläuten.«

Er schnappte mit den Fingern, um den Kellner herbeizurufen, schrieb seine Anfangsbuchstaben unter die Rechnung und schlenderte zur Tür. Jerry folgte ihm. Sie mußten an Moran und dessen Freund vorübergehen. Der Bankmann sah gerade auf, nickte Jerry freundlich zu und faßte ihn am Ärmel.

»Ich würde diese Woche gern einmal mit Ihnen sprechen, wenn Sie Zeit haben, Jerry.«

Dornford vergaß nie, daß er Mitglied des Snells-Club war, wo nur Gentlemen verkehrten. Dieser Mr. Leo Moran stammte aus niederen Kreisen und war früher einmal Bankangestellter gewesen. Jerry ärgerte sich vor allem, daß dieser Mann ihn mit dem Vornamen anredete. Mit einer unwilligen Bewegung machte er sich frei.

»Gut, ich werde Sie gelegentlich besuchen«, erwiderte er kühl.

Gleich darauf ging er mit Jules die Treppe hinunter.

»Dieses Schwein!« sagte er empört. »Wie kommt dieser Kerl in den Klub hinein? Bei Snells geht es auch nicht mehr vornehm zu.«

»Es leben alle möglichen Leute auf der Welt, mein Freund, und nicht alle können gleich sein«, entgegnete Jules mit leicht ironischem Unterton. Dann wischte er ein Stäubchen von seinem Rock, klopfte Jerry auf den Arm, als ob er ein Kind wäre, und ging die St. James Street hinauf.

Jerry Dornford zögerte eine Sekunde, folgte dann einem augenblicklichen Impuls, winkte ein Taxi heran und fuhr nach Queen's Gate. Dort stieg er aus und ging zu Fuß weiter.

Dick Allenby wohnte in einem großen Haus, das in kleinere Wohnungen aufgeteilt worden war. Da kein Portier vorhanden war, hatte man den Fahrstuhl zur Selbstbedienung eingerichtet. Jerry fuhr zum vierten Stock hinauf und klopfte an Dicks Arbeitszimmer, das in eine Werkstatt verwandelt worden war. Als niemand antwortete, drückte er die Klinke herunter und trat ein. Das Zimmer war leer, aber Dick hatte offenbar Besuch gehabt. Mehrere leere Bierflaschen standen auf einer Werkbank.

»Allenby, sind Sie hier?« rief er laut.

Alles blieb still. Nun ging Jerry zu dem Tisch, auf dem der Stahlkasten lag, und hob die Kassette auf. Er war befriedigt, daß er sie mühelos tragen konnte, und setzte sie wieder nieder. Dann wandte er sich zur Tür, zog den Schlüssel heraus und betrachtete ihn aufmerksam. Wachs, um einen Abdruck zu machen, hatte er nicht bei sich, weil er kein Berufseinbrecher war. Aber er hatte früher ein paar Semester auf einer Technischen Hochschule studiert, das kam ihm jetzt zustatten.

Er lauschte. Vom Fahrstuhl her hörte er kein Geräusch. Wahrscheinlich hielt sich Dick in seinem Schlafzimmer auf, das im Stockwerk darüber lag. Dornford machte auf der Rückseite eines Briefumschlags schnell eine Skizze von dem Schlüssel. Trotz der Schnelligkeit war die Zeichnung sehr genau. Er maß mit dem Bleistift die Länge des Bartes ab und machte sich einige Notizen. Als er hörte, daß jemand die Treppe herunterkam, steckte er den Schlüssel lautlos wieder in die Tür.

Er stand gerade vor der Werkbank und betrachtete die leeren Bierflaschen, als Dick eintrat.

»Hallo, Dornford, wollten Sie mich sprechen?«

Die Frage klang gerade nicht sehr ermutigend und freundlich.

Jerry lächelte.

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