Die Erbinnen

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Sie waren selten schwer betrunken, wenn schon dann, wenn sie sich in Sicherheit fühlten, und das war kaum je der Fall. Allerdings waren sie auch kaum jemals nüchtern. Falls sie ihre Mägen füllen konnten, kümmerte es sie nicht, was sie mit großen Löffeln in sich hinein schaufelten, Hirsebrei oder Haferbrei, es war ihnen einerlei; Brot und Käse in groben Stücken geschlungen, hinuntergespült mit Wein, sicherer als Wasser in der Spelunke und später ein Stück Lamm oder Kaninchen vom Feuer, dazu Whisky verdünnt mit Wasser von der Quelle. Und die langen Abende wurden verzecht mit Bier aus hohen Krügen.

Hoffman führte ein hartes Regime. Wenn es Aufträge zu erledigen gab, waren Wein und Bier verboten. Er wollte seine Truppe nüchtern und aufmerksam und duldete es nicht, wenn sie seine Befehle nicht haargenau ausführten. Es hatte zwei oder drei Abweichler gegeben und er hatte sie mit seinen eigenen Fäusten bewusstlos geschlagen und selbst wenn sie am Boden lagen noch mit Füssen getreten. Damit hatte er sie sich völlig untertan gemacht, denn keiner hatte eine bessere Option für sein weiteres Leben, als sie ihnen Hoffman bot. Sie wurden zu seinen willfährigen Handlangern.

Hoffman hatte Middlehurst gut zugehört. Da wurde ihm die Möglichkeit geboten, ins große Geschäft einzusteigen. Weg von der Wegelagerei, weg von Überfällen auf Reisende, weg von Hoffnung und Enttäuschung, wenn die überfallenen Kutschen nicht hergaben, was sie erhofften. Ihm waren plötzlich die Augen aufgegangen, als er erkannte, dass die unzähligen Vertriebenen, die Gejagten, die heimatlosen Bauern, die Kinder und Jugendlichen, die niemand ernähren konnte, ein viel größeres Potential darboten. Da lag ein Markt vor ihm und Middlehurst hatte ihm erklärt, wie man ihn bearbeiten musste, um den größtmöglichen Ertrag zu erzielen. Hoffman war schlau genug, um rasch zu erkennen, dass jeder den anderen brauchte. Er brauchte Middlehurst, weil dieser wusste, wo und wie man an das Material herankam, und dieser brauchte ihn um das Angebot zu erfassen und zu den Nachfragern zu bringen. So hatte man seine Standpunkte erklärt, so hatte jeder seinen Beitrag definiert.

Middlehurst hatte sein kaltes Grinsen aufgesetzt und gesagt: „Ich glaube, wir sind uns einig.“ Er hatte zwar noch erklärt, sehr zum Missfallen von Hoffman, dass Simon Buckle die Befehle erteile. Hoffman hatte sich insgeheim schon vorgenommen, Buckle bei Gelegenheit kalt zu stellen. Doch er hatte genickt, er hatte auch noch genickt, als Middlehurst hinzugefügt hatte: „Da stehen uns noch ein paar nebensächliche Hindernisse im Wege. Ich habe da noch ein paar Rechnungen offen. Ich will nicht, dass diese Kerle uns im Wege stehen werden.“ Hans hatte nur gefragt: „Wie viele?“ Und als Middlehurst zwei Finger in die Luft streckte, hatte er nur den Kopf geschüttelt. „Kleines Problem. Wischen wir weg.“

Hans Hoffman, geboren in Deutschland, aus dem Gefängnis entwichen und vor etlichen Jahren nach England verschlagen, hatte sich soeben mit einem Obersten der königlichen Armee und zukünftigem Sklavenhändler verbündet.

Kapitel II

Corry stolzierte in der neuen Brennerei herum, wie wenn sie ihm gehören würde. Oft stand er vor dem größeren der beiden Brennhäfen und ließ seinen Blick hinauf zur Decke gleiten, wo der kupferne Hals mit leichter Neigung zum großen Bottich mit der Kühlschlange führte. Nicht der kleinste Fleck auf dem dicken Bauch des noch glänzenden Hafens entging ihm. Stets hatte er einen Lappen zur Hand und polierte ihn weg.

Sein besonderer Stolz galt einer ebenfalls aus Kupfer gefertigten Schleuse, von ihm entworfen. Beim zweiten Brennvorgang in der etwas kleineren Brennblase stand er mit Seumas davor und wartete, bis die kondensierte Flüssigkeit zu fließen begann. Gemeinsam beurteilten sie deren Farbe und Geruch und erst, wenn beide nickten, stellte er die Schleuse um und ließ den neuen Brand in das bereitstehende riesige Fass laufen. Natürlich nicht, ohne mit seinem Kugelschwimmer dessen Stärke dauernd zu überprüfen. Wenn diese abnahm, trat die Schleuse in Funktion. Der Inhalt des großen Fasses, das Herzstück des Whiskys, wurde in kleinere Fässer umgefüllt, die von Seumas sorgfältig beschriftet und anschließend von den Arbeitern ins Fasslager gerollt wurden. Beide Brennblasen wurden sorgfältig gereinigt und für die Füllung mit neuer Maische vorbereitet. Die Arbeiter schleppten die Torfstreifen herbei und bald glühten wieder frische Feuer unter den Häfen.

Wenn immer Seumas nach Beendigung seiner Schulstunden beim Wanderlehrer in die Brennerei kam, war Corry schon da und werkelte eifrig. Selbst wenn er frühmorgens vor seinen Lektionen auftauchte, traf er auf ihn und mit der Zeit hatte er erkannt, dass Corry sein Nachtlager in der Brennerei aufgeschlagen hatte. Mary und natürlich besonders John Fraser Junior hatten mit Genugtuung konstatiert, dass die einmal aus dieser, dann wieder aus jener Richtung erschallenden Töne aus Corrys Sackpfeife, ohne Rücksicht auf Tages- oder Nachtzeit, seltener geworden waren. Selbst seine krummrückige Mähre schien nichts zu vermissen und war froh, wenn man sie auf der Wiese hinter den Lagerhäusern in Ruhe ließ.

Seumas verfügte nun ebenfalls über ein eigenes Pferd, Maggie hatte ihm das Reiten beigebracht, womit sich sein Horizont über die Brennerei und das Wohnhaus hinaus erweitert hatte. Mary hatte ihn angehalten, in der Nähe zu bleiben. Maggie hatte ihn manchmal auch mitgenommen, wenn sie nach Blair Mhor zu James ging. Mary musste besorgt feststellen, das Seumas manchmal erst nach Einbruch der Dunkelheit und allein zurückkam. „Mach Dir keine Sorgen, Mutter“, pflegte er zu sagen. Mary wusste, dass das Dorf Blair Mhor und die Brennerei, auch dank der von Roderick mit Umsicht organisierten Bewachung einigermaßen sicher waren. Doch sie wusste von James und Roderick um die Gefahren und auch Maggie hatte ihr vom Schicksal der Vertriebenen und Gefangenen erzählt.

Alle und besonders Seumas warteten sehnlichst auf die Rückkehr von Cremor. Die noch leeren Fässer wurden immer weniger, die Lagerhäuser waren bis unters Dach gefüllt und die Abholung der bestellten Fässer hatte wegen der unsicheren Wege gestockt. Über kurz oder lang würden sie die Brennblasen stilllegen müssen.

James Moore, Kommandant des Royal Summerset Highland Regiments, hatte die alten Fahnen einziehen lassen. Mittlerweile bestand sein Regiment aus fünf Kompanien und jede davon hatte ihre eigene Flagge dabei, die einen mit dem Wappen ihres Clans oder mit dem aufsteigenden Löwen, die anderen mit dem diagonalen weißen St. Andreas-Kreuz über dem waagrechten der Engländer. Das galt es zu ändern und die Schneiderinnen kriegten viel Arbeit die neuen Fahnen zu nähen – alle einheitlich mit dem roten englischen Kreuz selbstverständlich über dem schottischen. Alles andere wäre den Engländer ins Auge gestochen und das wollte Moore verhindern. Er hatte so schon genug zu tun mit den Adjutanten seines Vorgesetzten, Oberst Middlehurst, die sich überall einmischten.

Blair Mhor war inzwischen zum Garnisonstädtchen geworden, was den Einwohnern Arbeit und Auskommen verschaffte, aber auch die unangenehmen Seiten der Armeepräsenz mit sich brachte: Kneipen bald an jeder Ecke, in denen es rau zu und herging; nicht nur eines, sondern mehrere kleine Bordelle, Händler aller Gattung und Glückspieler folgten. Der Sheriff musste sich eine eigene kleine Gruppe von Hilfspolizisten aufbauen. Sie schlichteten Schlägereien, verhafteten Unruhestifter und Diebe, und dabei waren nicht nur Soldaten, sondern allerlei Gesindel, das sich nach und nach eingefunden hatte. Die Soldaten wurde jeweils bald wieder von ihren Offizieren eingesammelt, worüber der Sheriff recht froh war, auch wenn sie dadurch ihrer Strafe entgingen.

Doch verglichen mit allem was außerhalb von Blair Mhor geschah, war das Städtchen eine Oase relativer Ruhe und Sicherheit.

Der Tagesablauf war zur Routine geworden – Aufzug der britischen Fahne frühmorgens, Abzug bei Sonnenuntergang, täglich zweimal das gleiche Zeremoniell. Jeweils begleitet von den Dudelsäcken und Trommlern der Summerset Pipes and Drums. Die englischen Offiziere versuchten Haltung zu wahren und warteten ungeduldig auf den letzten Ton. Dann verzogen sie sich in die Messe und widmeten sich dem Gin und spaßeshalber den Whiskys der Blair Mhor Distillery.

John Fraser Junior war immer noch Pipe Major. Er trug zwar die schmucke Uniform wie alle, doch die rote Jacke war ihm zuwider.

Tagsüber vergingen unendliche Stunden mit hartem Drill, dem auch John und seine Musikanten unterworfen waren.

Als höherer Unteroffizier hätte er sich auch in der Messe verköstigen lassen können, zwar getrennt von den englischen Offizieren, doch er zog die Gesellschaft von Roderick vor, und wenn immer es möglich war, besuchte er seinen Vater auf Summerset oder verbrachte seine Zeit in der Brennerei. Eigentlich gehörte er zur Familie von Mary, Seumas und Maggie. Für Seumas war er wie der größere Bruder, Maggie betrachtete er wie seine jüngere Schwester. Obwohl Mary zu jung war, um seine Mutter sein zu können, betrachtete er sie wie eine solche. Gerne pflegte er zu erzählen, wie er als kleiner Junge geholfen hatte, William in das Amt des Clan Pipers zu bringen. Doch wenn Seumas und Mary dabei waren, hielt er sich zurück. Er hatte lernen müssen, dass den beiden die Erinnerung an ihren Vater und Ehemann immer noch Trauer auslöste.

Roderick war für ihn zum bewunderten Freund geworden und die zehn Jahre Altersunterschied spielten gar keine Rolle mehr.

Es war Roderick gewesen, der ihn darauf angesprochen hatte. „Ich habe den Eindruck, Du fühlst Dich nicht wohl in deiner Haut. Das kann nicht nur an der roten Jacke liegen.“

John zögerte keinen Moment mit seiner Antwort. „Dein Eindruck täuscht Dich wie immer nicht, lieber Rod. Ich hasse es zutiefst, in diese Rolle hineingeraten zu sein. Ich fühle mich erniedrigt, mich selbst, unser Instrument und unsere Musik den Engländern zu unterwerfen, rote Jacke hin oder her.“ Seine Stimme wurde lauter. „Die betrachten uns sowieso wie Leibeigene, wie Sklaven, unsere Tradition kümmert sie einen Scheißdreck.“

 

Roderick nickte leicht und schaute ihm aufmerksam in die Augen. Er gab keine Antwort.

Johns Stimme wirkte gepresst. „Du und William waren Clan Piper wie mein Vater. Endlich wurde ich dann alt genug diese Rolle zu übernehmen. Und William hatte den Auftrag, die Pipes and Drums aufzubauen. Wir alle haben geholfen, etwas Einzigartiges zu gestalten, was es sonst nirgends in Schottland gibt. William ist tot. Unser Clan Chief Alan MacLennoch, der Vater von Maggie, ist tot. Und seine Witwe, Charlotte, interessiert sich nur für ihr eigenes Wohlbefinden und ihre beiden missratenen Töchter.“ Mit leiserer Stimme fuhr er fort: „Wir sind führungslos, wir sind ausgeliefert. Unsere Ahnen würden sich schämen für uns.“ Er legte die Hände vor sein Gesicht. „Was sollen wir tun, Rod? Was sollen wir nur tun?“

Roderick legte ihm die Hand auf die Schulter. Es dauerte eine Weile, bis er tief ausatmete. „Es fällt mir schwer, John, es zu sagen. Wir haben den Kampf verloren. Wir hätten siegen können, wenn alle Clans zusammengehalten hätten, wenn wir selbst die Führung übernommen hätten. Und sie nicht gutgläubig diesem verwöhnten Exil-Prinzen überlassen hätten, der nur auf die britische Krone erpicht war. Wenn, wenn …, es ist vorbei, John, ich weiß nicht einmal, was ich für mich selbst will.“

John schloss die Augen und hob und senkte seinen Kopf, wieder und wieder. Plötzlich hielt er inne und packte Roderick am Arm. „Eines weiß ich sicher. Ich will nicht mehr Pipe Major sein. Ich gehe zurück zu meinem Vater. Er ist auch nicht mehr der Jüngste. Ich kann noch viel von ihm lernen. Er kennt unsere klassische Musik wie kein zweiter. Ich will die Musik unserer Vorfahren weiterspielen. Vielleicht kann ich helfen, sie in die Zukunft zu retten. Wenigstens das.“ Er holte tief Luft. „Ich werde mit James sprechen müssen. Ich kann ihm einen Nachfolger vorschlagen. Ich nehme nicht an, dass Du daran interessiert bist.“

„Sicher nicht“, warf Roderick dazwischen und lächelte leicht, als John ergänzte: „Hätte mich auch erstaunt. Was willst Du machen?“

„Ich habe auch genug. Mal sehen, wie ich loskomme. Vielleicht hat Cremor eine Aufgabe für mich. Außerdem …“ Er hielt inne.

„Außerdem – was?“

„Da ist …“

„Da ist was?“

„Fiona!“

„Wer ist Fiona?“

„Sie war eine der Anführerinnen der Frauen von Dunlochy. Ihr Mann starb bei Culloden. Maggie kennt sie und bewunderte ihren Mut.“

John lächelte. „Ah ja, ich kenne sie auch. Hat sie nicht zwei Kinder, die bei Margaret in der Schule waren?“

Roderick schmunzelte. Er war leicht errötet. „Ein Knabe und ein Mädchen. So rasch ist noch kaum je einer Vater geworden. Also wenn alles klappt.“

Das Rütteln und Schütteln der Kutsche, endlos, laut und ohne Rhythmus, zerrte an den Nerven, und war fast nicht mehr zum Aushalten. Cremor schrie zum Kutscher hin und verlangte einen Halt. Er half Margaret ins Freie.

Finn kam herbei geritten. „Was ist los?“

„Wir hielten es in der Kutsche kaum mehr aus. Ich brauche etwas Erholung.“ Margaret lächelte ihn an. „Wir sind in einer halben Stunde wieder da.“

Sie ergriff Cremors Arm und zog ihn von der Straße weg zu den naheliegenden Büschen, die ein schmales Flüsschen vermuten ließen. Sie bückten sich unter den Ästen hindurch und stakten über die Schlingen der Brombeersträucher. Vor ihnen lag eine kleine Sandbank. Dahinter schlängelte sich das Wasser zwischen Steinen und überhängenden Gebüschen.

Margaret zog ihre Stiefel aus und wühlte mit den nackten Füssen im feuchten Sand. „Das tut gut! Hörst Du die Stimmen der Vögel und das Summen der Insekten? Ich war beinahe taub.“

Cremor kniete am Wasser und wusch sich das Gesicht. Als er zu ihr zurückschaute, war sein Blick ernst.

„Was hast Du?“, fragte sie mit erhobenen Brauen.

„Jetzt, wo Du es erwähnst, höre ich es auch wieder.“

„Ja, mein Liebster, mach Deine Seele frei.“

„Meine Gedanken schwirren im Kopf.“ Er schlug nach einer Mücke.

Margaret trocknete schweigend ihre Füße und stülpte ihre Stiefel über.

“Was bedrückt Dich?“

„Alles, Margaret. Das heißt mit einer Ausnahme. Die bist Du.“ Er ging zu ihr hin und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. „Meine Vergangenheit holt mich ein.“

Sie streichelte ihm sanft über die Haare. „Sprich schon, mein Liebster.“ Befriedigt nahm sie zur Kenntnis, dass er lächelte und wieder die gewohnte Sicherheit ausstrahlte.

„Erinnerst Du Dich an jenen Abend in der weißen Villa, an dem Du mir das Schachspiel erklärt hattest?“

Sie nickte lächelnd. „Du hast es begriffen, oder?“

„Ja, ich glaube schon. Du bist so oder so die Königin. Aber die Springer und Läufer auf der Gegenseite machen mir Sorgen. Und unsere Türme sind gesprengt und unsere Bauern sind weg.“ Er zeichnete mit dem Finger ein Schachbrett in den Sand. Dann legte er einen Stein auf den Platz des gegnerischen Königs. „Die Engländer stehen sicher. Ihre Türme auf Fort Augustus sind uneinnehmbar.“

„Aber wir haben doch Schloss Summerset!“

„Ja, auf dem Papier gehört es mir. Doch Lady Charlotte hat einen großen Anteil. Ich kann sie nicht auskaufen. Sie ist unberechenbar. Sie würde alles tun, um wieder in den Besitz des Schlosses zu kommen. Wenn sie sich mit den Engländern verbündet, beginnt alles wieder von vorne. Sie werden meine Rechte niederwalzen.“

Margarets Stimme tönte unsicher. „So wichtig ist dieses Schloss doch auch nicht für uns, oder? Wir haben uns und Du hast die Brennerei. Verkauf ihr doch das Ganze.“

„Sie hat kein Geld mehr übrig.“

„Dann schenk es ihr doch!“ entfuhr es Margaret heftig.

Cremor schwieg. Sie sah, wie sein Gesicht plötzlich bleich wurde. Gedankenverloren murmelte er: „Das ist doch nicht Dein Ernst. Sie wird die Bauern opfern. Um sie müssen wir uns kümmern.“ Plötzlich rötete sich sein Gesicht, die Narbe auf seiner Stirn pulsierte. Abrupt erhob er sich.

Sie schaute ihn erschrocken an, als sie seine hastig herausgestoßenen Worte hörte. „Ich Idiot! Ich dämlicher Idiot. Schachspiele, dass ich nicht lache. Den nächsten Zug des Gegners erahnen. Warum dämmert es mir erst jetzt?“

Er zog sie hoch. „Was, wenn Middlehurst uns voraus ist? Wir müssen sofort zurück. Ich muss zur Brennerei!“ Heftig atmend zog er Margaret an sich. „Ich muss sofort zur Brennerei! Middlehurst hat an der Auktion alles verloren, aber ich habe ihm den wichtigsten Zug vorbereitet. Er hat gelernt, dass das Lager mit den Fässern wichtiger ist als die Brennerei. Ich selbst habe es ihm triumphierend unter die Nase gerieben.“ Er zog Margaret mit sich. „Er wird die Brennerei überfallen. Er will das Fasslager zerstören.“ Cremors Augen waren weit aufgerissen. „Ich muss hin, unsere Leute sind in höchster Gefahr.“

Finn saß neben der Kutsche am Boden und sprang sofort hoch, als er Margaret und Cremor herbeieilen sah. „Was ist …?“

Cremor fiel ihm ins Wort. „Wir brechen sofort auf. Ich muss zur Brennerei. Du gibst mir Dein Pferd und Deinen Säbel und die Pistole. Die Soldaten geben Dir neue Waffen. Du fährst mit Margaret in der Kutsche.“

Margaret schaute gefasst, doch sie kämpfte mit den Tränen.

In kurzer Zeit waren alle wieder reisefertig. Cremor umarmte Margaret. „Es tut mir leid. Es zerreißt mein Herz, Dich allein zu lassen.“ Sie umklammerten einander und küssten sich. Cremor riss sich los, zu Finn sagte er: „Pass gut auf sie auf!“ Er schnallte sich den Säbel um und steckte die Pistole unter seine Jacke. Dann schwang er sich auf sein Pferd, hielt die Zügel eng, schaute Margaret in die Augen und gab dem Tier plötzlich die Absätze.

Sie schaute ihm nach, Tränen füllten ihre Augen und sie murmelte leise: „Nimm noch etwas zum Essen mit …“.

Finn fasste sie am Ellbogen. „Komm, wir gehen.“

Es war schon einige Zeit her seit Cremor das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hatte. Er ritt eine Stute und trieb sie sofort in einen raschen Trab. Es dauerte über eine Stunde, bis er sich an das Pferd gewöhnt und es seine Zügelung und seinen Schenkeldruck verstanden hatte. Beim ersten Einsatz seiner Stiefelabsätze verwarf es noch den Kopf und versuchte auszubrechen. Allmählich reagierte es auf seine Stimme und hörte den Unterschied zwischen Befehlen und seinen Selbstgesprächen.

Meistens schimpfte er über sich selbst und machte sich Vorwürfe, dass es ihm nicht früher bewusst worden war, dass höchste Eile nottat. Er konnte nicht davon ausgehen, dass sein Widerpart hinter ihm auf dem Wege war, noch konnte er sicher sein, dass Middlehurst nicht sofort nach der verlorenen Auktion aufgebrochen war. Die Nacht im Hotel war verlorene Zeit gewesen. Immer wieder schaute er weit voraus oder hielt auf einer Anhöhe an und überschaute das vor ihm liegende Land. Doch außer etlichen Schafherden und wenigen Hirten war nichts Besonderes festzustellen. Er wunderte sich noch über die Größe der Herden und es fiel ihm auf, dass deren Rasse nicht die gleiche war, wie er sie üblicherweise, und meist in kleinen Gruppen, aus den Highlands kannte. Sie erschienen ihm auch kräftiger und gut in der Wolle.

Nach seiner Berechnung müsste Middlehurst, falls er vor ihm unterwegs war, einige Stunden Vorsprung aufweisen. Er ging nicht davon aus, dass er diesen wettmachen könnte, selbst wenn er ohne Unterbrechung weiter ritt. Hinzukam, dass der Oberst mit der Kutsche unterwegs war, also jederzeit schlafen konnte und nur auf den Wechselstationen zuwarten musste, bis neue Pferde eingespannt waren. Und die zwei üblichen Kutscher würden abwechselnd auf dem Kutschbock dösen können. Er selbst würde irgendwann gezwungen sein, sich einen kurzen Schlaf zu gönnen. Aber auch das Pferd brauchte Zeit für die Erholung und zum Grasen und Saufen. So oder so würde er sicher noch zwei oder drei Tage vor sich haben, bis er zurück in der Brennerei war und es war fraglich, ob seine Stute das durchhalten würde.

Als erstes würde er die Bewachung der Brennerei überprüfen und allenfalls mit Roderick und James für Verstärkung sorgen.

Falls bis dahin nichts geschehen war.

Nach einer unruhigen Nacht mit kurzem Schlaf trieb ihn der Hunger zur nächsten Wechselstation. Er besorgte sich eine Mahlzeit und Proviant für den nächsten Tag, dann fragte er in der Kneipe und bei den Pferdeknechten nach und gab ihnen eine Beschreibung von Middlehurst. Doch niemand wollte ihn gesehen haben. Seine Unruhe wurde dadurch nicht geringer.

Die Stute schien noch in guter Verfassung zu sein und er beschloss, sie weiter einzusetzen. Es ging gegen Mittag und sein Gefühl sagte ihm, dass er in der nächsten Nacht oder gegen Morgen sein Ziel erreicht haben würde.

Die Sonne stand schon tief, als er meinte, die eine oder andere Geländemarke zu erkennen. Er verschärfte das Tempo und atmete erleichtert auf, als er in der Ferne die Hauptstraße wahrnahm, die ihn in einige Stunden nach Blair Mhor bringen würde.

Als er sie erreicht hatte, musste er sein Pferd in den Schritt fallen lassen, denn immer wieder traf er auf Schafherden, die der Straße entlang getrieben wurden. Hie und da waren auch Soldaten unterwegs. Es schien ihm, als würden sie die Schafherden bewachen, denn sie sprachen sich mit den Treibern der Herden ab. Mehr und mehr wurden die zahlreichen Herden vom Weg zur Heide abgeleitet, um sie für die Nacht vorzubereiten.

Je mehr es dunkelte, desto weniger Betrieb herrschte auf der Straße und als die Nacht plötzlich hereinfiel, war er der einzige, der noch unterwegs war. Er ritt so schnell wie es die knappe Sicht erlaubte weiter und achtete darauf, die Abzweigung zur Brennerei nicht zu verpassen.

Als er sie erreicht hatte, ließ er seine Stute von Trab in den Schritt fallen. Der Boden war weich und dämpfte den Tritt der Hufe. Nicht das leiseste Geräusch außer dem leichten Schnaufen des Pferdes war zu hören. Er zog die Zügel an und verharrte. Totenstille. Er wollte das als gutes Zeichen werten, doch ein mulmiges Gefühl kroch in ihm hoch. Die Nacht ist nie ganz geräuschlos, dachte er, da sind Tiere auf der Jagd, da huschen Vögel im Gebüsch und da riecht es nach Erde, Gras und Blumen. Nicht nach Rauch. Er packte die Zügel fester. Der Geruch wurde stärker. Plötzlich nahm er entfernte Geräusche auf. Bald waren sie als leichtes Pferdegetrampel hörbar, das zum rhythmischen Galopp einer größeren Gruppe anschwoll. Er gab dem Pferd die Absätze und wich ein ganzes Stück vom Wege ab. Dann hielt er an, wendete und schaute zurück. Er sah die Silhouetten von rund einem Dutzend Berittener. Es kam ihm vor, wie wenn sie eine Rauchfahne hinter sich herzögen. Er lauschte ihnen nach und folgerte aus den Geräuschen, dass sie bei der Hauptstraße angelangt waren, dort kurz anhielten und dann nordwärts weiterzogen. Plötzlich war es wieder still. Der Rauchgeruch wurde stärker und stärker.

 

Die Stute setzte sich von selbst langsam in Bewegung, zurück auf den Weg. Cremor saß wie versteinert im Sattel, atmete kaum und spürte nicht einmal, dass ihm sein Herz bis zu Halse schlug. Erst als die Stute stehen blieb, zuckte er auf, fasste die Zügel und trieb das Pferd in den Galopp und in die aufkommenden Rauchschwaden.

Die Brennerei schien wie gewohnt, auf den ersten Blick unversehrt. Doch dichter Rauch verwehrte ihm die Übersicht. Eines der Lagerhäuser brannte immer noch lichterloh. Niemand versuchte zu löschen. Niemand war zu hören. Er ritt in den Hof der Brennerei und sah die Leichen der Wachleute. Sein Pferd drehte im Kreise. Sein Rufen wurde zum Schreien. „Mary! Cremor hier! Mary, wo seid ihr?“ Plötzlich stand Corry da. Cremor stieg vom Pferd. „Wo sind sie? Wo ist Mary? Ist Maggie da? Wo ist Seumas?“

Corry schaute auf den Boden. „Sie haben sich versteckt. Ich glaube irgendwo im Haus. Ich war draußen. Es waren etwa ein Dutzend Männer. Sie haben unsere Wachen sofort getötet. Sie wollten die Lagerhäuser abbrennen, aber es gelang ihnen nicht, nur bei diesem hier. Sie hatten es auf die Fässer abgesehen. Sie schlugen sie auf. Der Whisky steht knöcheltief.“

Nach und nach tauchten einige der Arbeiter auf.

Plötzlich stand Mary da. „Seumas ist weg. Sie haben ihn mitgenommen.“ Sie schwankte und Cremor konnte sie gerade noch auffangen. Sie war bewusstlos geworden. Er legte sie auf den Boden. „Hol Wasser, Corry!“ Er fühlte, wie sie schlaff geworden war und betastete mit den Fingerspitzen ihre Halsader. Er stützte ihren Kopf und merkte, dass sie leicht atmete. Er schüttelte sie sanft an den Schultern und klopfte ihr auf die Wangen. Sie öffnete die Augen. „Wo ist Seumas?“

Cremor streichelte ihr über den Kopf. „Wir werden ihn finden, Mary. Jetzt musst Du Dich zuerst ausruhen. Wo ist Maggie?“

„Sie ging zu James.“

Cremor hob sie hoch und trug sie ins Haus. „Ich komme wieder. Ich werde alles versuchen, um Seumas zu Dir zurückzubringen.“

Er ging zu Corry und trank den ganzen Wasserkrug leer. „Waren es Soldaten?“

„Soweit ich erkennen konnte – nein. Ich war ein Stück weit draußen.“

„Das war Dein Glück.“

Das Lagerhaus qualmte noch. Er überprüfte die Brennerei. Alles unversehrt. Im nächsten Lager stapfte er über den aufgeweichten Boden. Es roch intensiv und es roch gut. Er tauchte seine Hände in eine Pfütze und rieb sich den Whisky ein und schnüffelte daran. Es trieb ihm die Tränen in die Augen. Die Fässer waren zertrümmert; Dauben über Dauben, ein hölzerner Wirrwarr. Er untersuchte jedes einzelne Lager. Kein einziges Fass war unberührt geblieben.

Zusammen mit ein paar Arbeitern schleppte er die Leichen in ein Lagerhaus. Sie wuchteten sie auf ein Holzregal und deckten sie zu. „Wir werden sie später beerdigen.“

„Was geschieht jetzt?“, fragte Corry.

Cremor schaute ihn gedankenverloren an. „Ich habe keine Ahnung. Kommst Du mit nach Blair Mhor?“

„Nein, Cremor. Ich bleibe hier und mache meine Arbeit weiter. Sieh zu, dass Du Fässer findest.“ Er schaute auf den durchnässten Boden. „Und Seumas …“

Er sah, wie sich Cremor langsam niederließ. Die Feuchtigkeit schien ihn nicht zu stören. Plötzlich kippte er zur Seite. Corry sah, dass er eingeschlafen war. Er holte eine Decke und breitete sie über ihm aus. Er schaute sich nach der Stute um, entdeckte sie bei der Tränke; er ging hin und nahm ihr den Sattel ab.

Als Kommandant des Summerset Highland Regimentes hatte James Moore ein eigenes kleines und ebenerdiges Haus zu seiner Verfügung. Die anderen Offiziere verfügten über Zimmer in einer der Kasernen.

Neben einem kleinen Salon mit gemauertem Kamin gab es ein Schlafzimmer sowie zwei schmale Nebenräume, einen davon mit einem Waschtisch mit Krug und Schüssel, Seife und einigen Tüchern.

Da waren einige Utensilien für den täglichen Gebrauch, aber keinerlei Bilder an den Wänden, auch kein Geschirr oder Gläser für Gäste. Letztere gab es, außer Roderick und John Fraser, kaum.

Blair Mhor war in aller Eile gebaut worden, es gab alles, was notwendig war, aber kaum etwas, was der Bequemlichkeit oder gar der Repräsentation diente. James war sich wohl bewusst, dass ein englischer Kommandant in einer etablierten Garnison ganz anders daherkommen würde. Sicher hätte er ein Steinhaus mit mehreren Räumen und zur Verfügung, vom übrigen Luxus ganz zu schweigen. Doch James war es ihnen nicht neidisch, eigentlich betrachtete er sein Amt als zeitlich begrenzt und er ließ es für sich offen, ob er, die Umstände oder andere Personen die Dauer bestimmen würden.

Er war sich völlig bewusst, dass sein Vorgesetzter, Oberst Middlehurst, der sicheren Überzeugung war, seine Vergangenheit zu kennen. Allerdings fehlten ihm Zeugen und Dokumente um zu beweisen, dass Moore als Kommandant von Schloss Blackhill ein Doppelspiel betrieben hatte. Doch sein Wissen über die Rolle von Middlehurst bei der Enteignung von Schloss Summerset gab Moore die stärkere Position.

Oft fragte er sich, ob er wirklich die stärkere Position innehatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er daran zweifeln. Und das tat er auch. Es erfüllte ihn mit Sorge, wenn er an Maggie dachte und sich vorstellte, was alles auf ihn zukommen könnte. Bei Middlehurst war mit allem zu rechnen. Er kannte den Oberst gut genug. Der würde auch vor illegalen Machenschaften nicht zurückschrecken, um ihn zu erledigen. Außerdem musste er damit rechnen, dass ihm Middlehurst einen neuen Auftrag bescheren könnte, der ihn irgendwohin bringen könnte, sei es in eine englische Kolonie oder nach Frankreich.

Die Nächte waren immer noch kühl; wenn er mit Maggie im Bett lag, gab sie ihm die Wärme, doch wenn er allein war, legte er sich ein paar Scheite in den Kamin und schenkte sich Whisky ein. Cremor hatte ihm einen ganzen Krug davon bereitgestellt und James liebte es, wenn sich das Feuer im goldenen Inhalt des Glases spiegelte.

Mit dem ersten Schluck nährte er seinen Stolz darüber, wie es ihm gelungen war, zusammen mit Maggie und Roderick die Frauen von Dunlochy zu retten und nach Blair Mhor zu bringen. Und wie er in dunklen Nächten den bedrohten Bewohnern der dem Untergang geweihten Dörfer zur Flucht verholfen hatte. Ein weiterer Schluck spülte die Bitterkeit hinunter, wenn er daran dachte, wie viele andere nicht gerettet werden konnten und den marodierenden Engländern zum Opfer gefallen waren und dass ihrer Hatz noch kein Ende abzusehen war.

Er schaute auf den Boden des leeren Glases. Er widerstand der Versuchung, es nachzufüllen. Maggie konnte wie schon oft unerwartet auftauchen und sie war beim ersten Kuss schon in der Lage, die Anzahl getrunkener Gläser zu erraten – ohne jeden Vorwurf zwar, doch sie konnte ihn abstrafen, indem sie ihm den zweiten Kuss verweigerte.

Ein Glas mehr hätte vielleicht genügt, um den Druck in seiner Brust zu lösen. Er erhob sich von seinem Stuhl, trat einige Schritte auf die eine Seite, dann auf die andere, schlug sich mit der Faust in die Hand, setzte sich wieder, atmete tief ein und aus und sagte laut zu sich selbst: „Jetzt ist Schluss!“

Mit diesem Gedanken ging er schlafen.

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