Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Nachdem wir unsere traurige Last an diesem Ort des Schreckens auf einen Schragen gestellt hatten, schoben wir den noch nicht verschraubten Deckel des Sargs ein Stück zur Seite und betrachteten das Gesicht der Verstorbenen. Eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester erregte zuerst meine Aufmerksamkeit. Usher erriet wohl meine Gedanken und murmelte einige Worte, denen ich entnahm, dass die Verstorbene und er Zwillinge seien und dass zu allen Zeiten zwischen ihnen eine Seelengemeinschaft bestanden habe, die von einem Außenstehenden kaum hätte verstanden werden können. Aber nicht sehr lange ruhten unsere Blicke auf der Toten – denn wir konnten sie nicht ohne Scheu betrachten. Das Übel, von dem Madeline in der Reife der Jugend ins Totenbett gelegt worden war, hatte wie alle Krankheiten epileptischer Art den Hohn eines schwachen Rot auf Brust und Gesicht und jenes verdächtig andauernde Lächeln auf den Lippen zurückgelassen, das im Tod so schrecklich wirkt. Wir legten den Deckel wieder auf und schraubten ihn leicht an; nachdem wir die Eisentür gesichert hatten, kehrten wir schleppenden Gangs in die kaum weniger düsteren oberen Räume zurück.

Nun, da einige Tage bitteren Kummers verflossen waren, erfolgte ein merklicher Wandel in den Anzeichen der geistigen Verstörung meines Freundes. Sein sonstiges Benehmen war gewichen, er vernachlässigte seine gewohnten Beschäftigungen oder vergaß sie, er durchwanderte Zimmer um Zimmer mit hastigem, ungleichem und ziellosem Schritt. Die Blässe seines Gesichts hatte eine womöglich noch geisterhaftere Schattierung angenommen – und die Leuchtkraft seiner Augen war gänzlich erloschen. Ich hörte den gelegentlich heiseren Ton seiner Stimme nicht mehr, seine Äußerungen kamen in einem zittrigen Tremolo, wie in höchster Angst hervorgebracht. Es gab Zeiten, da ich dachte, sein unentwegt aufgeregtes Gemüt quäle sich mit irgendeinem ihn bedrückenden Geheimnis ab und er kämpfe vergeblich um den nötigen Mut, es auszusprechen. Dann wieder sah ich mich veranlasst, alles auf bloße, unerklärbare Wunderlichkeiten eines Wahns zu schieben, denn ich sah, wie er stundenlang in der Haltung angespannter Aufmerksamkeit ins Leere starrte, als horche er auf irgendeinen eingebildeten Klang. Kein Wunder, dass sein Zustand mich in Schrecken versetzte – und ansteckte. Ich spürte, wie seine phantastischen und doch beeindruckenden Wahnvorstellungen langsam, aber Grad um Grad in mich krochen.

In besonderem Maß geschah dies am siebten oder achten Tag, nachdem wir Lady Madeline in dem Verlies niedergelegt hatten, als ich spät schlafen ging und die ganze Macht solcher Empfindungen zu spüren bekam. Kein Schlaf kam meinem Lager nah – während Stunde um Stunde verrann. Ich bemühte mich angestrengt, mir die Nervosität auszureden, die Gewalt über mich hatte. Ich ließ nicht nach, mich glauben zu machen, dass viel, wenn nicht alles, was mich überfallen hatte, dem beunruhigenden Einfluss der düsteren Zimmereinrichtung anzulasten sei – den dunklen, zerschlissenen Vorhängen, die vom Atem eines aufkommenden Sturms bewegt wurden, an den Wänden rieben und unangenehm an den Bettverzierungen raschelten. Alle Mühe war vergeblich. Eine nicht zu unterdrückende Beklemmung durchdrang mich und lastete schließlich als ein durch nichts zu begründender Alp schwer auf meinem Herzen. Mit einem tiefen Atemzug schüttelte ich sie ab, nahm mich zusammen und richtete mich in den Kissen auf. Ich starrte angestrengt in das tiefe Dunkel des Zimmers und horchte – ohne zu wissen, warum, es sei denn, ein Instinkt veranlasste mich dazu – auf irgendwelche dumpfe, unbestimmte Geräusche, die in den Pausen des Sturmwinds in längeren Abständen an mein Ohr drangen; woher, wusste ich nicht. Von einem intensiven, unerklärbaren und doch nicht zu ertragenden Gefühl des Schreckens überwältigt, fuhr ich hastig in die Kleider (ich spürte, dass ich in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde) und versuchte mit aller Anstrengung, mich aus dem jämmerlichen Zustand aufzurütteln, in den ich geraten war, indem ich rasch im Zimmer hin und her ging.

Ich hatte es auf diese Weise ein paar Mal durchmessen, als ich auf einen leichten Schritt im nahen Treppenhaus aufmerksam wurde. Sofort erkannte ich ihn als den Ushers. Und schon klopfte es behutsam an meiner Tür, er trat ein, eine Lampe in der Hand. Sein Gesicht war wie immer von leichenhafter Blässe – aber in seinen Augen war etwas wie die Heiterkeit eines Wahnsinnigen – in seinem ganzen Benehmen unterdrückte Hysterie. Sein Wesen erschreckte mich, aber alles war der Einsamkeit vorzuziehen, die ich so lange ertragen hatte, und so war mir seine Gegenwart eine willkommene Erleichterung.

»Und du hast es nicht gesehen?«, fragte er abrupt, nachdem er einige Augenblicke umhergeschaut hatte. »Du hast es also nicht gesehen? Warte, du sollst es sehen.« Während er sprach, verdunkelte er sorgfältig die Lampe, lief zu einem der Flügelfenster und öffnete es dem Sturm.

Die ungestüme Wut des hereinfahrenden Windstoßes hob uns fast vom Boden. Es war eine stürmische und doch schaurigschöne Nacht, einzigartig in ihrem Rasen und ihrer Schönheit. Ein Wirbelwind hatte offenbar seine Kraft in unserer Nähe versammelt, denn er sprang häufig und ungestüm in alle möglichen Richtungen um, aber die ausnehmende Dichte der Wolken (sie hingen so niedrig, dass sie auf die Türmchen des Hauses zu drücken schienen) hinderte uns nicht wahrzunehmen, dass sie wie lebendige Wesen von allen Seiten gegeneinander anstürmten, ohne sich in die Ferne zu verziehen. Ich sage, dass sogar ihre ausnehmende Dichte uns nicht hinderte, es wahrzunehmen – und doch war kein Schimmer des Monds oder der Sterne zu sehen – noch auch zuckte ein Blitzstrahl aus ihnen. Aber die unteren Flächen der riesigen Massen wildbewegten kondensierten Dunstes wie auch alle irdischen Dinge in unserer unmittelbaren Umgebung glühten im unnatürlichen Licht einer schwachleuchtenden und deutlich sichtbaren gasartigen Ausdünstung, die um das Haus hing und es einhüllte.

»Du darfst – du sollst das nicht sehen!«, sagte ich erschauernd zu Usher, während ich ihn mit sanfter Gewalt vom Fenster weg zu einem Sessel zog. »Diese Erscheinung, die dich beunruhigt, ist nichts als ein elektrisches Phänomen und nichts Ungewöhnliches. Es kann auch sein, dass die Ursache des geisterhaften Leuchtens in den widerlichen Miasmen des Teichs zu suchen ist. Schließen wir das Fenster – die Luft ist kühl und kann dir gefährlich werden. Hier ist eine deiner Lieblingsgeschichten. Ich lese vor, du hörst zu, und so werden wir diese schreckliche Nacht gemeinsam herumbringen.«

Der alte Band, den ich in die Hand genommen hatte, war Mad Trist von Sir Launcelot Canning63, aber ich hatte ihn mehr in traurigem Scherz als im Ernst als ein Lieblingsbuch Ushers bezeichnet, denn tatsächlich findet sich in dem Buch bei seiner unbeholfenen und phantasielosen Weitschweifigkeit kaum etwas, das für den hohen, vergeistigten Idealismus meines Freundes von Interesse hätte sein können. Es war aber das einzige greifbare Buch, und ich hegte die leise Hoffnung, dass sich die Erregung, die den Hypochonder beherrschte, vielleicht gerade durch die extreme Verrücktheit der Erzählung lösen könnte, die ich vorlesen wollte (in der Geschichte der Geisteskrankheiten gibt es eine Menge ähnlicher Anomalien). Hätte ich aus der angespannten, lebendigen Anteilnahme, wie er der Erzählung folgte oder doch zu folgen schien, tatsächlich einen Schluss ziehen wollen, hätte ich mir zum Erfolg meines Plans gratulieren können.

Ich war an der wohlbekannten Stelle der Geschichte angekommen, wo Ethelred, der Held von Trist, nachdem er vergebens auf friedliche Weise versucht hat, in die Klause des Eremiten eingelassen zu werden, sich daranmacht, sich gewaltsam Eintritt zu verschaffen. Hier, man wird sich erinnern, läuft die Erzählung so:

»Und Ethelred, der von Natur ein tapferes Herz hatte und nun obendrein von der Kraft des Weins, den er getrunken hatte, mächtig in Fahrt war, trödelte nicht langer herum, mit dem Eremiten zu verhandeln, der, um die Wahrheit zu sagen, ein widerspenstiger und böswilliger Mensch war. Da er den Regen bereits auf der Schulter spürte und das Aufziehen eines Gewitters befürchtete, holte er mit seiner Keule aus und schaffte sich schnell mit wuchtigen Schlägen in den Planken der Tür Platz für seine gepanzerte Faust, rüttelte kräftig daran und zerbrach und spaltete und riss das ganze Gefüge mit solcher Vehemenz auseinander, dass das Krachen des trockenen und hohl tönenden Holzes den ganzen Wald weckte und daraus widerhallte.«

Am Ende dieses Satzes fuhr ich zusammen und hielt einen Augenblick ein, denn es schien mir (ich sagte mir aber sogleich, dass meine aufgeregte Phantasie mich getäuscht haben musste), als klinge mir aus einem entfernten Teil des Hauses undeutlich in die Ohren, was in genauer Art und Entsprechung das Echo (allerdings ein gedämpftes, dumpfes) eben dieses splitternden und krachenden Holzes war, das Sir Launcelot so plastisch beschreibt. Es war zweifellos lediglich die Gleichzeitigkeit des Geräusches, die mich aufmerksam gemacht hatte, denn bei dem Klappern der Schiebefenster und dem Begleitlärm des noch zunehmenden Sturms hatte das Geräusch bestimmt nichts an sich, das mich hätte aufhorchen lassen oder beunruhigen können. Ich las also weiter:

»Als nun der wackere Kämpfer Ethelred durch die Tür trat, wurde er wütend und wunderte sich, keine Spur des bösartigen Eremiten vorzufinden. An dessen Statt hockte ein Drache von schuppenartigem, erschreckendem Aussehen mit feuriger Zunge als Wächter vor einem goldenen Palast mit silbernem Boden, und an der Wand hing ein Schild aus schimmernder Bronze mit der eingegrabenen Aufschrift:

Wer hier eintritt, ist gewesen ein Held.

Wer den Drachen schlägt, gewinnet den Schild.

Und Ethelred hob die Keule und schlug auf den Kopf des Drachen, der vor ihn hinstürzte und seinen letzten stinkenden Atem verhauchte, wobei er so grauenhaft grell und durchdringend brüllte, dass Ethelred die Ohren mit den Händen gegen das entsetzliche Geschrei verschließen musste, dessen Art noch nie war gehört worden.«

 

Hier stockte ich wieder, und diesmal in höchster Verblüffung – denn kein Zweifel, was ich in diesem Augenblick tatsächlich hörte (auch wenn ich unmöglich hätte sagen können, aus welcher Richtung es kam), war ein gedämpftes, offenbar fernes, aber scharfes, lang gezogenes, höchst ungewöhnliches kreischendes oder knirschendes Geräusch – das genaue Gegenstück zu dem, was ich mir in meiner Phantasie als das unnatürliche Gebrüll des Drachen vorgestellt hatte, das der Romanschreiber schildert.

Beklommen, wie ich natürlich über das Eintreten dieser zweiten und höchst ungewöhnlichen Gleichzeitigkeit war, und Beute vielfacher widersprüchlicher Gefühle, bei denen Verwunderung und Grauen vorherrschten, bewahrte ich trotzdem so viel Geistesgegenwart, nicht durch irgendeine Bemerkung die nervöse Sensibilität meines Gefährten zu erregen. Ich war keineswegs sicher, ob er die Geräusche wahrgenommen hatte; allerdings war während der verflossenen Minuten in seiner Haltung eine auffallende Änderung vor sich gegangen. War er mir bisher gegenübergesessen, so hatte er allmählich den Sessel so gedreht, dass sein Gesicht der Zimmertür zugekehrt war. Dadurch konnte ich es nur teilweise sehen, bemerkte aber doch, dass seine Lippen sich bewegten, als murmle er unhörbar irgendetwas. Sein Kopf war auf die Brust gesunken – aber ich wusste, dass er nicht in Schlaf gefallen war, weil ich von der Seite einen Blick auf sein Profil tun konnte: das Auge war weit aufgerissen. Auch die Bewegung seines Körpers passte nicht dazu – denn er wiegte ihn langsam, aber stetig und gleichmäßig hin und her. Nachdem ich mir in aller Eile dieses Bild gemacht hatte, nahm ich den Erzählfaden Sir Launcelots wieder auf, der weiter berichtet:

»Und da der Recke der schrecklichen Wut des Drachen entkommen war, besann er sich auf den ehernen Schild und des diesem innewohnenden, nunmehr gebrochenen Zaubers, räumte den Kadaver beiseite und näherte sich über den silbernen Boden hinweg tapfer der Stelle, wo der Schild an der Wand hing, der wahrhaftig nicht erst auf Ethelreds Kommen wartete, sondern mit lautem und schauerlich dröhnendem Getöse vor ihm auf den silbernen Boden fiel.«

Kaum hatte ich die letzten Silben ausgesprochen, drang mir ein deutlicher, hohler, metallisch klingender, aber offenbar gedämpfter Widerhall in die Ohren – als sei in eben diesem Augenblick ein eherner Schild schwer auf einen Silberboden geprallt. Gänzlich außer mir sprang ich auf, aber das regelmäßige Hin- und Herschwanken von Ushers Oberkörper dauerte an. Ich stürzte zu dem Sessel, in dem er saß. Seine Augen blickten gerade vor sich hin, sein Gesicht war zu steinerner Starre gefroren. Als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, erschauerte er am ganzen Körper, ein gequältes Lächeln spielte um seine Lippen. Ich sah, dass er in rasender Eile leise und undeutlich vor sich hin sprach, als sei er sich meiner Gegenwart nicht bewusst. Ich beugte mich nah zu ihm hin und verstand entsetzt die grässliche Bedeutung seines Gemurmels.

»Ich es nicht hören? – O ja, ich höre es, ich habe es gehört. Lange – lange – lange – viele Minuten, viele Stunden, viele Tage habe ich es gehört und wagte doch nicht – bedauere mich, den elenden Wicht, der ich bin! – Ich wagte es nicht – ich wagte nicht zu sprechen. Wir haben sie lebendig in den Sarg gelegt! Sagte ich nicht, dass meine Sinne scharf sind? Jetzt sage ich dir, dass ich ihre ersten schwachen Bewegungen in dem hohlen Sarg gehört habe. Ja, gehört – vor vielen, vielen Tagen schon – und doch wagte ich es nicht – wagte nicht zu sprechen! Und jetzt – heute Nacht – Ethelred – haha! – das Krachen der Tür des Einsiedlers, und das Todesröcheln des Drachen, und der Klang des Schilds! – sag lieber das Knirschen des Sargdeckels, und das Kreischen der Eisenangeln ihres Gefängnisses, und ihr Kampf mit dem kupfernen Bogengang des Gewölbes! Wohin soll ich fliehen? Wird sie nicht jeden Augenblick hier sein? Kommt sie nicht, um mir Übereilung vorzuwerfen? Höre ich nicht ihren Schritt auf der Treppe? Kann ich nicht das schwere, furchtbare Schlagen ihres Herzens hören? WAHNSINNIGER!« Er sprang heftig auf und schrillte seine Worte heraus, als wolle er in diesem Ausbruch die Seele aufgeben. »WAHNSINNIGER! ICH SAGE DIR, SIE STEHT JETZT VOR DER TÜR!«

Als hätte die übermenschliche Kraft der geschrienen Worte die Macht eines Zaubers – so öffnete die Tür mit den hohen altertümlichen Füllungen, auf die Usher deutete, in diesem Augenblick langsam die schweren, ebenholzdunklen Kiefer. Es war vielleicht das Werk eines gewaltigen Windstoßes – aber da stand die schlanke, in Weiß gehüllte Gestalt Lady Madeline Ushers unter der Tür. Blutflecken waren auf dem Leichentuch und Spuren verzweifelter Anstrengungen auf dem abgezehrten Körper. Einen Augenblick verharrte sie zitternd und schwankend auf der Schwelle, dann stürzte sie mit einem leisen, schmerzlichen Stöhnen nach innen auf ihren Bruder, der während ihres schweren, endgültigen Todeskampfs leblos mir ihr zu Boden sank, Opfer des Entsetzlichen, das er vorausgefühlt hatte.

Gehetzt floh ich aus dem Zimmer und diesem Haus. Der Sturm tobte noch in voller Wut, als ich mich auf dem alten Weg wiederfand. Mit einmal flutete ein Schimmer darüber hin. Ich drehte mich um, um zu sehen, wovon der ungewöhnliche Schein ausgehen mochte, denn hinter mir waren nur das mächtige Haus und seine Schatten. Das Leuchten kam von einem Teil des untergehenden blutroten Vollmonds, der hell durch den einst kaum wahrnehmbaren, bereits erwähnten Riss schien, der vom Dach des Hauses im Zickzack zum Fundament gelaufen war. Während ich darauf starrte, erweiterte er sich rasch. Wieder ein heftiger Windstoß, und das ganze Rund des Satelliten stand vor meinen Augen. Mir schwindelte der Kopf, als ich sah, dass die mächtigen Mauern auseinanderbarsten. Ein langes, lautes Getöse wie das Brausen von tausend Wasserfällen, und der tiefe dunkle Teich schloss sich düster über den Trümmern des HAUSES USHER.

1839 Übersetzung von Otto Weith

William Wilson

Was? was nur soll ich sagen vom Gewissensgrimm,

ein Spuk auf meinem Pfad?

WILLIAM CHAMBERLAYNE, Pharonnida64

Man erlaube mir, mich hier William Wilson zu nennen. Das reine Blatt, das jetzt vor mir liegt, braucht nicht mit meinem wahren Namen besudelt zu werden. Der ist schon zu sehr ein Gegenstand des Hohns – des Grauens – des Abscheus meines Geschlechts gewesen. Haben nicht die empörten Winde seine Schande ohnegleichen bis in die entlegensten Regionen des Erdballs ausgesprengt? O von allen Ausgestoßenen verworfenster Ausgestoßener! – bist du für die Erde nicht auf immer tot? – für ihre Ehren, ihre Blumen, ihr goldenes Trachten? – und eine Wolke, dicht, düster und grenzenlos, hängt sie nicht ewig zwischen deinen Hoffnungen und dem Himmel?

Selbst wenn ich es könnte, würde ich hier und heute nicht einen Bericht über meine späteren Jahre voll des unaussprechlichen Elends und unverzeihlichen Verbrechens einfügen. Diese Epoche, diese späteren Jahre, wurden von einem jähen Anstieg der Schändlichkeit ereilt, dessen Ursprung zu bestimmen allein meine gegenwärtige Absicht ist. Gewöhnlich sinken die Menschen allmählich. Von mir fiel in einem Augenblick alle Tugend auf einmal ab wie ein Mantel. Von vergleichsweise trivialer Schlechtigkeit ging ich mit dem Schritt eines Riesen zu schlimmeren Ungeheuerlichkeiten als denen eines Heliogabals65 über. Welcher Zufall, welches eine Ereignis dies Übel herbeiführte – man übe Nachsicht mit mir, während ich darüber berichte. Der Tod naht; und der Schatten, den er vorauswirft, hat sich besänftigend auf meine Seele gelegt. Ich sehne mich auf meiner Wanderung durchs finstere Tal nach dem Mitgefühl – fast hätte ich gesagt, nach dem Erbarmen – meiner Mitmenschen. Ich würde sie gern glauben machen, dass ich in gewissem Maße der Sklave von Umständen war, die außerhalb menschlicher Macht liegen. Ich wünschte, dass sie in den Details, die ich ausbreiten will, inmitten einer Wüste von Verirrungen eine kleine Oase vorbestimmten Fatums für mich fänden. Ich möchte, dass sie zugeben – was sie ohnehin zugeben müssen –, dass zuvor ein Mensch, wiewohl es so große Versuchung immer gegeben haben mag – zumindest nie so versucht wurde – gewiss aber nie so fiel. Und hat deshalb auch noch nie einer so gelitten? Habe ich nicht tatsächlich in einem Traum gelebt? Und sterbe ich jetzt nicht als Opfer des Grauens und Mysteriums der wahnwitzigsten aller irdischen Visionen?

Ich bin der Abkömmling eines Geschlechts, das von jeher durch sein phantasievolles und leicht erregbares Temperament hervorstach; und meine früheste Kindheit legte davon Zeugnis ab, dass ich den Familiencharakter völlig geerbt hatte. Während ich heranwuchs, prägte er sich immer stärker aus; und aus vielerlei Gründen wurde er eine Quelle ernster Besorgnis für meine Freunde und konkreten Schadens für mich selbst. Ich wurde eigensinnig, gab mich den wildesten Launen hin, wurde eine Beute zügellosester Leidenschaften. Willensschwach und mit ähnlichen Charakterfehlern behaftet wie ich selbst, vermochten meine Eltern nur wenig gegen die schlechten Neigungen auszurichten, die mich auszeichneten. Einige schwache und unbeholfene Anstrengungen endeten mit einem vollständigen Fehlschlag ihrerseits und natürlich mit einem totalen Triumph meinerseits. Von da an war meine Stimme Gesetz im Hause; und in einem Alter, wo nur wenige Kinder sich vom Gängelband gelöst haben, war ich der Führung meines eigenen Willens überlassen und wurde, wenn auch nicht dem Namen nach, Herr meiner Handlungen.

Meine frühesten Erinnerungen an ein Schulleben sind mit einem großen, weitläufigen Elisabethanischen Haus in einem nebelverhangenen Städtchen Englands verbunden, wo eine Unmenge riesiger knorriger Bäume stand und alle Häuser uralt waren. Wirklich, es war ein traumhafter und Ruhe verströmender Ort, dies ehrwürdige alte Städtchen. Noch jetzt spüre ich, wenn ich zurückdenke, die erquickende Kühle seiner tiefschattigen Alleen, atme den Duft seiner tausend Büsche, und von neuem durchschauen mich mit unbeschreiblichem Entzücken der tiefe hohle Ton der Kirchglocke, der allstündlich mit dumpfem und plötzlichem Dröhnen die Stille des Nebeldämmers durchbrach, in der schlafend der gezackte gotische Spitzturm eingebettet lag.

Das Verweilen bei winzigen Erinnerungen an die Schule und ihre Angelegenheiten bereitet mir vielleicht die größte Freude, die ich jetzt überhaupt noch zu empfinden vermag. Vom Elend verschlungen, wie ich bin – ein Elend, ach, nur allzu wirklich –, wird man mir verzeihen, dass ich Erleichterung, und sei sie noch so schwach und vorübergehend, in der Hingabe an ein paar weitschweifige Details suche. So überaus trivial und sogar lächerlich sie an sich auch sind, ist ihnen doch in meiner Erinnerung eine weit reichende Bedeutung zugefallen, da sie mit einem Lebensabschnitt und einem Ort verbunden sind, wo ich die ersten dunklen Mahnungen des Schicksals erkenne, das mich später so ganz überschattete. Man gönne mir also die Erinnerung.

Das Haus war, ich sagte es schon, alt und unregelmäßig. Das Grundstück war ausgedehnt, und das Ganze rings von einer hohen, massiven Ziegelmauer umgeben, die oben bedeckt war von einer Schicht Mörtel mit Glasscherben darin. Dieser gefängnismäßige Wall bildete die Grenze unseres Reiches; darüber hinaus sahen wir nur dreimal in der Woche – einmal jeden Samstagnachmittag, wenn wir, begleitet von zwei Hilfslehrern, gemeinsam kurze Spaziergänge in die angrenzenden Felder machen durften – und zweimal am Sonntag, wenn man uns in der gleichen förmlichen Weise zum Morgen- und Abendgottesdienst in die einzige Kirche des Städtchens paradieren ließ. Pfarrer dieser Kirche war unser Schulrektor. Wie tief war das Gefühl des Erstaunens und der Verwirrung, wenn ich ihm von unserem entlegenen Sitz auf der Empore aus zuzusehen pflegte, wie er feierlichen und gemessenen Schritts zur Kanzel hinaufstieg! Dieser ehrwürdige Mann, mit der so gütig ernsten Miene, in dem so leuchtenden und so geistlich wallenden Talar, der so sorgfältig gepuderten, steifen, mächtigen Perücke – konnte es derselbe sein, der unlängst mit mürrischem Gesicht, in tabak-fleckigen Kleidern, in der Hand den Stock, die drakonischen Gesetze der Anstalt vollstreckte? O ungeheuerliches Paradox, allzu monströs, um je gelöst zu werden!

In einem Winkel der wuchtigen Mauer starrte einem ein noch wuchtigeres Tor entgegen. Es war vernietet und beschlagen mit Eisenbolzen und von zackigen Eisenspitzen überragt. Welche Gefühle tiefer Ehrfurcht flößte es ein! Es öffnete sich nie, außer für die drei bereits erwähnten regelmäßigen Ausgänge und bei der Rückkehr; dann fanden wir in jedem Knarren seiner mächtigen Angeln eine Fülle von Geheimnissen, eine Welt von Stoff für feierliche Worte oder noch feierlichere stumme Betrachtungen.

 

Die weitläufige Einfriedung war von unregelmäßiger Form und hatte viele geräumige Vertiefungen. Drei oder vier der größten davon bildeten unseren Spielplatz. Er war eben und mit feinem harten Kies bedeckt. Ich erinnere mich gut, dass es weder Bäume noch Bänke noch sonst etwas Ähnliches auf ihm gab. Natürlich befand er sich hinter dem Haus. Nach vorn lag eine schmale Rabatte, bepflanzt mit Buchsbaum und anderen Sträuchern; aber durch diesen geheiligten Bezirk schritten wir nur bei wirklich seltenen Anlässen – wie etwa bei der ersten Ankunft in der Schule oder beim endgültigen Abgang von ihr; oder vielleicht, wenn Eltern oder Freunde uns in die Weihnachts- oder Sommerferien abholten und wir freudig den Weg nach Hause einschlugen.

Aber das Haus! – was für ein wunderliches altes Gebäude war das! – für mich wahrhaft ein verzauberter Palast! Wirklich nirgendwo nahmen sie ein Ende, seine Windungen – seine unfasslichen Unterteilungen. Es war jederzeit schwierig, mit Bestimmtheit zu sagen, in welchem seiner beiden Stockwerke man sich gerade befand. Man konnte sicher sein, von jedem Raum zum andern auf ein paar Treppen zu stoßen, entweder hinauf oder hinunter. Dann waren die Seitengänge zahllos – unbegreiflich – und liefen so ineinander zurück, dass unsere exaktesten Vorstellungen von dem ganzen Gebäude nicht sehr verschieden waren von denen, die wir uns von der Unendlichkeit machten. In den fünf Jahren meines Aufenthalts dort war ich nicht imstande, mit Sicherheit festzustellen, in welchem entfernten Teil der kleine Schlafsaal lag, der mir und weiteren achtzehn oder zwanzig Mitschülern zugewiesen war.

Das Schulzimmer war das größte im Haus – ja, mir schien unweigerlich, in der ganzen Welt. Es war sehr lang, schmal und grässlich niedrig, hatte gotische Spitzbogenfenster und eine Decke aus Eichenholz. In einem entlegenen, Furcht einflößenden Winkel befand sich ein viereckiger Verschlag von acht oder zehn Fuß Breite, der »während des Unterrichts« das Sanctum unseres Rektors, des Reverend Dr. Bransby, bildete. Es war ein solider Bau mit massiver Tür, und wir alle hätten lieber Folterqualen erlitten, als gewagt, sie in Abwesenheit des »Dominic« zu öffnen. In den anderen Ecken standen zwei ähnliche Kästen, weit weniger gefürchtet zwar, aber immerhin noch respektheischend genug. Einer war das Katheder des »klassischen«, der andere das des »englischen und mathematischen« Hilfslehrers. Über den Raum verstreut, kreuz und quer in endloser Unregelmäßigkeit, standen unzählige Bänke und Pulte, schwarz, uralt und abgenutzt, mit kühnen Stößen zerlesener Bücher beladen und so mit Initialen, vollständigen Namen, grotesken Figuren und vielerlei anderen Leistungen des Taschenmessers übersät, dass sie das Wenige ihrer ursprünglichen Form, das sie in längst vergangenen Tagen einmal besessen haben mochten, ganz eingebüßt hatten. Ein riesiger Kübel mit Wasser stand am einen Ende des Saals, und am andern eine Uhr von verblüffenden Ausmaßen.

Eingeschlossen hinter den wuchtigen Mauern dieser ehrwürdigen Anstalt, verbrachte ich, doch keineswegs in Langeweile oder gar mit Widerwillen, das dritte Lustrum66 meines Lebens. Der überschäumende Geist des Kindes bedarf keiner Welt der äußeren Ereignisse zu seiner Beschäftigung oder Unterhaltung; und die scheinbar düstere Monotonie der Schule war erfüllt von intensiveren Erregungen, als sie meine reifere Jugend aus dem Luxus oder mein volles Mannesalter aus dem Verbrechen schöpften. Gleichwohl muss ich annehmen, dass meine frühe geistige Entwicklung manches Ungewöhnliche – ja sogar manches Überspannte – an sich hatte. Bei den meisten Menschen hinterlassen die Ereignisse ihres frühesten Daseins selten festumrissene Eindrücke im reifen Alter. Alles ist schattenhaft grau – ein schwaches und sporadisches Erinnern – ein vages Wiederaufscheinen matter Freuden und eingebildeter Leiden. Bei mir ist das nicht so. In der Kindheit muss ich mit der Energie eines Mannes all das empfunden haben, was ich heute in so lebendigen, tiefen und dauerhaften Linien wie die Exerguen67 auf karthagischen Münzen in mein Gedächtnis eingeprägt finde.

Doch in Wahrheit – der Wahrheit in den Augen der Welt – wie wenig gab es da Erinnernswertes! Morgens das Wecken, am Abend der Befehl zum Schlafengehen; das Pauken, die Abfragestunden; die regelmäßig wiederkehrenden halbfreien Tage und Wanderungen; der Spielplatz mit seinem Tumult, seiner Kurzweil, seinen Intrigen; all das war, durch einen längst vergessenen Zauberakt der Seele, wie geschaffen, eine Flut von Empfindungen hervorzurufen, eine Welt reich an Ereignissen, ein Universum vielfältiger Gefühle, von leidenschaftlichsten und aufwühlendsten Erregungen. »Oh, le bon temps, que ce siècle de fer!«

Mein feuriges, begeisterndes und herrisches Wesen machte mich bald zu einer auffälligen Gestalt unter meinen Schulkameraden und gab mir ein langsam, aber natürlich wachsendes Übergewicht über alle, die nicht beträchtlich älter waren als ich selbst – über alle mit einer einzigen Ausnahme. Als diese Ausnahme entpuppte sich die Person eines Schülers, der, ohne mit mir verwandt zu sein, den gleichen Vor- und Zunamen trug wie ich selbst; ein an sich wenig bemerkenswerter Umstand; denn ungeachtet meiner edlen Abstammung trug ich einen jener landläufigen Namen, die seit unvordenklichen Zeiten kraft Gewohnheitsrecht Gemeingut des Mobs zu sein scheinen. In dieser Erzählung habe ich mich daher als »William Wilson« bezeichnet – ein fiktiver Name, der dem wirklichen nicht sehr unähnlich ist. Von allen, die im Schülerjargon »unsere Clique« bildeten, wagte einzig dieser mein Namensvetter es, sich in den Schulfächern – und auch im Sport und beim Toben auf dem Spielplatz – mit mir zu messen, meinen Behauptungen blinden Glauben wie auch die Unterwerfung unter meinen Willen zu verweigern – ja, sich in jeder nur erdenklichen Hinsicht gegen meine Willkürbefehle aufzulehnen. Wenn es auf Erden einen äußersten, schrankenlosen Despotismus gibt, so ist es der eines genialischen Knaben über die weniger kraftvollen Geister seiner Kameraden.

Wilsons Rebellion war für mich eine Quelle größter Verlegenheit – umso mehr, als ich, trotz der betonten Forschheit, mit der ich ihn und seine Anmaßungen öffentlich behandelte, insgeheim spürte, dass ich ihn fürchtete, und nicht umhin konnte, die Ebenbürtigkeit mit mir, die er so leicht behauptete, für einen Beweis seiner wahren Überlegenheit zu halten; denn es kostete mich einen ständigen Kampf, nicht besiegt zu werden. Immerhin wurde diese Überlegenheit – ja, auch nur Ebenbürtigkeit – tatsächlich von niemandem außer mir anerkannt; unsere Kameraden schienen in unerklärlicher Blindheit nicht einmal etwas von ihr zu ahnen. Allerdings waren seine Rivalität, sein Widerstand und insbesondere seine unverschämte und zähe Einmischung in meine Absichten ebenso gezielt wie verdeckt. Es schien, als fehle ihm gleichermaßen der Ehrgeiz, der mich dazu anspornte, und die leidenschaftliche Energie des Geistes, die es mir ermöglichte, mich hervorzutun. Zu seiner Rivalität, so hätte man meinen können, sei er allein von einem launischen Verlangen angetrieben, mir dazwischenzufahren, mich zu erstaunen oder zu kränken; gleichwohl konnte ich nicht umhin, hin und wieder mit einem Gefühl von Verwunderung, Demütigung und Zorn zu bemerken, dass er in seine Kränkungen, seine Beleidigungen oder seine Widerreden eine gewisse, höchst unangebrachte und bestimmt höchst unwillkommene Art der Zuneigung einfließen ließ. Ich konnte mir lediglich vorstellen, dass dies eigenartige Verhalten einem vollendeten Selbstdünkel entsprungen sei, der sich in vulgäre Gönnerhaftigkeit und Protektion kleide.

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