Das Gesicht im Dunkel

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5

Dick begrüßte seinen Assistenten Steel, der in seiner Wohnung auf ihn wartete, mit einer Frage.

»Wissen Sie etwas über Dora Eltons Verwandte?«

»Nein. Hat die denn überhaupt Verwandte?«

»Vielleicht weiß Slick darüber Bescheid. Ich habe ihn zu sechs Uhr herbestellt. Ist übrigens die Leiche identifiziert worden?«

»Nein. Aber nach den Schuhen und dem Tabaksbeutel zu urteilen, kam der Mann aus dem Ausland, wahrscheinlich aus Südafrika. Vielleicht ist er mit der ›Buluwayo‹ oder der ›Balmoral Castle‹ angekommen. Haben Sie mit dem Bognor-Mann wegen der Diamantenkette gesprochen?«

»Ja, aber er behauptet, er hätte sich mit Elton verkracht und wüßte nicht, was der vorhätte. Eltons Haus wird doch bewacht, nicht wahr? – Gut. Ich glaube nicht, daß vor heute Abend um dreiviertel neun etwas geschieht. Um diese Zeit wird die Kette die Curzon Street verlassen, und ich werde ihr persönlich nach ihrem Bestimmungsort folgen, weil mir viel daran liegt, das fünfte Mitglied der Bande kennenzulernen. Vermutlich ist es ein Ausländer. Und dann werde ich Dora Elton endlich haben.«

»Denken Sie nicht, daß es Bunny sein könnte?«

»Der hat wohl Mut, aber doch nicht so viel, daß er mit einer gestohlenen Kette durch London spaziert, die von der gesamten Polizei gesucht wird. Das ist nichts für Bunny. Seine Frau wird es versuchen.« Dick sah auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde ist sie angekommen. Ich möchte nur wissen –«

In diesem Augenblick erschien Mr. Slick Smith, wie immer sorgfältig gekleidet, selbstbewußt und sorglos. Steel nickte ihm grinsend zu und verließ das Zimmer.

»Schön, daß Sie kommen«, sagte Dick Shannon. »Sie haben recht behalten – der Schmuck ist weg, und Elton ist in die Geschichte verwickelt.«

Slick zog spöttisch die Augenbrauen hoch.

»Wirklich? Nicht zu glauben!«

»Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen. Wissen Sie eigentlich etwas über Mrs. Elton?« fragte Dick und schob ihm die Whiskyflasche zu.

»Eine reizende Dame – entzückende Person! Früher war sie ein braves Mädchen, aber eine schlechte Schauspielerin. Vermutlich hat sie Elton geheiratet, um einen besseren Menschen aus ihm zu machen.«

»Hat sie eine Schwester?« erkundigte sich Dick gespannt.

Slick leerte sein Glas.

»Wenn sie eine hat, möge ihr Gott gnädig sein!« erwiderte er.

Audrey hatte eine Viertelstunde auf dem Victoria-Bahnhof zugebracht und die Anschläge über den Raub der Diamantenkette studiert, während sie vergeblich auf Dora wartete. Schließlich bat sie einen Polizisten um Auskunft und benutzte den von ihm empfohlenen Omnibus, um nach der Curzon Street zu fahren. Ein zierliches Zimmermädchen öffnete ihr.

»Mrs. Elton ist beschäftigt«, sagte sie. »Kommen Sie vielleicht von Seville?«

»Nein, ich komme aus Sussex. Bitte melden Sie Mrs. Elton, daß ihre Schwester hier ist.«

Das Mädchen führte sie in ein kleines Wohnzimmer und ließ sie dort allein. Audrey redete sich ein, daß der Brief, in dem sie Dora ihre bevorstehende Ankunft mitgeteilt hatte, verlorengegangen sein müsse. Die Schwestern standen sich nicht nahe. Dora war vor Jahren zur Bühne gegangen und hatte sich dann kurz vor dem Tod ihrer Mutter »gut« verheiratet. Sie war Audrey stets als hervorragendes Beispiel hingestellt worden, und ihre Mutter hielt sie bis zuletzt für ein Muster von Vollkommenheit, obwohl sie von Dora völlig vernachlässigt wurde.

Die Tür öffnete sich plötzlich, und eine junge Frau trat herein. Sie war größer als Audrey und fast ebenso schön wie diese, nur hatten ihre Haare nicht das strahlende Blond und ihre Augen nicht den freundlich-humorvollen Blick Audreys.

»Aber liebes Kind, wo kommst du denn her?« fragte Dora Elton bestürzt und streifte mit ihrer schlaffen, ringgeschmückten Hand die Wange der Schwester.

»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«

»Nein. Du bist aber groß geworden, Kind!«

»Ja, allmählich zähle ich auch zu den Erwachsenen. Ich habe das Haus verkauft.«

Dora sah sie erstaunt an.

»Warum denn?«

»Es gehörte mir ja längst nicht mehr – es war über und über mit Hypotheken belastet.«

»Und nun kommst du hierher? Das ist sehr peinlich. Ich kann dich unmöglich zu mir nehmen.«

»Ach, wenn ich nur einmal acht Tage lang hier schlafen könnte, Dora, bis ich Arbeit gefunden habe.«

Ihre Schwester runzelte die Stirne und ging auf und ab.

»Ich habe Gäste zum Tee«, sagte sie schließlich, »und heute Abend ein kleines Diner. Was soll ich mit dir anfangen – in diesem Aufzug? Geh lieber in ein Hotel, schaffe dir elegante Kleider an und komme am Montag wieder.«

»Das würde mehr Geld kosten, als ich besitze«, erwiderte Audrey ruhig.

Dora kniff die Lippen zusammen.

»Wie kannst du einem nur so einfach ins Haus schneien!« rief sie. »Na, warte hier – ich will mit Martin sprechen.«

Audrey hatte sich den Empfang kaum anders vorgestellt. Nach einer Weile kam Dora zurück und zeigte ein erzwungen freundliches Gesicht.

»Martin meint, du solltest hier bleiben«, erklärte sie und führte ihre Schwester zu einem hübschen Fremdenzimmer im zweiten Stock. »Du hast hier in London wohl gar keine Bekannten?« fragte sie, als sie das elektrische Licht andrehte.

»Nein. Aber das ist ja ein entzückendes Zimmer!«

»Ich war vorhin vielleicht etwas abweisend, Liebling«, fuhr Dora fort und legte eine Hand auf Audreys Arm. »Du bist mir doch nicht böse deshalb? Ich bin manchmal so nervös. Und du hast Mutter ja versprochen, für mich zu tun, was du könntest.«

»Du weißt, daß ich mein Versprechen halte«, entgegnete Audrey.

Dora streichelte ihren Arm.

»Unsere Gäste brechen schon auf. Du mußt herunterkommen und Mr. Stanford und Martin kennen lernen.«

Sie verließ ihre Schwester und ging in den Salon zurück.

»Es wäre vielleicht doch besser, sie in ein Hotel zu schicken«, meinte ihr Mann.

Dora lachte.

»Ihr beide habt euch nun schon den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen, wie wir das Ding zu Pierre hinschaffen könnten. Keiner von euch wollte sich der Gefahr aussetzen, mit der Diamantenkette der Königin von Griechenland abgefaßt zu werden –«

»Nicht so laut!« brummte Elton zwischen den Zähnen.

»Hör zu!« rief Big Bill Stanford. »Ich kann mir denken, was du sagen willst, Dora. Wer soll die Kette hinbringen?«

»Wer? Natürlich meine kleine Schwester!« erwiderte Mrs. Elton kühl.

6

Big Bill war nicht sentimental, aber dieser Vorschlag ging selbst ihm zu weit.

»Das ist unmöglich. Bedenke doch, wenn sie gefaßt wird und uns verrät?«

»Das ist auch mein einziges Bedenken, und es ist nur gering«, entgegnete Dora.

Der große Mann starrte einen Augenblick vor sich hin.

»Das Ding muß unbedingt aus dem Haus«, sagte er dann. »Schließe die Tür zu, Dora!«

Sie gehorchte. Auf dem Kaminsims stand eine wunderschön emaillierte Uhr, die mit einer kleinen Faungestalt geschmückt war. Stanford hob den Faun und damit einen Teil der Uhr ab, die ruhig weitertickte. Ein leiser Druck auf eine Feder genügte, um eine Seite des Bronzekastens zu öffnen und ein genau hineinpassendes Stanniolpaket zu zeigen. Er legte es auf den Tisch, und als er es auspackte, flammten blaue, grüne und weiße Blitze blendend auf. Voll Bewunderung sah Dora auf die Steine.

»Hier liegen nun siebzigtausend Pfund«, meinte Stanford nachdenklich, »und daneben liegen zehn Jahre für irgendjemand – sieben für Diebstahl und drei für Majestätsbeleidigung.«

Der elegante Martin Elton schauderte.

»Schenke dir doch solche Bemerkungen. Es handelt sich jetzt nur darum, wer das Ding fortbringt.«

»Audrey natürlich«, erklärte Dora gelassen. »Kein Mensch kennt sie, und niemand verdächtigt sie. Und Pierre ist leicht zu erkennen. Aber dann ist auch Schluß mit diesen Geschichten, Martin. Du weißt, der Krug geht solange zu Wasser, bis –«

»Vielleicht macht Lacy Marshalt ihn zu einem Direktor«, höhnte Stanford.

»Ich kenne den Mann ja kaum«, entgegnete sie. »Ich erzählte dir, daß ich ihn auf dem Ball bei Denshores getroffen habe, Bunny. Er ist Südafrikaner und steinreich, aber unerhört geizig.«

Martin sah sie mißtrauisch an.

»Ich wußte nicht, daß du ihn kennst –«

»Zur Sache!« rief Stanford ungeduldig. »Was soll werden – wenn sie gefaßt wird? Elton, nach der Geschichte in Leyland Hall hast du den Kram doch durch einen Mann aus Bognor außer Landes schaffen lassen. Erinnerst du dich? Nun, mit diesem Freund aus Bognor hat sich Dick Shannon heute stundenlang unterhalten.«

Martins hübsches, blasses Gesicht wurde noch einen Schein bleicher.

»Er wird nichts verraten«, murmelte er.

»Wer weiß! Wenn einer ihn dazu bringt, ist es Shannon.«

»Der Schmuck muß weg«, sagte Dora. »Packe ihn wieder ein, Martin.«

Er machte sich an die Arbeit, wickelte die Kette in Watte und legte sie in eine kleine, flache Zigarrenschachtel, die er mit braunem Papier umhüllte und verschnürte. Dann steckte er das Päckchen unter ein Sofakissen und brachte die Uhr wieder in Ordnung.

»Plaudert deine Schwester aus, wenn sie gefaßt wird?« fragte Stanford.

Dora überlegte einen Augenblick.

»Nein, bestimmt nicht!« sagte sie dann und ging hinauf, um Audrey zu holen.

Als das junge Mädchen ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf einen großen, breitschulterigen Mann mit kurzgeschorenem Haar, der sie mit ernsten, strengen Augen ansah.

 

»Mr. Stanford«, stellte Dora vor. »Und dies ist mein Mann.«

Verwundert betrachtete Audrey den zierlichen, stutzerhaften Mr. Elton, dessen bleiche Gesichtsfarbe durch das dunkle Schnurrbärtchen und die kohlschwarzen Augenbrauen noch mehr hervorgehoben wurde. Das war also der vielgepriesene Martin!

»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Audrey!« sagte er und schaute sie begeistert an. »Du hast ja eine entzückende Schwester, Dora!«

»Ja, sie ist jetzt hübscher als früher«, erwiderte seine Frau kühl, »aber fürchterlich angezogen.«

Audrey wurde nicht leicht verlegen, aber der unverwandte Blick des großen Mannes, der sie geradezu durchbohrte und abschätzte, war ihr unbehaglich. Sie atmete erleichtert auf, als er sich verabschiedete. Martin begleitete ihn hinaus, um Dora Gelegenheit zu geben, ihre Geschichte vorzubringen.

Sie erzählte von einer mißhandelten Frau, die sich genötigt gesehen hätte, aus Angst vor ihrem brutalen Gatten das Land zu verlassen, und nicht einmal Zeit gehabt hätte, das Miniaturbild ihres Kindes mitzunehmen.

»Wir haben uns das Bild verschafft«, fuhr sie fort. »Nach dem Buchstaben des Gesetzes waren wir allerdings nicht dazu berechtigt, aber die arme Mutter tat uns so leid. Durch ein gutes Trinkgeld hat Martin einen Diener des Hauses bewogen, uns das Bild zu bringen. Nun scheint der Mann aber die Sache herausgebracht zu haben und läßt uns Tag und Nacht beobachten, so daß wir es nicht wagen, das Bild durch die bereits gewarnte Post oder durch einen Boten fortzuschicken. Heute kommt nun ein Freund der armen Lady Nilligan nach London, und wir haben verabredet, ihm das Bild auf den Bahnhof zu bringen. Nun fragt es sich – würdest du wohl so lieb sein, es hinzutragen, Audrey? Dich kennt hier niemand. Die Spione werden dich nicht belästigen, und du kannst einer bedauernswerten Frau einen großen Dienst erweisen.«

»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Geschichte!« rief Audrey und runzelte die Stirne. »Könnt ihr denn nicht einen Dienstboten schicken? Oder kann der Mann nicht herkommen?«

»Ich sagte dir doch, daß unser Haus bewacht wird!« entgegnete Dora ungeduldig. »Aber natürlich, wenn du nicht willst –«

»Selbstverständlich werde ich es tun«, lachte Audrey.

»Wie nett von dir! Aber eins muß ich dir noch sagen: falls die Sache doch herauskommen sollte, darfst du unseren Namen nicht nennen. Ich bitte dich, mir bei dem Andenken an unsere tote Mutter zu schwören –«

»Das ist nicht nötig«, unterbrach sie Audrey kühl. »Ich verspreche es dir – das genügt.«

Aus dem kleinen Diner, von dem Dora gesprochen hatte, schien nichts geworden zu sein, denn um halb neun kam sie zu ihrer Schwester nach oben und übergab ihr ein längliches, fest verschnürtes und versiegeltes Päckchen.

Sie beschrieb ihr den geheimnisvollen Pierre genau.

»Vor allem aber kennst du mich nicht«, schärfte sie ihr noch einmal ein, »und du hast auch das Haus Curzon Street Nr.508 nie in deinem Leben betreten. Und zu dem Mann sagst du weiter nichts als: ›Dies ist für Madame.‹«

Audrey wiederholte die Worte.

»Welche Umstände für eine solche Kleinigkeit!« meinte sie dann. »Ich komme mir fast wie eine Verschworene vor.«

Nachdem sie das Päckchen in einer inneren Manteltasche verborgen hatte, verließ sie das Haus und entfernte sich in der Richtung nach Park Lane. Martin folgte ihr, behielt sie im Auge, bis sie in einen Omnibus stieg, und fuhr dann in einem Mietauto hinter ihr her.

Vor dem Charing Cross-Bahnhof stieg Audrey ab und eilte in die große Halle. Dort wimmelte es von Menschen, und es dauerte eine Weile, bis sie Pierre entdeckte, einen untersetzten, flachsbärtigen Mann mit einem kleinen Muttermal auf der linken Backe, das ihr als Erkennungszeichen dienen sollte. Ohne weiteres zog sie das Päckchen aus dem Mantel, ging auf ihn zu und sprach ihn mit den verabredeten Worten an.

Er schaute sie forschend an und ließ das Päckchen so schnell in seine Tasche gleiten, daß sie seiner Bewegung kaum zu folgen vermochte.

»Bien!« sagte er. »Wollen Sie Monsieur danken und –«

Er fuhr blitzschnell herum, aber der Mann, der ihn am Handgelenk gepackt hatte, ließ sich nicht abschütteln. Im selben Augenblick wurde auch Audrey am Arm gefaßt.

»Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte eine freundliche Stimme zu ihr. »Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard.«

Plötzlich stockte er jedoch und starrte entsetzt in ihr Gesicht.

»Meine Bettelprinzessin!« sagte er leise.

»Bitte, lassen Sie mich los!« Schreckliche Angst packte Audrey, und sie versuchte sich freizumachen. »Ich muß zu –« Noch rechtzeitig verstummte sie.

»Sie wollen natürlich zu Mrs. Elton«, ergänzte er.

»Nein, ich kenne keine Mrs. Elton«, erwiderte sie atemlos.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, darüber müssen wir noch genauer sprechen. Ich möchte Ihren Arm nicht festhalten. Wollen Sie mich so begleiten?«

»Sie – Sie verhaften mich?« keuchte sie.

Er nickte ernst.

»Ich muß Sie leider festnehmen, bis eine gewisse Angelegenheit aufgeklärt ist. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie in Unwissenheit gehandelt haben. Aber Ihre Schwester ist keineswegs unschuldig.«

Sprach er von Dora? Das Herz wurde ihr schwer, aber sie nahm sich zusammen.

»Ich will gern mit Ihnen sprechen und keinen Fluchtversuch machen. Aber ich komme nicht von Mrs. Elton, und sie ist nicht meine Schwester. Ich habe heute nachmittag geflunkert, als ich das behauptete.«

Er winkte ein Auto heran, gab dem Chauffeur Anweisung, wohin er fahren sollte, und half ihr beim Einsteigen.

»Sie lügen, um Ihre Schwester und Bunny Elton zu schützen«, sagte er unterwegs.

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, aber eins wußte sie jetzt klar: es war kein Miniaturbild gewesen, das sie Pierre übergeben hatte. Es war etwas ganz anderes – etwas Entsetzliches!

»Was war in dem Paket?« fragte sie tonlos.

»Die Diamantenkette der Königin von Griechenland, wenn ich nicht sehr irre. Man überfiel sie und riß ihr das Kollier vom Hals.«

Audrey richtete sich auf, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Dora!

»Sie wußten natürlich nicht, um was es sich handelte«, sagte er, als ob er zu sich selbst spräche. »Es ist in diesem Fall eine furchtbare Zumutung an Sie, aber Sie müssen die Wahrheit sagen – auch wenn es für Ihre Schwester ein Schicksal bedeutet, das sie längst erwartet.«

Das Auto schien sich im Kreise zu drehen. »Tu alles, was du kannst, für Dora...« Die beharrliche Mahnung ihrer Mutter dröhnte ihr in den Ohren. Sie zitterte heftig, und ihr Gehirn war plötzlich wie gelähmt.

Sie wußte nur, daß sie verhaftet war – sie, Audrey Bedford!

»Ich habe keine Schwester«, log sie, und atmete schwer. »Ich habe die Kette gestohlen.«

Als sie sein freundliches Lachen hörte, hätte sie ihn ermorden mögen.

»Sie armes, liebes Baby! Der Überfall wurde von drei erfahrenen Banditen ausgeführt. Nun hören Sie einmal zu. Ich gestatte Ihnen nicht, daß Sie diesen tollen Plan in die Tat umsetzen und sich einfach für diese Leute opfern. Wußten Sie denn nicht, daß Dora Elton und ihr Mann zu den gefährlichsten Verbrechern Londons gehören?«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.

»Nein, nein –« schluchzte sie. »Ich weiß nichts ... sie ist nicht meine Schwester.«

Dick Shannon seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzuklagen.

Pierre war schon vor ihnen auf der Polizeistation eingetroffen, und Audrey sah entsetzt zu, als man ihn durchsuchte, das Päckchen öffnete und seinen blitzenden Inhalt auf dem Schreibtisch niederlegte. Dann nahm sie Shannon freundlich an der Hand und führte sie hinter die Stahlschranke.

»Name: Audrey Bedford«, sagte er. »Adresse: Fontwell, West Sussex. Sie wird beschuldigt, im Besitz gestohlenen Gutes gewesen zu sein und gewußt zu haben, daß es sich um gestohlenes Gut handelte. – Nun sagen Sie die Wahrheit!« flüsterte er ihr zu.

Aber sie schüttelte den Kopf.

7

Lacy Marshalt saß in seinem Frühstückszimmer und verglich ein Foto mit der Momentaufnahme eines unternehmenden Pressefotografen, die in einer Zeitung wiedergegeben war: ein junges Mädchen, das in Begleitung eines Polizisten und einer Gefängniswärterin ein Auto verließ.

Tonger kam hereingeschlüpft.

»Haben Sie geklingelt, Lacy?«

»Ja, vor zehn Minuten. Und nun ein für allemal: ich verbitte mir diese Anrede!«

Der kleine Mann rieb sich vergnügt die Hände.

»Ich hab' einen Brief von meinem Mädel bekommen«, sagte er. »Sie ist in Amerika und gut bei Kasse – wohnt in den ersten Hotels. Ein schlaues Kind!«

Lacy faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

»Mrs. Elton wird gleich hier sein. Sie kommt durch die Hintertür. Erwarte sie dort und führe sie durch den Wintergarten in die Bibliothek. Wenn ich klingle, bringst du sie auf demselben Weg wieder zurück.«

Als Dora kaum fünf Minuten später in der Bibliothek erschien, stand Lacy vor dem Kaminfeuer.

»Ich habe meine liebe Not gehabt, um herzukommen«, sagte sie. »Konnte es denn nicht nachmittags sein? Ich mußte Martin allerlei vorlügen. Gibt es denn nicht wenigstens einen Kuss?«

Er neigte sich zu ihr und streifte ihre Wange mit den Lippen.

»Was für ein Kuss!« spottete sie. »Nun, und –?«

»Dieser Juwelenraub! Die Polizei scheint anzunehmen, daß das angeklagte junge Mädchen deine Schwester ist?«

Sie schwieg.

»Ich weiß natürlich, daß du eine Diebin bist. Ich kenne Stanford von Südafrika her, und er gehört zu deiner Bande. Aber dieses Mädchen – ist sie auch daran beteiligt?«

»Du weißt, wie weit sie beteiligt ist«, erwiderte sie unmutig. Sie war schließlich nicht unter soviel Gefahren hierhergekommen, um über Audrey zu sprechen. »Übrigens stand hinten ein Mann und beobachtete das Haus, als ich herkam. Er sah aus wie ein Gentleman, hager und vornehm, und er hinkte –«

»Was?« Lacy packte sie am Arm. Er war bleich geworden. »Du belügst mich!«

Sie riß sich erschrocken los.

»Was soll denn das heißen?«

»Ach, es sind die Nerven! Sie ist also deine Schwester?«

»Meine Stiefschwester«, murmelte sie.

»Ihr hattet verschiedene Väter?«

Sie nickte.

Er schwieg eine Weile und lachte dann unheimlich auf.

»Und sie geht ins Gefängnis – um dich zu retten? – Nun, mir kann es recht sein. Ich habe Zeit.«

8

Audrey war fest geblieben, hatte ihre Schwester nicht verraten und war zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt worden. An einem trüben Dezembermorgen wurde sie wieder aus dem Holloway-Gefängnis entlassen. Sie ging in der Richtung nach Camden Town davon, stieg in eine Straßenbahn und fuhr zum Euston-Bahnhof.

Ihr Gesicht war ein wenig schmaler geworden, und die Augen blickten ernster, aber es war die alte Audrey, die sich in einem Restaurant eine große Portion gebratener Nieren mit Ei bringen ließ. Neun Monate lang hatte das monotone Leben im Gefängnis sie zermürbt. Zweiundsiebzig Stunden in der Woche hatte sie mit dem Abschaum der Unterwelt verbracht, ohne auf das Niveau dieser Leute herabzusinken, und ohne sich ihnen maßlos überlegen zu fühlen. In bitteren Nächten hatte sie verzweifeln wollen, weil man ihr solches Unrecht angetan hatte.

Trotzdem kam ihr Doras Handlungsweise nicht unnatürlich vor. Sie war immer rücksichtslos und egoistisch gewesen. Nur daß ihre Schwester im Charakter soviel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte, schmerzte Audrey.

Mit einem Seufzer stand sie auf und ging nach der Kasse, um zu bezahlen.

Wohin sollte sie sich nun wenden? Zuerst zu Dora, um sich zu vergewissern, ob sie ihr auch nicht mit ihren Gedanken unrecht getan hatte. Aber bei Tag wäre ein Besuch nicht angebracht gewesen. So machte sie sich denn auf die Wohnungssuche, mietete schließlich ein hochgelegenes Hinterzimmer und machte sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg.

In der Curzon Street wurde sie von demselben Mädchen empfangen, das ihr bei ihrem ersten Besuch geöffnet hatte.

»Mrs. Elton ist nicht zu sprechen«, erklärte sie schnippisch.

Aber Audrey trat ruhig ein.

»Gehen Sie nach oben und sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich hier bin.«

Das Mädchen eilte hinauf, und Audrey folgte ihr. In der Wohnzimmertür kam ihr Dora in großem Abendkleid entgegen.

 

»Wie kannst du dich unterstehen, hierherzukommen?« fragte sie wütend.

Audrey trat ins Zimmer und schloß die Tür.

»Ich wollte mir deinen Dank holen«, sagte sie schlicht. »Ich habe etwas Törichtes – etwas Wahnsinniges getan, weil ich Mutter vergelten wollte, was ich ihr schuldig war.«

»Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«

Martin mischte sich ins Gespräch.

»Daß Sie die Stirn haben, hierherzukommen! Sie versuchten, uns ins Verderben zu ziehen. Sie haben Ihre – haben Mrs. Elton mit Schande bedeckt und erscheinen nun hier ganz einfach im Haus. Verdammt unverfroren!«

»Wenn du Geld brauchst, so schreibe!« rief Dora und stieß die Tür auf. »Solltest du dich noch einmal hier zeigen, so lasse ich einen Polizisten rufen.«

»Das kannst du jetzt schon tun«, entgegnete Audrey kühl. »Ich bin zu gut bekannt mit Polizisten und Gefängniswärtern, um mich durch solche Drohungen einschüchtern zu lassen, liebe Schwester.«

Dora machte die Tür rasch wieder zu.

»Wenn du es denn durchaus wissen willst – wir sind keine Schwestern«, sagte sie leise und tückisch. »Du bist nicht einmal Engländerin! Dein Vater war Mutters zweiter Mann – ein Amerikaner! Und er sitzt lebenslänglich verurteilt in Kapstadt!«

Audrey tastete nach einer Stuhllehne.

»Das ist nicht wahr!«

»Es ist wahr!« zischte Dora. »Mutter erzählte es mir, und Mr. Stanford kennt die ganze Geschichte. Dein Vater kaufte Diamanten und erschoß den Mann, der ihn verriet. In Südafrika ist der Ankauf von Diamanten ein Kapitalverbrechen, und er brachte Schande über Mutter. Sie nahm einen anderen Namen an und kehrte nach England zurück. Du hast nicht einmal ein Recht auf den Namen Bedford! Sie haßte den Mann so, daß sie alles änderte.«

Audrey nickte.

»Und Mutter verließ ihn natürlich«, sagte sie halb zu sich selbst. »Sie blieb nicht in seiner Nähe, um ihn zu trösten und sein schweres Los zu erleichtern. Sie verließ ihn einfach. Wie ihr das ähnlich sieht!«

Ihre Worte klangen weder boshaft noch erbittert, denn sie hatte die Gabe, Tatsachen objektiv und leidenschaftslos zu betrachten. Langsam hob sie den Blick, bis sie Doras Augen begegnete.

»Ich hätte nicht ins Gefängnis gehen sollen. Du bist es nicht wert. Und Mutter ebensowenig. «

»Du unterstehst dich, so von unserer Mutter zu sprechen!« schrie Dora wütend.

»Ja, sie war auch meine Mutter. Aber sie steht nun jenseits meiner Kritik und deiner Verteidigung. Wie heiße ich denn dann in Wirklichkeit?«

»Das kannst du selbst herausbringen!« höhnte Dora.

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