Buch lesen: «Humoresken (Zweites Bändchen)»
Vorbemerkung
Die erste der hier folgenden humoristischen Kleinigkeiten, die Novellette »Wider den Strom«, basirt auf einer allerdings nicht streng beglaubigten Mittheilung Pigault-Lebruns, der uns irgendwo die betreffenden Briefe Napoleons und Jérôme's reproducirt, und über die Straf-Mission des Generals Rapp kurz, aber energisch Bericht erstattet.
Der zweite Scherz, »Die Feuerspritze von Gressinet«, beruht auf freier Erfindung. Wenn verschiedne Kritiker, die den harmlosen Schwank s. Z. mit Referaten beehrt haben, in dem Streite zwischen Clatou und Gressinet eine »Satire auf das politische Parteiwesen im Allgemeinen« erkennen wollten, so lass' ich's gelten; daß einer dieser Herren jedoch so weit ging, hinter jedem der hier geschilderten Spießbürger eine bekannte Tagespersönlichkeit zu vermuthen, – das ist zu viel des interpretirenden Scharfsinns. Die Separatausgabe der »Feuerspritze von Gressinet« war mit dem Motto von Gustav Droz geschmückt: »… petite fantaisie sans prétention, qui veut être lue, comme elle a été écrite; gaiement, au coin du feu, et les pieds sur les chenets.« Hiermit ist in der That Alles gesagt.
Numero drei endlich, – »Eine Abendwanderung«, – erhebt nur die Ansprüche eines psychologischen Stimmungsbildes.
E.
Wider den Strom
Eine Erinnerung an die lustigen Tage der Wilhelmshöhe
Es war im August des Jahres 1810.
Durch die weitgeöffneten Fenster des königlichen Schlosses wehte eine erquickende Abendkühle. In einem der oberen Eckzimmer saß Jérôme, der glückliche Beherrscher des Königreiches Westphalen, und blickte hinüber nach seiner guten Hauptstadt Kassel, deren Thürme sich im Golde des scheidenden Tages badeten.
Er war sonst kein Schwärmer, der kleine Bruder des großen Eroberers. Heute indeß schien das bezaubernde Landschaftsbild, das sich in leuchtender Pracht vor ihm entfaltete, auf seine königliche Seele einen außergewöhnlichen Eindruck hervorzubringen. Träumerisch neigte er das Haupt rückwärts wider die Lehne des üppigen Fauteuils. Die Hände vor dem Magen gefaltet, die Füße auf einem elastischen Tabouret ausgestreckt – so saß er da, ein personificirtes Dolce-far-niente, eine verkörperte Lebensregel Epikurs, ein Fürst nach dem Herzen Gottes. Und doch lag ein leiser Schatten von Wehmuth auf diesem behäbigen Antlitz, eine dämmernde Nüance seelischer Verstimmung, ein Hauch von Trübsinn, der seltsam mit der herrlichen Scenerie der nächsten und fernsten Umgebung contrastirte.
Plötzlich rang sich aus dem Busen des Königs ein tiefer Seufzer los.
»Befehlen Ew. Majestät?« erklang es im Hintergrunde des Gemaches.
Jérôme wandte unmerklich den Kopf.
»Nichts, mein lieber Pigault …« stotterte er; »ich dachte nur …«
Pigault-Lebrun, der Bibliothekar und Vorleser des Königs, der sich bisher in bescheidener Verborgenheit gehalten hatte, um die Meditationen, beziehungsweise die Verdauung seines hohen Gebieters nicht zu stören, trat ein paar Schritte näher.
Er durfte dies wagen, denn niemand bei Hofe genoß das Vertrauen Jérôme's in gleichem Maße wie er. Eine Bibliothek existirte nicht; vom Vorlesen war der König kein Freund: Pigault-Lebrun hatte also eine sehr leichte Amtsführung, und er verwendete die vierundzwanzig Mußestunden, über die er täglich verfügte, nach Abzug eines sechsstündigen Schlafes, ausschließlich im Interesse des allerhöchsten Amüsements. Italienische Nächte, Feuerwerke, Bälle, Festessen, musikalische Unterhaltungen, Liebesabenteuer, kurz die gesammten Regierungssorgen des westphälischen Hofes standen unter seiner obersten Leitung, und da er ein unvergleichliches Vergnügungsgenie entwickelte, so schenkte ihm Jérôme den ganzen Schatz seiner fürstlichen Liebe.
Pigault-Lebrun trat also vor und sagte mit melodischer Stimme:
»Ah, Sire, Sie sind nachdenklich? Sollte jemand so unglücklich gewesen sein, Dero Mißfallen zu erregen?«
Seine Majestät schüttelte das Haupt.
»Nein, Pigault,« entgegnete er langsam; »ich bin mit dir und allen meinen Getreuen vollkommen zufrieden; allein, siehst du …«
Er stockte.
Pigault-Lebrun näherte sich abermals um ein paar Schritte. Er konnte jetzt dem König voll ins Gesicht sehen. Der eigenthümliche Schleier von Melancholie, der auf diesen sonst so heiteren Zügen ruhte, berührte ihn peinlich.
»Eure Majestät sind verstimmt,« sagte er sorglich. »Fanden Sie die heutige Tafel nicht ganz nach Dero Geschmack …? Ich werde sofort die Entlassung des Küchenmeisters anordnen.«
»Beileibe nicht,« flüsterte Jérôme. »Meine Köche sind Meister ihrer Kunst, und wenn die Etikette nicht wäre, ich würde sie sämmtlich in den erblichen Grafenstand erheben.«
»So hat Ihnen die Königin eine Scene gemacht? Ah, Sire, ich bin sicher … die Königin … Ich kenne die Eifersucht Ihrer Majestät …«
»Du irrst dich, mein Freund! … Seitdem der Kaiser, unser gestrenger Bruder, die kleine Helene mit Gewalt von dannen geführt hat, ist die Königin mit mir ausgesöhnt. Sie hegt, Dank unserer Vorsicht, nicht den geringsten Verdacht mehr … Ah, es war ein niederträchtiger Streich von meinem Herrn Bruder!«
»Ich wage nicht zu widersprechen, Sire. Indeß, bedenken Sie, die Etiquette! Sie sind König, Sie müssen wenigstens den Schein wahren. Die kleine Frau hatte Ihre Majestät ja vollständig verdrängt … Der ganze Hof lag Helenen zu Füßen, und Ihre legitime Gemahlin zog sich ganz und gar aus der Öffentlichkeit zurück … Der Kaiser ist ja auch kein Ausbund von Tugend, aber er hält doch darauf, daß die Welt nicht scandalisirt wird … verzeihen Sie diesen Ausdruck …«
Das Antlitz des Königs war mit jedem Worte seines Vertrauten finsterer und erregter geworden. Er stützte den Kopf in die Hand und blickte eine Minute lang starr vor sich hin.
»Pigault,« sagte er endlich, »seien wir aufrichtig! Was hältst du von meinem Verhältnis zu meinem kaiserlichen Bruder?«
»Die Frage ist schwer zu beantworten, Sire,« erwiderte der Bibliothekar.
»Keine Phrasen, mein Freund … Laß jetzt einmal das langweilige Geschwätz von Sire und Majestät und steh' mir ordentlich Rede … Siehst du, wie ich da so hinausschaute in das herrliche Land, das ich mein nennen könnte, wenn nicht … wenn … wenn es eben mein wäre …«
»Ich verstehe Sie nicht; sind Sie nicht König?«
Ein bitteres Lächeln spielte um Jérôme's Lippen.
»König!« wiederholte er höhnisch; »ja, König, wie der König im Schachspiel, eine Puppe, die durch die erste, beste Laune einer höhern Potenz matt gesetzt werden kann.«
»Wie meinen Sie das, Sire?« stotterte Pigault-Lebrun.
Jérôme machte eine Bewegung des Mißbehagens.
»Pigault,« sagte er, »ich bitte dich, stell' dich nicht dümmer als du bist. Du willst mich schonen. Du fürchtest meine Eitelkeit zu verletzen. Das lass' ich gelten, wenn wir im Kreise unserer Höflinge sind. Hier aber ist die Maske Luxus. Ich fordere deine Meinung, und zwar ohne Rückhalt, verstehst du?«
»Zu Befehl, Sire. Fragen Sie!«
»Du weißt,« fuhr der König fort, »daß ich trotz aller Herrlichkeit nur der elende Sclave meines Bruders bin …«
»O, Sire …«
»Aber, ich gestehe dir's offen … ich fange nachgerade an, des Possenspiels müde zu werden. Es ist weit gekommen, wenn dieser … dieser Tyrann sich erlauben darf, in meine Privatverhältnisse einzugreifen … Ich bin fest entschlossen, bei der ersten Gelegenheit ein eclatantes Exempel zu statuiren … Willst du mich dabei unterstützen?«
»Ich stehe jederzeit zu Eurer Majestät Verfügung,« lautete Pigaults diplomatische Antwort.
»Was hieltest du zum Beispiel davon, wenn ich den Prinzen von Paderborn kurzer Hand zum Teufel jagte? Der Kerl ennuyirt mich so wie so mit seinem Geschwätz von Kirchenverfassung und Clerus mehr als ich sagen kann, und die Geschichte würde stark nach Unabhängigkeit schmecken!«
»Aber die Folgen?«
Der König warf sich trotzig in die Brust.
»Pah,« entgegnete er, »der Kaiser wird sich fügen, wenn er sieht, daß ich standhaft bin. Was kann er machen?«
»Sire,« sagte Pigault in bedächtigem Tone, »ich glaube, Sie täuschen sich selbst … Sie wissen nur zu gut, daß Napoleon nicht mit sich spaßen läßt, und was Ihre eigene Standhaftigkeit anbetrifft, so verzeihen Sie, wenn ich keine allzuhohe Meinung davon habe …«
»Du bist aufrichtig.«
»Ich bitte Eure Majestät, mich nicht mißzuverstehen. Aber Ihre angeborene Herzensgüte, Ihre Friedensliebe …«
»Schon recht,« murmelte Jérôme, »spare deine Beredsamkeit! Ich glaube selbst, der Streich wäre als erster Schritt zur Emancipation ein wenig verwegen … Aber weißt du nichts Besseres?«
In diesem Augenblick trat ein Kammerjäger in das Gemach und meldete in tiefster Devotion:
»Der pariser Courier!«
Instinctiv fuhr der König von seinem Sessel auf. Es hätte wenig gefehlt und er wäre selbst in das Vorzimmer geeilt, um die Briefschaften in Empfang zu nehmen. Er besann sich jedoch noch zur rechten Zeit und setzte sich wieder, während Pigault-Lebrun von dannen eilte, um nach einigen Secunden mit einer schweren Fuhre von Papieren zurückzukehren.
»Da wir nichts Wichtigeres zu thun haben,« sagte Jérôme mit schlecht erkünstelter Gleichgiltigkeit, »so kannst du die Geschichte einmal durchsehen und mir das Amüsanteste vorlesen.«
Pigault setzte sich und begann seine Musterung.
»Depesche des Cultusministeriums …«
»Weg damit!«
»Das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten an die königliche …«
»Weiter, weiter!«
»An Ihre Majestät die Königin.«
»Von wem?«
»Nicht zu errathen. Vermutlich eine Busenfreundin …«
»Weiter …«
»Ein Brief des Kaisers an Eure Majestät.«
»Schon wieder … Was kann er wollen? Gieb her … Oder nein … Lies vor … Du weißt, ich finde mich in diesen Krähfüßen nicht zurecht …«
Pigault-Lebrun entfaltete das Schreiben und begann wie folgt:
»Mein Bruder Jérôme Napoleon,
König von Westphalen!«
»Wie?« fragte Jérôme, »›mein Bruder‹ schreibt er? Nicht, ›mein lieber Bruder‹? Das wird mir wieder eine saubere Epistel sein! Weiter!«
Der Bibliothekar fuhr fort.
»Alles, was ich von Ihnen erfahre, liefert mir den Beweis, daß meine Rathschläge, meine Anordnungen, meine Befehle nicht den geringsten Eindruck auf Sie machen. Die Geschäfte sind Ihnen lästig. Die Pflicht der Repräsentation ennuyirt Sie. Mein Bruder, bedenken Sie, daß das Metier eines Königs gelernt sein will! Ein Souverän ohne die gehörige Repräsentation ist ein Unding. Sie lieben die Freuden der Tafel. Sie lieben die Frauen. Beides wird Sie zu Grunde richten. Machen Sie's wie ich: bleiben Sie eine halbe Stunde bei Tische und lassen Sie die Weiber – Weiber sein!« …
»Diese Unverschämtheit!« stammelte der König in höchster Aufregung. »Was hat er sich darum zu kümmern, ob ich mein Leben genieße oder nicht! So was ist in der Geschichte noch nicht dagewesen! Ich möchte wissen, wozu ich König bin, wenn ich mich nicht amüsiren soll! Gieb Acht, Pigault, es ist wieder auf eine von meinen … Freundinnen abgesehen!«
»Ach, ich glaube nicht daran … Wir gehen zu vorsichtig zu Werke … Gilt die reizende Caroline nicht allenthalben für meine Gemahlin? … Und die deutsche Gräfin, die wir aus München geholt haben, hält man sie nicht allgemein für die Frau Ihres Leibarztes …?«
»Aber die kleine Heberti, die Tänzerin?«
»Pah! haben wir sie nicht als Kammerfrau bei der Justizministerin untergebracht? Kein Gedanke, Sire! Niemand kann ernstlichen Verdacht geschöpft haben!«
»Du siehst alles im rosigsten Lichte. Leider weiß ich nur zu genau, daß jeder meiner Schritte überwacht wird. Wer zählt die Spione, die mein liebenswürdiger Bruder besoldet? Nirgends sind wir sicher, nicht einmal mehr bei unseren intimen Soupers …«
»O, Sire, Sie sind Pessimist. Im Kreise Ihrer Vertrauten findet sich kein Verräther!«
»Ich wollte, du hättest Recht. Aber nun lies einmal weiter! Ich bin doch begierig zu hören, wo das hinausläuft.«
Pigault-Lebrun fuhr in der Lectüre fort:
»Der Prinz von Paderborn, den ich Ihnen zum Aumônier gegeben habe, schreibt meinem Cultusminister, Sie gingen nie darauf ein, wenn er mit Ihnen von kirchlichen Angelegenheiten sprechen wolle. Das ist nicht in der Ordnung. Man muß sich mit allem befassen, sogar mit der Religion.«
»Es ist zu stark! Ich soll mich von dem langweiligen Tropf anschnattern lassen, blos weil mein Herr Bruder die Marotte hat, das gehöre zum Handwerk! Aber warte nur! Du sollst mich kennen lernen! – Weiter!«
»Sie haben Ihren Kammerherrn Merfeldt nach Hannover versetzt, weil er Ihnen, wie Sie sich ausdrückten, mit seinen beständigen Predigten über die Etiquette lästig fiel. Ich möchte wissen, wie Sie Ihre Rolle als König spielen wollen, wenn Ihnen der Souffleur fehlt. Ich wünsche, daß Sie besagten Kammerherrn sofort zurückberufen, und zwar so, als thäten Sie dies aus freien Stücken!«
»Sehr gut, sehr gut!« sagte der König erbittert. »Ich sehe wohl, daß mein Entschluß, diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu machen, nicht zu früh kommt! – Weiter!«
»Sie vernachlässigen die Königin. Ist sie Ihnen etwa nicht vornehm genug? – Warum berücksichtigen Sie nicht meine Wünsche? Ich erwarte unter allen Umständen, daß ich demnächst von der bevorstehenden Geburt eines Prinzen höre … Meine weiteren Anordnungen übermittle ich dem Minister Siméon. Er wird Sie davon in Kenntnis setzen. Ich verbleibe Ihr wohlgewogener Bruder
Napoleon.«
Der König war bei den letzten Phrasen vom Fauteuil aufgesprungen. Sein Antlitz bedeckte sich mit einer brennenden Zornesröthe. Er ballte die beiden Fäuste und rang sichtlich nach Athem.
»Pigault!« rief er. »Du weißt, ich verstehe nicht viel von Stylistik und derartigem gelehrten Krame … Aber du … Du bist ein Genie … Du kennst alle Kniffe der Redekunst … Du bist, wie man zu sagen pflegt, mit allen Hunden gehetzt …«
»Eure Majestät haben eine zu schmeichelhafte Meinung von mir,« entgegnete der Bibliothekar mit einer artigen Verbeugung, indem er den Brief des französischen Imperators wieder zusammenfaltete.
»Pigault!« fuhr der König fort, »du bist der Mann dazu: du mußt mir auf dieses Schandgesudel eine Antwort verfassen, die sich gewaschen hat!«
»Aber Sire, bedenken Sie …«
»Keine Ausrede; – ich gebe dir mein königliche Wort darauf, daß ich dich nicht verrathen werde. – Setze mir eine Epistel auf, die der Kaiser nicht hinter den Spiegel stecken wird! – Ich werde den Brief abschreiben, und dir das Original zurückerstatten. Kein sterblicher Mensch erfährt, daß du der Urheber bist!«
»Wenn Eure Majestät mir in der That versprechen …«
»Mein Wort darauf, Pigault, mein königliches Ehrenwort! Ich wiederhole dir's: niemand soll den wahren Zusammenhang ahnen.«
»Gut denn, Sire. Allein ich wage nochmals einzuwenden … Der Streich könnte doch seine üblen Folgen haben!«
»Unsinn! Ich bin Souverän und brauche mir die Ungezogenheiten eines fremden Machthabers nicht gefallen zu lassen. Ich will unabhängig sein: eine bessere Gelegenheit, diesen Entschluß zu bethätigen, finde ich nicht wieder. Also ans Werk!«
»Morgen, Sire, wenn Sie gestatten. Zu einer so wichtigen Arbeit bedarf man der Sammlung.«
»Wie du willst. Aber je eher, je besser. Eine prompte Antwort verdoppelt den Eindruck.«
»Morgen früh um elf sind Sie im Besitz des Brouillons.«
»Vortrefflich. Und nun wollen wir uns die Grillen aus dem Kopfe schlagen. Was hast du für heute Abend arrangirt?«
»Eine glänzende Fête im Park … Lampions, feu d'artifice, Ballet …«
»Ah, sehr gut. Die Luft ist mild. Wir werden uns köstlich amüsiren.«
»Um welche Zeit werden Eure Majestät herunterkommen?«
»Gegen zehn Uhr. Lassen Sie mir vorher ein Bad rüsten.«
»Poulet?«
»Nein, Burgunder. Auf Wiedersehn.«
Des andern Tags in der Frühe, als der Beherrscher Westphalens noch tief in den Federn lag, setzte sich der gewiegte Bibliothekar an sein Büreau, breitete den kaiserlichen Mahn- und Warnungsbrief zu seiner Linken auf die Platte aus, und studirte Phrase für Phrase, Wort für Wort, Silbe für Silbe.
Er wollte den Stil des gewaltigen Correspondenten an der Seine in seiner ganzen gedrungenen Ursprünglichkeit und Derbheit, in seiner ganzen hochfahrenden Naivetät und Frische nachahmen, und jede Zeile des kaiserlichen Schreibens mit gleicher Münze heimzahlen. Nachdem er etwa eine Viertelstunde lang hin und her gesonnen, ergriff er die Feder und ließ sie hastig über das Papier gleiten. In weniger als zehn Minuten war die Arbeit vollendet. Pigault konnte sich nicht enthalten, über das wunderliche Product zu lächeln. Der Gedanke, daß er, der bescheidene Vorleser Seiner westphälischen Majestät, dem gefürchteten Machthaber Napoleon Bonaparte so vermessene Dinge sagte, berührte ihn höchst humoristisch. Doch war dieser Empfindung eine beträchtliche Dosis von Sorge beigemischt. Er selbst hatte es dem Könige vorgestellt: Napoleon ließ nicht mit sich spaßen. Wehe dem unglücklichen Bibliothekar, wenn es ans Tageslicht kam, wer der authentische Verfasser dieses unerhörten Actenstückes war! Der Cäsar, dessen vernichtender Zorn den Buchhändler von Nürnberg in den Abgrund geschleudert, er konnte auch den Vertrauten Jérôme's zermalmen, wenn er beim Empfange des Briefes irgend wie mißlicher Laune war. Im besten Falle zog die Entdeckung eine mehr oder weniger empfindliche Freiheitsstrafe nach sich; und wahrlich, wenn man eine Zeit lang auf dem prächtigen Schloß der Wilhelms- oder, wie sie jetzt hieß, der Napoleonshöhe in dulci jubilo gelebt hatte, dann spürte man wenig Lust, dieses Paradies mit einem Kerker zu vertauschen!
Pigault-Lebrun wurde ordentlich trübsinnig, als diese Gedanken durch seine Seele zogen. Langsam klappte er die Schreibmappe zu, steckte das Manuscript sorgfältig in die Tasche und wandelte dann die Treppe hinunter in den Park, um die frische Morgenluft zu genießen.
Er mochte so eine Stunde zwischen dem duftenden Strauchwerk der Anlagen auf- und abgeschritten sein, als ihm einfiel, daß er vergessen hatte, den Brief des Kaisers zu sich zu nehmen. Rasch eilte er nach seinem Zimmer. Auf dem Vorplatze begegnete er dem Aumônier, dem Prinzen von Paderborn.
»Ah, schon so früh, Hochwürden?« sagte er in einem Tone, der sein lebhaftes Befremden verrieth.
»Ja wohl, Herr Bibliothekar,« entgegnete der Prinz lächelnd. »Ich dachte, es sei eine Sünde, den herrlichen Morgen zu versäumen. Übrigens hören Sie? Da schlägt es neune! So gar frühe ist's also nicht mehr! Sie haben wohl eine Promenade gemacht?«
Pigault-Lebrun erwiderte ein paar nichtssagende Worte, und begab sich in sein Gemach. Dort angelangt, steckte er den pariser Brief in sein Portefeuille, zündete sich eine Cigarre an und legte sich langwegs auf das Sopha, in der Absicht, die Zeit bis zum Erwachen seines Gebieters mit der Lieblingsbeschäftigung des westphälischen Hofes, mit Nichtsthun hinzubringen.
Der Aumônier wollte ihm nicht aus dem Kopfe. Was hatte der geistliche Herr da auf dem Vorplatz verloren? Seine Wohnung lag auf dem entgegengesetzten Flügel des Schlosses.
»Ich kann diese Gesellen, die überall herumschnuppern, in den Tod nicht ausstehen,« murmelte der Bibliothekar vor sich hin. »Schließlich läuft doch alles auf die leidige Spionage hinaus. Der König hat Recht. Hier ist keiner Seele mehr zu trauen. Ich möchte wohl wissen, ob unser Verdacht betreffs des Ceremonienmeisters und des Justizministers begründet ist …«
Pigault überließ sich während einer halben Stunde dem Spiele seiner ausschweifenden Phantasie. Er durchmusterte im Geiste die ganze Hofgesellschaft und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf wie ein Mensch, der mit sich selbst nicht im Reinen ist.
Ein plötzliches Klopfen riß ihn aus seinen Träumen.
Ein königlicher Lakai trat in das Zimmer und meldete, daß Seine Majestät den Herrn Bibliothekar zu sprechen wünsche.
»Unser allerdurchlauchtigster König befinden sich noch im Bett,« fügte der Mann hinzu.
Pigault-Lebrun beeilte sich, dem Befehle seines Gebieters Folge zu leisten. Er traf den König in bester Laune.
»Nimm hier auf dem Sessel Platz,« sagte Jérôme leutselig, indem er sich halb in den Kissen aufrichtete. »Hast du dein Versprechen erfüllt?«
»Wie sollte ich nicht?« entgegnete der Angeredete halblaut. »Aber wenn Eure Majestät mir wohl wollen, so lassen Sie uns leise reden … Sie, als gekröntes Haupt, haben bei der Affaire verhältnismäßig wenig zu riskiren, während ich …«
»Schon recht!« unterbrach ihn der König mit gedämpfter Stimme. »Wenn es dich beruhigt, so können wir unsere Bässe moderiren; allein ich versichere dich, deine Besorgnisse sind unbegründet. Die Wände sagt man, haben Ohren. In meinem Schlafzimmer trifft das Sprichwort nicht zu. Die beiden Jäger im Vorgemach sind treu wie Gold, die Säle rechts und links stehen leer …«
»Man kann nie wissen, Sire,« erwiderte Pigault, »durch welche Spalte der Teufel Einen beim Schopfe packt.«
»Du bist heute ein wahrer Philosoph, ganz gegen deine sonstige Gewohnheit. Doch zur Sache. Du hast das Manuscript bei dir?«
»Ja wohl, Sire.«
»Deutlich geschrieben? Du weißt, unleserliche Handschriften sind meine schwache Seite.«
»Ich glaube, Eure Majestät werden zufrieden sein.«
»Zeig' einmal her.«
Der Bibliothekar zog das Papier aus der Tasche und reichte es dem König dar.
»Hm, hm,« sagte Jérôme, »das könnte etwas deutlicher sein … hm, hm … da unten kommen ja schmähliche Schnörkel und Kratzfüße …«
»Das Manuscript ist allerdings sehr schnell hingeworfen,« bemerkte Pigault lächelnd.
»Weißt du was, du kannst mir das Ding einmal vorlesen, dann werd' ich wohl so leidlich damit zu Stande kommen.«
»Wie Eure Majestät befehlen. Allein Sie erlauben, daß ich mich etwas näher zu Ihnen heransetze, um nicht genöthigt zu sein, allzusehr die Stimme zu erheben.«
»Gott, bist du heute ängstlich,« lachte der König. »Du hast wohl etwas Katzenjammer von gestern? Apropos, das Ballet war famos, ganz magnifique, auf Ehre. Ich hätte fast vergessen, dir mein Compliment zu machen.«
»Eure Majestät sind zu gütig. Wenn Sie gestatten, werde ich jetzt beginnen.«
»Nun denn, leg' los, alter Junge!«
Pigault-Lebrun setzte sich dicht an das Kopf-Ende des königlichen Bettes, entfaltete sein Manuscript und las mit flüsternder Stimme wie folgt:
»Mein Bruder Napoleon, Kaiser der Franzosen!«
»›Mein Bruder‹?« fragte der König. »Nicht ›mein erhabener Bruder‹? Das ist zu stark!«
»Sire,« entgegnete Pigault, »Ihre deutschen Unterthanen haben ein Sprüchwort, das zwar nicht hoffähig, aber sehr tiefsinnig und kernig ist. Das Sprüchwort heißt: ›Wurst wider Wurst‹. Verstehen Sie, was das sagen will?«
»So ziemlich. Aber ich finde …«
»Hören Sie weiter. – Wenn Sie an meiner Fassung etwas auszusetzen haben, so werden wir nachher die erforderlichen Änderungen vornehmen. – Also: ›Mein Bruder Napoleon, Kaiser der Franzosen! Ich habe Ihre Rathschläge empfangen. – Ich achte sie. – Was Ihre Befehle betrifft, so bin ich König. Ich gebe Befehle, aber ich erhalte keine …‹«
»Stark, sehr stark!« murmelte der König; »aber gut, sehr gut!«
Der Bibliothekar las weiter:
»›Sie werfen mir vor, ich sei ein Freund von langem Tafeln. Ich gestehe, daß ich die substantielleren Genüsse eines wohlassortirten Tisches dem eitlen Jagen nach Gloire vorziehe. – Ich bin Gourmand, ohne ein Vielfraß zu sein: ich glaube nicht, daß ich hierdurch meiner königlichen Würde etwas vergebe. Was die Weiber anlangt, so weiß ich in der That nicht, was gerade Sie mir in diesem Punkte vorhalten könnten. Sie beklagen sich über mein Verhalten gegen die Königin: Eure Majestät konnte mich zwingen, sie zu heirathen, aber nicht, sie zu lieben. – Sie fragen, ob die Königin mir nicht vornehm genug ist. – Eure Majestät haben mir hundertmal wiederholt, nichts sei für den Bruder eines Napoleon zu groß und zu vornehm: ich dagegen habe mich nie mit einer großen Dame vermählen wollen. – Sie werfen mir vor, ich halte nicht genug auf eine meiner Stellung entsprechende Repräsentation. – Wissen Sie, das Repräsentiren ist erstens langweilig, und zweitens verträgt es sich nicht recht mit meiner Figur und meiner Tournüre – zwei Dinge, die in unserer Familie nicht besonders imposant genannt werden können‹ …«
»Das ist ein malitiöser Hieb, der ihn schwer ärgern wird,« sagte Jérôme mit hämischem Lächeln. »Du bist in der That ein beißender Satiriker, Pigault. – Ich sehe, ich darf mich in Acht nehmen, daß ich bei dir nicht in Ungnade falle.«
Der Bibliothekar mußte laut auflachen.
»Hören Sie nur weiter, Sire! – ›Übrigens habe ich meine Hofhaltung ganz nach dem Vorbilde der Ihrigen eingerichtet. Ich kleide mich, wie Sie: was wollen Sie mehr? – Der Prinz von Paderborn bringt mich mit seinen ewigen Predigten und endlosen Messen zum Gähnen. Ich werde ihn behalten, da Eure Majestät mir ihn gegeben; aber nichts verpflichtet mich dazu, mit ihm über Kirchenangelegenheiten und andere Dinge zu sprechen, von denen ich nichts verstehe und nichts verstehen will. Ich überlasse das dem Herrn Cultusminister. – Was Merfeldt anlangt, so habe ich ihn zum Präfecten von Hannover ernannt, denn er ist ein vorzüglicher Verwaltungsbeamter, ohne ein angenehmer Chambellan zu sein. Im Übrigen liebe ich es, die für meinen persönlichen Dienst bestimmten Personen ganz nach meinen augenblicklichen Bedürfnissen auszuwählen. Gezeichnet: Jérôme Napoleon.‹«
»›Gezeichnet‹ …?« rief der König. »Aber das ist ja der brutalste Kanzleistil.«
»So schreiben wir: ›Genehmigen Sie die Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung.‹«
»Mit dieser Formel begrüßt man seine Untergebenen.«
»›Ihr treuverbundner Bruder‹ … Was halten Sie davon?«
»Sehr gut! Das sagt eigentlich gar nichts! Schreiben wir: ›Ihr treuverbundener Bruder.‹«
Der König ließ sich nunmehr das Manuscript ins Bett reichen, und studirte es mit vielem Eifer. Hierauf legte er's unter das Kopfkissen und bedeutete dem Bibliothekar sich zu entfernen.
Jérôme ließ sich ankleiden und hatte nach eingenommenem Dejeuner nichts Eiligeres zu thun, als den Brief Pigault's zu copiren. – Er zerriß zwei, drei Bogen, bis der vierte zu seiner Zufriedenheit ausfiel. – Als er das kühne Schriftstück siegelte, spielte ein schadenfrohes Lächeln um seine Lippen.
»Kein Zweifel,« murmelte er vor sich hin, »dieser Schröpfkopf wird ziehen! Ich gäbe etwas darum, wenn ich sein verblüfftes Gesicht, seinen brennenden Ärger genießen könnte! – Früher oder später mußte die Sache ja doch einmal zum Brechen kommen! – Ich will dem erstaunten Europa zeigen, daß ich nicht bin, was ich scheine. Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Würde, – das sind doch wohl die unerläßlichen Vorbedingungen der Achtung, deren sich ein Thron zu erfreuen wünscht! Zum Schleppenträger meines Herrn Bruders halte ich mich zu gut. Entweder oder! Der Würfel ist gefallen!«
In dieser selbstbewußten Stimmung überreichte er den Brief einem seiner Kammerjäger zur sofortigen Übermittelung an den Courier.
Wenige Stunden später war das verhängnisvolle Actenstück unterwegs.
Jérôme! Jérôme!
Vierzehn Tage waren verflossen.
Von den Thürmen der Stadt Kassel schlug es Mitternacht. Die braven Unterthanen des westphälischen Gewalthabers schliefen den Schlaf der Gerechten. Melancholisch wandelte der Wärter durch die menschenleeren Gassen und entlockte seiner kurzen Weichselrohrpfeife eine qualmende Wolke nach der andern.
Nicht ganz so lautlos ging es in dem sogenannten blauen Salon der Napoleonshöhe zu. Hier saß eine kleine, aber gewählte Gesellschaft um eine reichgedeckte Tafel. Man war beim Dessert. Prächtige Früchte, hochfeines Gebäck, perlender Champagner und andere unerläßliche Ingredienzen eines luxuriösen Mahles verbreiteten einen berauschenden Duft. Die Gläser klirrten in verwegner Ungezwungenheit wider einander. Das lärmende Chaos der Stimmen wurde nur durch die Salven eines schallenden Gelächters oder durch die Klänge eines lustigen Refrains unterbrochen. Mit einem Worte, der blaue Salon war wieder einmal Zeuge eines jener intimen Soupers, die gegen elf Uhr begannen und gewöhnlich bis drei, vier Uhr Morgens dauerten.